Norderstedt. In der Paracelsus-Klinik in Henstedt-Ulzburg kommen keine Kinder mehr zur Welt. Spüren andere Krankenhäuser die Folgen?

Luana liegt in der Tuchwaage, Doris Isenbürger liest auf der digitalen Anzeige ab: „Prima, sie hat schon deutlich zugenommen“, sagt die Hebamme. Luana ist am 15. Januar geboren. Nicht in der Paracelsus-Klinik in Henstedt-Ulzburg, die sich die Eltern gewünscht hatten, weil hier auch die heute zweijährige Schwester Mila zur Welt kam. „Wir haben uns dort sehr gut betreut gefühlt“, sagt Mutter Saskia Nowack.

Doch Luana kam eben zu spät zur Welt – zumindest nach den Management-Plänen der Paracelsus-Gruppe für Henstedt-Ulzurg, die eine Schließung der unrentablen Geburtshilfe und Gynäkologie schon im November 2022 vorsahen.

Geburtsstation geschlossen: Eltern geschockt – „plötzlich standen wir ohne Klinik da“

Mehr als 100 Menschen haben gegen die Schließung der Geburtsstation und der Gynäkologie der Paracelsus Klinik demonstriert. 
Mehr als 100 Menschen haben gegen die Schließung der Geburtsstation und der Gynäkologie der Paracelsus Klinik demonstriert.  © Miriam Opresnik

Das Argument: Der Fortbestand der Geburtsabteilung würde letztlich die Existenz der gesamten Klinik gefährden. Damit endete eine Ära: Über Jahrzehnte hinweg war die Geburtsabteilung in Henstedt-Ulzburg bei werdenden Eltern beliebt, und das weit über die Ortsgrenzen hinaus.

„Plötzlich standen wir ohne Geburtsklinik da“, sagt Saskia Nowak. Die Hebamme beruhigte. Zwischen ihr und der jungen Mutter hat sich schnell ein Vertrauensverhältnis eingestellt. Saskia Nowack hatte sich im Internet informiert, wo sie eine Hebamme findet.

Paracelsus-Klinik: Werdende Eltern mussten ausweichen und weiter fahren

Doris Isenbürger empfahl das Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Hamburg-Volksdorf als Ausweichklinik. „Das ist eine kleinere, überschaubare Klinik. Die Geburten verlaufen sehr frauenfreundlich und medizinisch zurückhaltend“, sagt Doris Isenbürger. Saskia Nowak folgte dem Rat und war sehr zufrieden mit der dortigen Betreuung, aber: „Es ist schon schade und bedauerlich, dass es die Geburtsstation in Henstedt-Ulzburg nicht mehr gibt. Sie war für uns von Langenhorn aus gut zu erreichen.“

„Wir spüren durchaus die Folgen der Schließung“, sagt Doris Isenbürger, die zum Team der 14 freiberuflichen Kolleginnen der Hebammen-Praxis Norderstedt gehört. Die Anfragen von Eltern zur Geburtsvor- und -nachsorge hätten deutlich zugenommen. Alle seien voll ausgelastet und an der Kapazitätsgrenze angekommen.

Zahl der Hausgeburten verschwindend gering, aber: Sie liegen im Trend

Eine Betreuung während der Geburt zu Hause oder in der Paracelsus-Klinik gehörte zum Angebot, ist aber jetzt gestrichen, da die Geburtsstation im Nachbarort nicht mehr angesteuert werden kann. Und: „Hausgeburten finden so gut wie nicht statt, vielleicht machen sie noch ein Prozent der Geburten aus“, sagt Isenbürger, die seit 1995 zum Praxisteam gehört.

Zwar lag auch bundesweit der Anteil der Geburten außerhalb einer Klinik im Vorjahr bei nur 1,89 Prozent, aber: Hausgeburten liegen im Trend. Das jedenfalls hat die Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe festgestellt, denn im Jahr 2011 wurden demnach 8828 Kinder zu Hause geboren, das entspricht einem Anteil von 1,33 Prozent der gut 665.000 Geburten in Deutschland. Dieser Prozentsatz ist innerhalb von zehn Jahren um gut 50 Prozent gestiegen.

