Hamburg. Einst waren sie Beamte, dann kam die Liberalisierung, nun müssen sie sich an eine komplett neue Arbeit gewöhnen.

Ein Warnstreik der Postboten – das wäre für Walter Spahrbier nicht infrage gekommen, schließlich war er Beamter. Sie kennen diesen Namen nicht? Dann sind Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unter 55 Jahre alt, denn der Hamburger, der in Lokstedt als Geldbriefträger arbeitete, war von 1954 bis zu seinem Tod im Sommer 1982 durch seine regelmäßigen Kurzauftritte als „Glückspostbote“ in TV-Shows wie „Drei mal Neun“ und „Der große Preis“ einer der bekanntesten Statisten der deutschen Fernsehgeschichte.

Bild der Post-Branche hat sich radikal verändert

Von der Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen und der Privatisierung der früheren Behörde Deutsche Bundespost zum 1. Januar 1995 hat Spahrbier nichts mehr mitbekommen. Seitdem hat sich das Bild dieser Branche dramatisch gewandelt. Zwar nimmt die Deutsche Post bei den Briefsendungen mit 85 Prozent Marktanteil noch immer eine beherrschende Stellung ein.

Im stetig wichtiger werdenden Paketbereich wickelt die Konzernmarke DHL in Deutschland aber laut Bundesnetzagentur nur noch etwas mehr als 40 Prozent des Geschäfts ab, den Rest teilen sich im Wesentlichen die Hamburger Otto-Tochter Hermes, Amazon, DPD, GLS und UPS.

Beschäftigte des einstigen Staatsunternehmens dürften sich jedenfalls nicht gerade als Gewinner der Privatisierung fühlen. „In der alten Bundespost war das Lohnniveau deutlich höher als in der heutigen Deutsche Post AG“, sagt Lars-Uwe Rieck, Fachbereichsleiter Postdienste Hamburg und Nord bei der Gewerkschaft Ver.di. „Ein gewinnorientiertes Unternehmen legt eben andere Maßstäbe an als ein gemeinwohlorientierter Betrieb.“ In Hamburg verdient ein Zusteller anfangs 14,89 Euro pro Stunde inklusive Regionalzulage.

Nächste Runde der Tarifverhandlungen ist bereits terminiert

Ver.di fordert in der aktuellen Tarifrunde für die 160.000 Beschäftigten der Post, davon 7000 in Hamburg, 15 Prozent mehr Geld. Es gehe darum, die Reallohnverluste der jüngeren Zeit zu beenden, zumal der Konzern für 2022 einen Rekordgewinn erwartete, argumentiert man. Im Vorfeld der nächsten Verhandlungsrunde am 8. und 9. Februar hat es auch in Hamburg schon zwei Warnstreiks in Brief- und Paketzentren sowie bei den Postbotinnen und Postboten gegeben.

Während Gewerkschaftler die Spätfolgen der Post-Privatisierung beklagen, wertet der Vorstand des Unternehmens in der Rückschau die Deregulierung des Marktes – wenig überraschend – als „Erfolgsgeschichte“, wie es in einer Stellungnahme aus dem vergangenen Jahr zur anstehenden Novellierung des Postgesetzes heißt. Die Liberalisierung habe „zu einer qualitativ hochwertigen Postversorgung zu angemessenen und außerordentlich erschwinglichen Preisen geführt“.

Für das Personal in dieser Branche hatte die weitgehende Freigabe des Marktes allerdings einen hohen Preis. Viele Beobachter sprechen davon, dass es unter den Beschäftigten zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft gekommen ist: Der Belegschaft bei der Post und der DHL von zusammen rund 200.000 Personen stehen etwa 120.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Paketdiensten und ihren Subunternehmern gegenüber. Dies sind Betriebe, die im Auftrag von Firmen wie Amazon oder Hermes die Pakete ausfahren.

DHL bietet bessere Arbeitslöhne als die Konkurrenz

Bei solchen Subunternehmern kommt es nach Angaben von Rieck zu teils extremem Lohndruck. Ein Beispiel: „Man zahlt den Fahrern zwar den Mindestlohn, aber nur für fünf Stunden. Wenn der Zusteller dann acht Stunden benötigt, um die Runde zu bewältigen, ist das eben sein Pech.“ In einem Paketdienste-Vergleich aus dem Dezember hob die Stiftung Warentest hervor, dass DHL das Geschäft fast ausschließlich mit eigenen Mitarbeitenden bestreite und bessere Löhne als die Konkurrenz zahle.

Damit biete DHL die besten Arbeitsbedingungen, verglichen mit der Konkurrenz. Amazon Logistics, DPD, GLS und Hermes arbeiteten überwiegend mit Subunternehmen, hieß es. Nur DHL und UPS setzten mehrheitlich auf eigene Zusteller.

Um die Arbeitsbedingungen von Paketboten zu verbessern, fordert Ver.di – wohl aber zunächst weiter erfolglos – ein Verbot von Subunternehmen in der Zustellung. Denn in der Kurier-, Express- und Paketbranche hätten „Ausbeutung und prekäre Beschäftigung mittlerweile ein unerträgliches Maß angenommen“, sagte kürzlich Andrea Kocsis, die Vizechefin der Gewerkschaft.

Zwar findet man die international tätigen Paketdienste in praktisch allen Industrieländern. Aber längst nicht alle Staaten haben ihre Post privatisiert – in den USA, in Frankreich, in Schweden und Dänemark etwa sind die jeweiligen Unternehmen noch in öffentlicher Hand.

