Hamburg. Ärztin Pia Wülfing hat schon knapp 4000 Nutzerinnen für die Smartphone-Anwendung, die es auf Rezept gibt. Sie würde sonst 535 Euro kosten

Die Diagnose „Brustkrebs“ bedeutet für jede Frau einen drastischen Einschnitt im Leben. Eine App aus Hamburg will den Patientinnen helfen, die Krankheit besser zu verstehen, und sie will Unterstützung während der Therapie und der jahrelangen Nachsorge bieten. Allerdings ist dies keine gewöhnliche Smartphone-Anwendung, wie man sie für Cent-Beträge oder wenige Euro in den üblichen App-Stores findet. Sie hat einen Preis 535,50 Euro, kann aber von Ärzten verschrieben werden und ist damit auch für Kassenpatientinnen kostenlos.

Pia Wülfing, die den Anstoß für die App „Pink! Coach“ gab und heute eine der beiden Geschäftsführerinnen des Start-ups ist, musste selbst aus medizinischen Gründen ihr Leben ändern: Die Professorin leitete bis zum Frühjahr 2020 die onkologische Tagesklinik am größten deutschen Brustzentrum, dem Mammazentrum Hamburg am Krankenhaus Jerusalem, musste dann aber, weil sie Corona-Risikopatientin wäre und sich möglichst nicht infizieren durfte, auf unbestimmte Zeit in den unbezahlten Urlaub gehen.

Es geht auch darum, den Patientinnen unnötige Ängste zu nehmen

Dabei beruht die Idee für die App auf Erfahrungen, die Pia Wülfing während ihrer ärztlichen Berufspraxis gemacht hat: „Die Patientinnen kamen mit ‚gegoogelten‘ Listen zu mir, konnten aber nicht wissen, was davon tatsächlich auf sie zutrifft.“ Schließlich gebe es eine große Bandbreite der Erscheinungsformen von Brustkrebs. „Viele der Frauen haben sich schon Gedanken über eine Chemotherapie und Haarverlust gemacht, obwohl diese Therapie in ihrem Fall gar nicht nötig sein würde“, sagt Wülfing.

Auf der anderen Seite gebe es eine Reihe von Fragen, die immer wieder gestellt würden und auf die standardisierte Antworten möglich seien, etwa: Darf ich nach einer Strahlenbehandlung Auto fahren? Welche Leistungen übernimmt die Krankenkasse? Wie geht man mit der Angst nach einer solchen Diagnose um?

Wülfing begann, „alles aufzuschreiben, was ich Patientinnen immer erzählt habe“

In einem ersten Schritt produzierte Wülfing mit einfachsten Mitteln einen Ratgeber-Podcast für Brustkrebs-Patientinnen. Aufgrund zahlreicher positiver Rückmeldungen – wie etwa „das macht Mut“ – habe sie damit begonnen, für die von ihr gestartete Internet-Plattform pink-brustkrebs.de „alles aufzuschreiben, was ich den Frauen sonst immer erzählt habe“. Auf dieser Basis entstand die App, die 2022 zunächst die Techniker Krankenkasse und der private Krankenversicherer HanseMerkur ihren Kundinnen anboten.

Seit Ende Juni 2022 ist Pink! Coach als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGa) vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen. Damit können die Kosten von allen gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.

Zum Team des Start-ups gehören schon 27 Beschäftigte mit Festanstellung

Zu den Inhalten der App gehören ein individuelles Bewegungsprogramm mit Übungen zur Linderung von Therapie-Nebenwirkungen, ein Ernährungskonzept mit mehr als 1000 Rezepten und den entsprechenden Einkaufslisten sowie ein „Achtsamkeitsprogramm“ zur Verbesserung des Wohlbefindens. „Gerade Frauen im Alter zwischen 50 und 70, in dem Brustkrebs typischerweise auftritt, sind mit solchen Techniken, die den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können, häufig nicht schon vertraut“, sagt Wülfing. Ebenfalls Teil der App ist ein „Chatbot“ mit Tipps zur Selbsthilfe bei Nebenwirkungen, wie sie zum Beispiel bei der Hormontherapie auftreten können.

Inzwischen umfasst das Team hinter Pink! Coach schon 27 Personen mit Festanstellung. Ein so großes Team ist schon deshalb nötig, weil die Zulassung als DiGa hohe Anforderungen an die Organisation stellt. So musste diese vom TÜV zertifiziert werden. Hinzu kommt: „Für uns ist die Datensicherheit extrem wichtig, unsere Computerserver stehen in Hamburg“, so Wülfing. Bis heute hat die App bereits knapp 4000 Nutzerinnen, seit einigen Monaten ist das Start-up nach Angaben der Gründerin profitabel. „Außer einem Zuschuss von 75.000 Euro der Hamburger Förderbank IFB und der Beteiligung einer Privatperson, die von der Idee überzeugt ist, haben wir keine externe Finanzierung benötigt – worüber ich in diesen Zeiten auch sehr froh bin“, sagt Wülfing.

Es gibt Überlegungen, auch Apps für Prostata- oder Darmkrebs herauszubringen

Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Start-ups werden sie und ihre Mitgründerin Katharina von Trotha, die früher für eine Hamburger Privatbank arbeitete, von einem Beirat unterstützt , dem neben Medizinerinnen und Medizinern auch die Kulturjournalistin Iris Radisch („Die Zeit“), die Fernsehmoderatorin Okka Gundel und der frühere McKinsey-Topmanager Michael Ollmann angehören.

Aktuell arbeitet das Team unter anderem daran, im Rahmen der App auch einen Kurs zur psychologischen Betreuung von Krebspatientinnen verschreibungsfähig zu machen. „Es gibt viel zu wenige Plätze dafür bei den Spezialisten, die Wartezeit beträgt im Schnitt sechs Monate“, erklärt Wülfing.

Darüber hinaus gibt es Überlegungen, nach dem Konzept von Pink! Coach weitere Apps für Krankheiten wie Prostata- und Darmkrebs zu entwickeln. Das würde zwar komplett neue Inhalte erfordern, man könnte aber auf die bestehende Struktur zurückgreifen. Doch auch die Brustkrebs-App hat angesichts von jährlich rund 70.000 Neuerkrankungen in Deutschland noch viel Potenzial. „Bisher haben wir praktisch noch gar keine Werbung für die App“ gemacht“, sagt Wülfing. Wachsen will das Start-up in jedem Fall: In einem Jahr könnte es nach Schätzung der Gründerin schon 50 Beschäftigte haben.