Geburt: Vielen Eltern ist eine umfassende medizinische Betreuung wichtig

Vielen werdenden Eltern ist eine möglichst umfassende medizinische Betreuung in einem Krankenhaus wichtig.
Vielen werdenden Eltern ist eine möglichst umfassende medizinische Betreuung in einem Krankenhaus wichtig. © dpa | Britta Pedersen

„Wir stellen allerdings fest, dass vielen Eltern die Sicherheit wichtig ist. Kommt es zu Komplikationen, wünschen sie sich eine kompetente medizinische Betreuung. Daher entscheiden sich die mit Abstand meisten Mütter und Väter für eine Geburt in einer Klinik“, sagt Doris Isenbürger. Daher sei es wichtig, ausreichend Betten in den Krankenhäusern zur Verfügung zu stellen.

Ein Geburtshaus, wie es die Grünen in Henstedt-Ulzburg fordern, um die Versorgungslücke nach der Schließung der Geburtsstation zu schließen, hat deswegen nach Ansicht der Norderstedter Hebamme eine untergeordnete Bedeutung. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Hebammen, selbstständig und unabhängig von Krankenhäusern. Geburtshäuser haben einen ambulanten Charakter, hier gibt es eine Vorsorge, das Kind kommt hier zur Welt, Neugeborene und die Familien werden anschließend weiter begleitet.

Geburtsstation geschlossen: Kliniken in der Umgebung merken noch keinen Ansturm

„Leider erleben wir, dass Eltern abgewiesen werden, weil die Geburtsstationen voll sind“, sagt Doris Isenbürger. Eine Umfrage des Abendblatts, noch bevor die Geburtsklinik in Henstedt-Ulzburg geschlossen wurde, hatte allerdings ergeben, dass Kliniken in der Umgebung in der Lage sind, mehr Betten in den Geburtsstationen zur Verfügung zu stellen und Schwangere, die sonst in Henstedt-Ulzburg entbunden hätten, aufzunehmen.

Diese Aussage hat Bestand. „Bei uns sind die Kapazitäten für mehr Entbindungen durchaus vorhanden“, sagt Angela Obermaier, Sprecherin der Asklepios Klinik Nord Heidberg, wo im vorigen Jahr 1815 Jungen und Mädchen auf die Welt kamen. Auch das Das Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster, in dem jährlich rund 1000 Geburten stattfinden, sei darauf vorbereitet, mehr werdende Eltern aufzunehmen. „Wir können sie jederzeit voll umfänglich betreuen“, sagt Sprecherin Katharina Dose.

Geburtsstation geschlossen: Bisher noch kein Ansturm in den umliegenden Kliniken

„Das Albertinen Geburtszentrum ist seit jeher beliebt auch bei werdenden Eltern im Raum Norderstedt/Henstedt-Ulzburg. Die Nachfrage nach einer Entbindung ist unverändert hoch und die Geburtsklinik gut ausgelastet – wir empfehlen daher eine frühzeitige Anmeldung“, sagt Dr. Fabian Peterson, Sprecher des Albertinen-Krankenhauses in Schnelsen.

Noch sei es zu früh, um zu bewerten, ob die Schließung der Geburtshilfe in Henstedt-Ulzburg zu mehr Andrang führe. Auch Angela Obermaier spricht von einem „normalen Geburtshilfe-Geschäft“. „Von einem Ansturm kann nicht die Rede sein, vielleicht ist mal eine Frau darunter, die statt in Henstedt-Ulzburg jetzt bei uns entbindet“, sagt auch Katharina Dose.

Paracelsus-Klinik: Wege bis in den Kreißsaal werden für Eltern weiter

Eine Konsequenz aus der geschlossenen Geburtshilfe ist in jedem Fall, dass für einige Eltern die Wege in den Kreißsaal weiter werden. Das sieht der CDU-Landtagsabgeordnete Ole Plambeck allerdings nicht als größtes Problem, wenn es um die Zukunft der Geburtshilfe in Schleswig-Holstein geht. „Auch im diesem Bereich führt der Mangel an Pflegekräften zu einer hohen Belastung des und der Einzelnen“, sagt der Henstedt-Ulzburger, der vor kurzem Vater einer Tochter geworden ist.

Er und seine Frau hätten von der Klinik eine Liste mit Hebammen bekommen, dann Glück gehabt, dass ein Elternpaar abgesagt habe und sie nachrücken konnten. „Ich habe noch nicht gehört, dass werdende Eltern keine Hebamme gefunden haben“, sagt der Politiker. Er habe sich sowohl in der Vor- und Nachsorge wie auch bei der Geburt selbst gut aufgenommen und betreut gefühlt.

