Hamburg. Ein Gespräch mit Friedhelm Steinberg über die Aussichten für Aktien, die Chancen nachhaltiger Geldanlage und den Hamburger Handelsplatz.
Nach zweijähriger Corona-Pause findet an diesem Sonnabend wieder ein Börsentag als Präsenzveranstaltung in der Handelskammer Hamburg statt. Von 09:30 Uhr bis 18 Uhr können sich die Besucher an Messeständen und in mehr als 60 Fachvorträgen über Geldanlagethemen informieren, der Eintritt ist frei und eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Über die aktuelle Situation am Aktienmarkt, die Aussichten und über die Entwicklung des Hamburger Aktienhandels sprach unsere Zeitung mit Friedhelm Steinberg, dem Präsidenten der Wertpapierbörse Hamburg. Nach insgesamt 15 Jahren in diesem Amt hat er sich entschieden, demnächst als Börsenpräsident abzutreten.
Hamburger Abendblatt: Bedeuten die beiden kurz aufeinander folgenden Weltkrisen – Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg – auch für den Aktienmarkt eine „Zeitenwende“? Muss man die gewohnten Renditeerwartungen dauerhaft nach unten korrigieren?
Friedhelm Steinberg: Tatsächlich hat ein regelrechter Doppelschlag die Finanzmärkte getroffen: Aktienkurse sind kräftig unter Druck geraten und gleichzeitig hat ein Zinsschock die Kurse der Anleihen in die Tiefe geschickt. Die Welt hat sich verändert – so radikal wie seit Jahrzehnten nicht.
Wir leben in unsicheren Zeiten und das belastet natürlich zumindest kurzfristig derzeit auch den Aktienmarkt. Aber man sollte nicht vergessen, dass Krisen in der Vergangenheit immer wieder den Ausgangspunkt für einen neuen Aufschwung gebildet haben. Langfristig bleiben Aktien in jedem Fall interessant.
Wie wirkt die hohe Inflation auf die Aktienkurse? Es heißt ja, dass Aktieninvestments davon tendenziell unberührt bleiben, weil Unternehmen die gestiegenen Kosten über höhere Preise an die Kunden weitergeben können.
Steinberg: Die Spielräume für Preiserhöhungen sind aber begrenzt und das funktioniert auch nur mit einer gewissen Verzögerung. Die Wucht und das Tempo des Inflationsanstiegs haben die Wirtschaft, die Verbraucher und auch die Anleger verunsichert, Konsumenten halten sich bei den Ausgaben jetzt erst einmal zurück.
Vor allem aber hat die Inflation auch die Zinsen sehr schnell hochgetrieben. Das belastet stark verschuldete Unternehmen und macht festverzinsliche Geldanlagen für einen Teil der Investoren wieder zu einer überlegenswerten Alternative zu den Aktien.
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Erwarten Sie aus allen diesen Gründen auch ein schlechtes Aktienjahr 2023?
Steinberg: Ich denke, wir werden wieder bessere Zeiten bekommen – und der Aktienmarkt nimmt so etwas ja häufig um ein halbes Jahr oder mehr vorweg. Im Jahr 2024 dürfte sich die Inflationsrate schon wegen der Basiseffekte auf durchschnittlich weniger als drei Prozent normalisieren.
Unter der Voraussetzung, dass der Ukraine-Krieg eine nicht noch viel schlimmer Entwicklung nimmt und es nicht zu erneuten Corona-Lockdowns kommt, könnten wir schon in der zweiten Jahreshälfte 2023 wieder ein höheres DAX-Niveau sehen als heute und zum Jahresende 15.000 Punkte erreichen. Mittelfristig werden wir zudem neue Anlegerkreise am Aktienmarkt und damit mehr Nachfrage sehen.
Wen meinen Sie damit?
Steinberg: Nach den Plänen der Bundesregierung soll im Jahr 2023 ein Aktienrentenfonds starten: Ein Kapital von anfänglich zehn Milliarden Euro soll in Aktien investiert werden, die Erträge daraus sollen später die staatliche Rentenversicherung stärken.
