Hamburg. Auch Hamburger Krankenversicherer und -kassen haben Diagnosen per Internet im Programm. Aber: Digitale Praxen haben Grenzen.
„Nie mehr mit Schnupfen zum Arzt schleppen. Mit unserem Arzt-Video-Call erhältst du Diagnosen, Rezepte und Krankschreibungen einfach und schnell über die App“ – so wirbt der private Krankenversicherer Ottonova auf seiner Internetseite. Er ist längst kein Einzelfall mehr. Auch die Hamburger Wettbewerber HanseMerkur und Signal-Iduna sowie viele gesetzliche Krankenkassen wie die Techniker Krankenkasse (TK) aus Barmbek bieten ihren Kunden inzwischen selber Gesundheitsdienstleistungen an, für die man noch vor wenigen Jahren persönlich zum Arzt gehen musste.
So hat die TK zum Beispiel eine Ferndiagnose bei Hautproblemen über eine Kooperation mit dem Hamburger Internetportal OnlineDoctor 24 im Programm. „Lange warten auf einen fachärztlichen Termin? Nein. Mit dem Online-Hautcheck bieten wir eine schnelle digitale Lösung“, wirbt die TK: „Beschwerden schildern, Fotos der auffälligen Hautstellen hochladen, fertig.“
Innerhalb von 48 Stunden schätze eine Hautärztin oder ein Hautarzt die Symptome ein und empfehle eine Therapie. Bei Signal-Iduna geht das für Vollversicherte über die App „dermanostic“ sogar angeblich in durchschnittlich weniger als vier Stunden. Der Service stehe rund um die Uhr, auch an Wochenenden und Feiertagen, zur Verfügung.
HanseMerkur bietet schon einen Krebs-Scan mittels Bluttest an
HanseMerkur hingegen will mit einem „Krebs-Scan“ mittels eines Bluttests punkten – zur Blutentnahme muss man allerdings noch zu einer Praxis des Partner-Ärztenetzwerks gehen. Außerdem können die Versicherten seit dem vorigen Jahr eine ärztliche Videosprechstunde nutzen. „Über 80 Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen stehen für Sie bereit“, heißt es dazu von HanseMerkur. Termine seien „kurzfristig und sogar sofort“ möglich, auch abends und am Wochenende.
- Die Infektpraxis für Kinder schließt schon wieder
- Hamburger sammeln im Job sieben Millionen Fehltage mehr
- Eltern geschockt: „Plötzlich standen wir ohne Klinik da“
Um juristische Probleme, wie sie Ottonova anfangs hatte, zu vermeiden, folgt bei HanseMerkur der Hinweis, die Videosprechstunde sei nur vorgesehen „für Fälle, in denen nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher, physischer Kontakt mit einem Arzt nicht erforderlich ist.“ Diese Regelung ist erst im Dezember 2019 in das Heilmittelwerbegesetz eingefügt worden. Wie der Bundesgerichtshof (BGH) im Dezember 2021 anlässlich einer Klage gegen Ottonova klarstellte, ist in Deutschland die Werbung für Fernbehandlungen auch nur für solche Fälle zulässig.
Der BGH erlaubt Werbung für Ferndiagnosen nur in bestimmten Fällen
In allen anderen Fällen bleibt Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten ohne „eigene Wahrnehmung“ an der zu behandelnden Person verboten. Zu dieser „eigenen Wahrnehmung“ gehört laut BGH, dass der Arzt den Patienten nicht nur sehen und hören, sondern auch ‒ etwa durch Abtasten, Abklopfen oder Abhören oder mit Hilfsmitteln wie einem Ultraschallgerät ‒ unmittelbar untersuchen kann.
Bei der von dem Hamburger Unternehmer David Meinertz gegründeten Onlineplattform Zava, die sich als „führender Telemedizin-Anbieter in Deutschland und Europa“ sieht, veranschlagt man das „Digital-Potenzial“ der ambulanten medizinischen Versorgung mittelfristig auf 30 bis 40 Prozent. Über die Zava-Plattform, die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zertifiziert ist, führen mehr als 12.000 Ärzte und Therapeuten in Deutschland Videosprechstunden durch.
„Innovative Angebote und digitale Lösungen können helfen, ärztliche sowie medizinische Leistungen schnell und bequem zum Patienten zu bringen“, sagt Ann-Kathrin Wacker, Sprecherin der Versicherungsgruppe Signal-Iduna mit Sitz in Dortmund und Hamburg, über die Telemedizin-Aktivitäten des Unternehmens in Kooperation mit den Dienstleistern KRY und Dermanostic. „Aktuelle Kundenbefragungen zeigen ein steigendes Interesse auch an Diagnostik-Apps“, so Wacker.
Kann überzogene Serviceorientierung zur Gefahr für die Gesundheit werden?