Ärzte und Hebammen sehen die Zukunft der Geburtshilfe im Land kontrovers

Plambeck hat als junger Vater und Landtagsabgeordneter die kontroversen Expertenanhörung im Landtag zum Thema Geburtshilfe sicher mitverfolgt. Die Meinungen von Hebammen und Ärzten klafften stark auseinander.

Anke Bertram, Vorsitzende des Hebammenverbands Schleswig-Holstein, fordert: „Wir brauchen einen Bewusstseinswandel, weg von der Angstmacherei vor eventuellen Problemen hin zur natürlichen, physiologischen Geburt. Die verläuft in den weitaus meisten Fällen nämlich ohne Komplikationen.“

Hebamme fordert: „Schluss mit der Angstmacherei!“

Sie plädiert für eine Eins-zu-Eins-Betreuung unter der Geburt: Eine Hebamme begleitet eine Frau im Kreißsaal und nicht, wie das jetzt leider häufig vorkomme, mehrere Gebärende gleichzeitig. Das führe zu Stress, Überlastung und Erschöpfung. Die Folge: Kolleginnen geben den Job auf. „Wir brauchen von Hebammen geleitete Kreißsäle, damit die Arbeit wieder attraktiv wird“, sagt Bertram.

Aber immer wieder kämen Schwangere zu schnell an den Wehentropf, komme es zu einem Kaiserschnitt. Solange es Fallpauschalen gebe seien die Kliniken bemüht, möglichst viele Geburten abzuwickeln. Im Jahr 2020 sei Schleswig-Holstein mit einer Kaiserschnittrate von 33,3 Prozent erstmalig Spitzenreiter im bundesweiten Vergleich gewesen.

Zahl der Kreißsäle in Schleswig-Holstein hat sich in 20 Jahren halbiert

Der Hebammenverband spricht sich für eine wohnortnahe Versorgung aus. Da sei die Schließung der Geburtsklinik in Henstedt-Ulzburg und die geplante Übernahme des Lübecker Marienkrankenhauses mit seiner beliebten Geburtsklinik durch das Uniklinikum Schleswig-Holstein kontraproduktiv. Durch die Übernahme könnte eine weitere Geburtsklinik wegfallen. „Mit 1400 Geburten pro Jahr ist sie eine der geburtenstärksten in Schleswig-Holstein. Wo sollen die Frauen jetzt hin und die 800, die jedes Jahr ihre Kinder in Henstedt-Ulzburg zur Welt gebracht haben?“, fragt Anke Bertram.

Die Gesamtzahl der Kreißsäle in Schleswig-Holstein habe sich in den vergangenen Jahren halbiert. Waren es im Jahr 2000 noch 32 Geburtskliniken, so waren es 2022 nur noch 16. Die Zentralisierung schreite voran, Geburten sollen in großen Kliniken stattfinden, denn dort arbeite das Personal aufgrund hoher Geburtenzahlen routiniert, diese Kliniken böten maximale medizinische Versorgung für Mutter und Kind.

Paracelsus-Klinik: Ärzte sehen die Lage ganz anders: Sie wollen die Zentralisierung

Die Ärzte sahen das bei der Expertenanhörung im Landtag anders: Etwa zehn Prozent aller Kinder benötigten um die Geburt herum eine kinderärztliche Versorgung. Manchmal gebe es eben doch Notfälle, und dann sei es gut, in einer gut ausgestatteten Klinik schnell Fachkollegen alarmieren und helfen zu können.

Die Zahl der mit mindestens einem Risiko behafteten Schwangerschaften liege nicht zuletzt aufgrund des höheren Durchschnittsalters der werdenden Mütter bei 70 Prozent. Die Mediziner wiesen auch darauf hin, dass es für den Rund-um-die-Uhr-Betrieb in der Fläche weder genügend Hebammen noch ärztliches Fachpersonal gebe. Der Fokus müsse daher auf qualitativ hochwertigen Zentren mit entsprechendem Personal liegen. Die meisten Frauen könnten eine Geburtsklinik in weniger als 45 Minuten erreichen. Das sei zumutbar.