Hamburg. Der frühere Öger-Tours-Chef gibt das erste Mal seit Jahren wieder ein Interview – über die Wahlen am Sonntag und Präsident Erdogan.

Vural Ögers erster öffentlicher Auftritt seit acht Jahren beginnt mit einem Missverständnis. Der verabredete Treffpunkt im Café des Hotels Vier Jahreszeiten, den der frühere Chef des Reiseveranstalters Öger Tours wegen der Diskretion vorgeschlagen hatte? Ist geschlossen. Also einmal über die Straße ins Alex am Jungfernstieg, wo sich bereits um 10 Uhr morgens jede Menge Touristen einen Kaffee in der Sonne gönnen. Öger, der über die Türkei, die so wichtige Wahl am Sonntag und Noch-Präsident Recep Tayyip Erdogan in Ruhe sprechen möchte, setzt sich seine Sonnenbrille auf und zuckt mit den Schultern. Dann eben mittenrein ins Getümmel.

Jahrelang war auch Öger mittendrin im öffentlichen Getümmel. Der Wahlhamburger, der 1969 mit seinem „Reisebüro Istanbul“ den ersten Direktflug von Hamburg in die Türkei angeboten und wenig später das Reiseunternehmen Öger Tours gegründet hatte, war ein gefragter Gesprächspartner. Hier eine Anfrage, dort ein Interview. Zudem war er bis 2014 Dauergast in der TV-Sendung „Höhle des Löwen“. Dann rutschten zwei seiner Unternehmen in die Insolvenz, 2016 meldete Öger beim Amtsgericht München Privatinsolvenz an – und verschwand von der öffentlichen Bildfläche.

Vural Öger hatte Angst, dass Präsident Erdogan ihm schaden könnte

Bis jetzt. Öger nimmt die Sonnenbrille kurz ab und lächelt. Sein letztes Interview in Deutschland habe er 2015 dem Abendblatt gegeben, nun schließe sich der Kreis. Doch mit den Insolvenzen habe er schon lange emotional abgeschlossen. Und der Grund, warum er sich acht Jahre lang medial zurückgehalten habe, sei ein ganz anderer: Angst.

„Ich habe im Sommer 2015 einen Anruf von einem hochrangigen Politiker aus der Türkei bekommen, der mir stark geraten hat, mich nicht mehr öffentlich über Präsident Erdogan zu äußern.“ Öger bestellt einen Cappuccino, atmet tief durch. „Wörtlich sagte der: ,Wenn du weiter über Erdogan sprichst, kann ich dir nicht mehr helfen.‘ Das hat mich schon beeindruckt. Ich muss gestehen: Ich hatte Angst.“

Öger: Die Türkei-Wahl ist eine Richtungswahl

Und wieder muss es heißen: bis jetzt. Denn der Othmarschener ist davon überzeugt, dass sich am Sonntag, wenn in seiner Heimat gewählt wird, alles zum Besseren wendet. „Jetzt reicht es. Nach Atatürks Türkei-Gründung 1923 ist die Wahl am Wochenende die wichtigste Wahl in der Geschichte der Türkei. Das ist eine Richtungswahl. Sie entscheidet über die Zukunft der Türkei.“

Seit 20 Jahren regiert Erdogan die Türkei. Bis 2014 war er Ministerpräsident, nun ist er Präsident. Und wenn er auch diese Wahl gewinnt, dann – so befürchten es viele – könnte Erdogan zum Alleinherrscher auf Lebenszeit werden. „Ich habe Angst um meine Heimat“, sagt Öger, der in Hamburg noch immer einer der bekanntesten Deutsch-Türken ist. „Wenn es keinen Wechsel gibt, dann können Sie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, die Gleichstellung von Frauen und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei vergessen.“

Der Hamburger will nicht mehr länger schweigen

Öger wurde 1942 in Ankara geboren, kam 1960 zum Studium nach Deutschland – und blieb. „Ich fühle mich in Hamburg wie zu Hause, ich liebe Deutschland“, sagt er. „Aber meine Seele gehört der Türkei. Und ich kann nicht mehr zusehen, wie meine Heimat ruiniert wird. Ich werde nicht mehr meinen Mund halten.“

Der frühere Unternehmer war schon immer politisch interessiert. Für die SPD war er von 2004 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Öger kennt Olaf Scholz, Otto Schily nennt er seinen Freund. Mit Sigmar Gabriel hat er sich erst vor wenigen Wochen wieder getroffen. Noch immer habe er das SPD-Parteibuch, doch in Deutschland sei er politisch nicht mehr aktiv.

Öger setzt auf Herausforderer Kemal Kilicdaroglu

Umso mehr dafür in der Türkei. Öger setzt voll auf Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, der größten Oppositionspartei. In den vergangenen Wochen sei er immer wieder in Istanbul gewesen, um den CHP-Wahlkampf vor Ort zu unterstützen.

Im Alex redet Öger ohne Punkt und Komma. „Meine Heimat blutet aus. Ich kann das nicht akzeptieren“, sagt er. Acht Jahre lang habe sich einiges aufgestaut. Für die Autorisierung der Sätze, wie es bei Gesprächen wie diesem üblich ist, braucht er nicht einmal fünf Minuten. „Ich spüre eine unglaubliche Wut in mir“, sagt Öger, als er nach dem Gespräch noch einmal telefonisch bestätigt, dass alle seine Zitate auch genau so gedruckt werden können.