Bei HanseMerkur verzeichnet man ebenfalls eine „hohe Nachfrage nach telemedizinischen Angeboten, die durch die Corona-Pandemie noch einmal verstärkt wurde.“ Der Besuch beim Online-Arzt sei jetzt „vergleichbar mit einer ärztlichen Sprechstunde in einer Praxis vor Ort“, so Firmensprecherin Birte Ayhan-Lange – soweit Beschwerden und Gesundheitssituation es zulassen.
„In den vergangenen Jahren hat man den Servicegedanken auch im Gesundheitswesen immer weiter nach vorn gestellt, weil er gut ankommt“, sagt dazu Pedram Emami, Neurochirurg am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Präsident der Ärztekammer Hamburg. „Es besteht aber die Gefahr, dass darunter die Behandlungsqualität und in manchen Fällen sogar die Gesundheit von Patienten leidet“, so Emami.
„Man kann eine körperliche Untersuchung nicht aus der Ferne ausführen“
Grundsätzlich sei zwar „gegen die Verwendung moderner Kommunikationsmittel für den Kontakt mit dem Arzt im Grundsatz nichts einzuwenden. „Natürlich ist es begrüßenswert, wenn eine 79-jährige Diabetikerin nicht quer durch die Stadt fahren muss, um ihren Arzt, bei dem sie schon jahrelang in Behandlung ist, bestimmte Blutwerte kontrollieren zu lassen.“ Das könne er unter Umständen über eine App erledigen.
Klar ist für Emami aber: „Man kann eine körperliche Untersuchung nicht aus der Ferne ausführen.“ Wenn ein Arzt einen Patienten nicht schon vorher kenne, müsse er die „Grenze der Beurteilbarkeit“ sehr gut abwägen, sagt Emami. „Es kann nicht angehen, die Telemedizin dafür zu nutzen, eine ausschließlich virtuelle Hausarztpraxis einzurichten.“
Wenn es darum gehe, „in ganz speziellen Fällen eine Expertenmeinung einzuholen“, kann die Telemedizin nach Auffassung des Ärztekammer-Präsidenten aber ein taugliches Mittel sein. Auf diesem Feld ist die Firma OnlineDoctor 24 tätig; sie hat in Deutschland gut 20 Beschäftigte, viele davon am Hauptsitz nahe dem Hamburger Binnenhafen, arbeitet nach Angaben von Unternehmenssprecherin Christiane Harders mit 450 Hautärztinnen und Hautärzten allein in der Bundesrepublik zusammen und sieht sich als „Marktführer für Teledermatologie“. Nur in 15 Prozent der untersuchten Fälle sei die persönliche Vorstellung in einer Praxis nötig.
Telemedizin soll die Auswirkungen des Ärztemangels abmildern
OnlineDoctor wurde im Jahr 2016 in der Schweiz gegründet, wo heute noch die Dachgesellschaft ihren Sitz hat. Seitdem sammelte das Start-up etliche Millionen Euro Wachstumskapital auch von Finanzinvestoren ein. Den Gründern zufolge ist es ihre „Vision“, künftig noch in anderen medizinischen Fachgebieten tätig zu werden – schon daher weist der Name nicht auf eine bestimmte Sparte hin.
Nicht zuletzt wegen der „Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung“, unter anderem durch den sich verschärfenden Ärztemangel und die steigenden Kosten, ist man bei HanseMerkur überzeugt, „dass telemedizinische Angebote einen wertvollen Beitrag zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung beitragen werden“, wie die Unternehmenssprecherin Ayhan-Lange sagt. Wenn ein Teil der ärztlichen Betreuung digital stattfinden könne, würden im Gesundheitssystem auch „notwendige Fixkosten eingespart“.
Hamburgs Ärztekammer-Präsident sieht „Interessenkonflikt“ der Kassen
In einer Studie aus dem vorigen Jahr hat die Unternehmensberatung McKinsey & Company das „Nutzenpotenzial“ digitaler Gesundheitstechnologien in Deutschland auf 42 Milliarden Euro beziffert, um die der Gesamtaufwand des Gesundheitswesens (geschätzt auf mehr als 340 Milliarden Euro im Jahr 2021) sinken könne, wenn sie vollständig eingeführt würden. Tatsächlich realisiert habe man davon bisher erst rund 1,4 Milliarden Euro, hauptsächlich durch Neuerungen wie Online-Terminbuchungen oder Telekonsultation. Solche Lösungen reduzierten vor allem den Zeitaufwand bei Patienten und Ärzteschaft, heißt es in der Studie.
Wenn jedoch Krankenversicherer und Krankenkassen selber Arztdienstleistungen anbieten, sieht Emami darin einen „Interessenkonflikt“. Denn diese Anbieter hätten das Ziel, möglichst wenig auszugeben oder möglichst viel zu verdienen, so der Ärztekammer-Präsident. „Wenn dabei noch Medizindienstleister ins Spiel kommen, hinter denen allein monetäre Interessen stehen, dann hat man nur die Zahl derer erhöht, die Geld aus dem Gesundheitssystem herausziehen.“