Ohnehin ist heute der Blick auf die Privatisierung und auf Öffentliche Güter ein anderer als in den 1990er-Jahren, sagt Henning Vöpel, bis Oktober 2021 Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und jetzt Leiter des Centrums für Europäische Politik (cep). „Man sieht heute einiges anders als damals, weil wir Krisen erlebt haben, in denen die Versorgungssicherheit und die Daseinsvorsorge eine wichtige Rolle spielte“, so Vöpel.

Post: Briefzustellung in ländlichen Gebieten wenig lukrativ

Es seien in manchen Fällen bei der Privatisierung aber auch handwerkliche Fehler gemacht worden, die ein „Rosinenpicken“ durch einzelne Marktteilnehmer zugelassen hätten – so wie viele Firmen jetzt nur als Paketdienst in Städten tätig seien, ohne die wenig lukrative Briefzustellung in ländlichen Gebieten mit zu übernehmen.

Vöpel weist noch auf einen anderen Aspekt der Privatisierung hin, der in ökonomischen Modellen überhaupt nicht berücksichtigt wird: Wenn der Postbote kein Beamter mehr ist, hat für die Bürger der Staat kein vertrautes Gesicht mehr, sondern wird zu einer unpersönlichen Institution, mit der man zumeist nur noch über die Steuererklärung in Kontakt kommt.

Neben der Liberalisierung hat allerdings auch die Digitalisierung die Branche schon jetzt massiv verändert: Die zunehmende Nutzung von E-Mail und Social Media lässt die Zahl der Briefe stetig sinken, der Onlinehandel wiederum sorgt für immer mehr Paketsendungen. „Kamen im Jahr 2010 in Deutschland noch 21 Briefe auf ein Paket, so lag dieses Verhältnis 2015 nur noch bei 15 zu 1 und 2020 bei 8 zu 1“, sagt Stefan Laetsch; Sprecher der Deutsche Post DHL Group in Hamburg. „Im Jahr 2025 rechnen wir damit, dass fünf Briefe auf ein Paket kommen. 2030 dürfte das Verhältnis nur noch bei drei zu eins liegen.“

So wirbt die Post um neue Zusteller

Auf diese Veränderung will der Konzern reagieren. In Stellenanzeigen für Zusteller-Jobs heißt es zwar jetzt noch: „Als Postbote für Briefe bist du zu Fuß, mit dem Fahrrad oder E-Bike unterwegs. Du machst täglich die Menschen in deinem Bezirk glücklich, denn du bringst ihnen die Briefpost.“ Doch der traditionelle Job des Briefträgers wird immer seltener. Stattdessen setzt die Post zunehmend auf die sogenannte Verbundzustellung, bei der der Paketfahrer am Steuer eines Transporters auch die Briefe bringt.

Nicht nur auf dem „platten Land“ gibt es das schon. In Hamburg praktiziert die Post dieses Modell bereits am dünner besiedelten Stadtrand, zum Beispiel in den Vier- und Marschlanden. „Zurzeit werden bundesweit mehr als 55 Prozent der Pakete im Verbund zugestellt“, sagt Laetsch. Dies soll noch kräftig ausgeweitet werden – auf 75 Prozent ab 2025. „Vor allem in den großen Städten wird es jedoch auch weiterhin eine getrennte Zustellung von Briefen und Paketen geben“, so Laetsch.

Post will Briefkästen abbauen und Dienstleistungen streichen

Vor einigen Tagen berichtete die Zeitung „Die Welt“ unter Berufung auf den Post-Betriebsrat gar, es gebe im Konzern Planspiele, aus der flächendeckenden Zustellung von Briefen und Paketen auszusteigen. Dies dementiert der Unternehmenssprecher: „Es ist nicht korrekt, dass wir den Rückzug aus dem Post-Universaldienst planen.“

Man wolle „diesen wichtigen Beitrag zur Grundversorgung weiterhin leisten – und zwar ohne staatliche Subventionen, die es in vielen anderen europäischen Ländern gibt“.

Damit liegt der Gedanke nahe, dass die Gedankenspiele dazu dienen sollten, in der aktuellen Tarifrunde Druck auf die Arbeitnehmerseite aufzubauen. Allerdings strebt das Unternehmen für die künftige Neufassung des Postgesetzes zumindest den Wegfall etlicher der bisher festgeschriebenen Verpflichtungen an. Angesichts der Alternativen in Form der elektronischen Kommunikationswege würden viele Menschen bereit sein, „Abstriche bei der Schnelligkeit“ von Briefen zu akzeptieren, heißt es von der Post. Nach den Vorstellungen des Konzerns soll auch nicht mehr an jedem Tag ausgetragen werden, die Zahl der Briefkästen dürfte sinken und zum Beispiel die Nachnahme bei Briefen entfallen.

Doch während der Post-Vorstand die Privatisierung als „Erfolgsmodell“ bezeichnet, sind die Bürger mit der Dienstleistung schon ohne die beabsichtigten weiteren Abstriche immer unzufriedener. Gingen in den 1990er-Jahren erst wenige Hundert Beschwerden über Brief- und Paketdienstleistungen jährlich bei der Bundesnetzagentur ein, verzeichnete die Behörde für 2022 die Rekordzahl von 43.500 Beschwerden – und der bei Weitem größte Teil davon bezieht sich auf die Deutsche Post selbst.

Wenn das Walter Spahrbier wüsste ...