Inflation in der Türkei liegt bei mehr als 50 Prozent

„Die Wirtschaft in der Türkei liegt am Boden, weil man das Land in den vergangenen Jahren regelrecht ausgeraubt hat“, sagt Öger. 80 Prozent der Türken würden mit dem Mindestlohn leben, die Inflation liege bei mehr als 50 Prozent. Die Lira habe seit 2021 gegenüber dem Euro die Hälfte ihres Wertes verloren. Und das Versprechen Erdogans, die Türkei bis 2023 unter die zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt zu führen, sei genauso viel wie alle seine anderen Versprechen wert: nichts. Tatsächlich ist das Land von Rang 17 auf Platz 19 abgerutscht.

Immer wieder erhebt Öger im Gespräch seine Stimme. Man merkt dem ansonsten besonnenen Deutsch-Türken an, wie sehr ihn die Wahl am Sonntag beschäftigt. Er selbst ist am Freitag gerade erst aus Istanbul zurückgekommen, am Sonnabend hat er im Konsulat nahe der Außenalster seine Stimme abgegeben, am kommenden Sonnabend fliegt er wieder nach Istanbul. Entweder zu einer ausgelassenen Wahlparty in der Parteizentrale der CHP. Oder zu einer Trauerfeier.

Ögers Sorge: Türkei entwickelt sich in Richtung Afghanistan

„Wir haben die Wahl, ob die Türkei ein Mitglied der westlichen Völkerfamilie sein wird oder ob man sich in Richtung Afghanistan und Iran entwickelt“, sagt Öger. „Die aktuelle türkische Regierung will aus der Türkei ein islamistisches Land machen. Man lädt die Taliban ein. Hunderte Menschen, Politiker, Unternehmer, Intellektuelle, Künstler, sitzen in der Türkei nur aus einem Grund im Gefängnis: weil sie die Regierung kritisiert haben.“

Der 81-Jährige kennt viele Beispiele – und nennt das von Osman Kavala. Der Freund Ögers sitzt seit 2017 wegen seiner vermeintlichen Rolle bei regierungskritischen Protesten in der Türkei in Untersuchungshaft. Kurz nach seinem Freispruch 2020 wurde der türkische Unternehmer und Menschenrechtsaktivist erneut verhaftet. „Das ist doch Wahnsinn“, sagt Öger.

Vor dem Gefängnis hat Öger keine Angst mehr

Hat er selbst keine Angst mehr, dass er genauso wie sein Freund Osman Kavala ins Gefängnis kommen könnte? „Diesmal ist es mir egal! Ich habe mein Leben gelebt“, sagt Öger. Es klingt fatalistischer, als es klingen soll. Denn Öger, der nach seinen Insolvenzen in Istanbul das türkisch-europäische Forum gegründet hat, glaubt fest an einen politischen Wechsel in seiner Heimat.

„Ich bin optimistisch. Es gibt so viele gebildete und vernünftige Türken“, sagt der dreifache Familienvater, der nun auch schon Opa ist. „Auch das schreckliche Erbeben wird eine Auswirkung auf die Wahl haben. Zwei Tage lang nach dem Beben war der Staat nicht da. Viele sind elendig erfroren. Das werden die Menschen dieser Regierung nicht verzeihen.“

Erdbeben könnte die Türkei-Wahl mit entscheiden

Tatsächlich glauben auch viele Demoskopen, dass die verheerenden Beben, die am 6. Februar mit der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Norden Syriens erschüttert haben, die Wahl beeinflussen. Einerseits. Andererseits kann ein Großteil der Betroffenen, die mit Erdogans Regierung gebrochen haben, gar nicht mehr die Stimme abgeben. Weil von den 3,7 Millionen Menschen, die nach dem Beben geflüchtet sind, nur 130.000 an ihren neuen Wohnsitzen angemeldet und dort wahlberechtigt sind. Und weil der Rest der Betroffenen tot ist. Nach offiziellen Angaben sind es 51.000 Tote. Vertreter des türkischen Ärztebundes TTB gehen sogar von 250.000 bis 300.000 Toten aus.

Öger schüttelt sich. Jeder in der Türkei kennt jemanden, der vom Beben betroffen ist. Und der Vorwurf, der seitdem in der Türkei ganz offen formuliert wird, lautet, dass auch Präsident Erdogan und dessen Vetternwirtschaft eine Mitschuld treffe. So habe er Hunderttausende Schwarzbauten nachträglich genehmigen lassen.

Öger: „Geld ist in dunklen Kanälen verschwunden“

„Und das Geld ist in dunklen Kanälen verschwunden“, sagt Öger. Er könne unzählige Beispiele nennen. Öger spricht von Privatisierung, von öffentlichen Aufträgen, von neuen Flughäfen und von abhandengekommenen Milliarden. Dreimal habe er Erdogan sogar persönlich getroffen. Öger zeigt ein Foto von sich und Erdogan aus dem Jahr 2004 auf seinem Handy. Beide grinsen. Öger schüttelt sich erneut.

Er sei 81 Jahre alt, habe aber noch einen großen Wunsch. „Ich glaube fest daran, dass die Türkei eine Zukunft in der EU hat, wenn wir uns Europa wieder zuwenden. Deswegen ist die Wahl auch so wichtig. Für mich ist ein EU-Beitritt meiner Heimat ein Lebenstraum.“

Wenn alles gut geht am Sonntag, könnte er diesem Lebenstraum sehr nahe kommen. Und wenn nicht? Öger zuckt mit den Schultern. Er habe sich schon mal verabschiedet, sagt er – und man weiß nicht so genau, wie er das meint. Nach Istanbul habe er vorerst nur einen One-Way-Flug gebucht. Öger lächelt. Er will an das Gute glauben. Unbedingt. „Ich bin mir sicher, dass Erdogan abgewählt wird“, sagt er. „Diese Hoffnung lasse ich mir nicht nehmen.“