Viele Finanzexperten meinen aber, dass ein viel größeres Kapitalvolumen benötigt würde, um nennenswerte Wirkungen zu erzielen. Außerdem könnte das staatliche Beispiel auch andere Anleger, die bisher nicht am Aktienmarkt engagiert waren, ermutigen.
Würden Sie Privatanlegern raten, die Kursrückgänge seit dem Jahresbeginn von rund 15 Prozent jetzt noch für Investition in den Aktienmarkt zu nutzen – und welche Branchen sind aus Ihrer Sicht besonders aussichtsreich?
Steinberg: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass in Aktien investiertes Geld auf Sicht von fünf oder mehr Jahren eine gute Entscheidung sein kann. Voraussetzung ist aber insbesondere, dass man das investierte Geld nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigt.
Grundsätzlich ist es aber auch durchaus möglich, dass es an der Börse überraschend schnell wieder aufwärts geht. Was die Branchen angeht, so bieten sich sicher Banken- und Versicherungsaktien an, denn diesen Unternehmen geht es bei höheren Zinsen besser. Aussichtsreich könnten aber auch Energieversorger sein, ebenso Firmen, die von Infrastrukturinvestitionen profitieren.
Am Sonnabend findet wieder ein Börsentag in Hamburg statt. Was werden die beherrschenden Themen sein?
Steinberg: Viele Privatanleger werden sich in den Expertenvorträgen Hinweise darauf erhoffen, wie es mit der Inflation, den Zinsen und den Aktienmärkten weitergeht. Ebenso wird es darum gehen, ob Gold oder Immobilien auch künftig als „sichere Häfen“ für Investoren angesehen werden können. Und schließlich sind nachhaltige Anlagen ein sehr wichtiger Trend, über den man sich auch auf dem Börsentag umfassend informieren kann.
Wird die verantwortungsvolle Geldanlage dadurch gebremst, dass es für „Nachhaltigkeit“ keine allgemeinverbindlichen Kriterien gibt?
Steinberg: Davon bin ich fest überzeugt. Es gibt dafür keine gesetzliche Definition. Hier müsste mehr Klarheit geschaffen werden. Aber das ist schwierig, weil die Interessen sehr unterschiedlich sind – auch unter den Staaten. Ein Beispiel: Die einen sehen Atomenergie als nachhaltige Technologie, andere tun das nicht. Ich fürchte, es kann noch lange dauern, bis man sich auf verbindliche Kriterien geeinigt hat.
Welche Erfahrungen macht die „Börsenfamilie“ Böag, zu der auch die Wertpapierbörse Hamburg gehört, selber mit der Nachhaltigen Geldanlage? Die Böag hat ja schon früh, im Jahr 2007, mit dem Global Challenges Index (GCX) einen eigenen Nachhaltigkeitsindex eingeführt.
Steinberg: Wir können nachweisen, dass nachhaltige Geldanlage auch renditestark sein kann: Bis Ende August hat der GCX seit seiner Einführung vor 15 Jahren um 290 Prozent zugelegt, der DAX aber nur um 70 Prozent.
In Fonds, die auf GCX-Indizes basieren, wurden bisher mehr als 1,3 Milliarden Euro investiert. Wegen des großen Interesses der Lizenznehmer haben wir in diesem Jahr einen Schwellenländer-GCX und außerdem erst kürzlich den „Global Ethical Values Index“ aufgelegt, der auf Anforderungen von Investoren basiert, die aus dem kirchlichen Umfeld kommen und besonders strenge Maßstäbe anlegen.
Wie sind die Geschäfte an der Börse Hamburg in diesen turbulenten Zeiten gelaufen?
Steinberg: Die Handelsumsätze seit Januar liegen um wenige Prozentpunkte hinter dem Vorjahresniveau zurück. Allerdings haben wir 2020 und 2021 jeweils große Umsatzsprünge und neue Handelsrekorde verzeichnet. Vor allem im dominierenden Aktien- und Fondsbereich sehen wir angesichts des Umfelds eine gewisse Zurückhaltung bei Anlegern.
Wird es wie in den vorigen Jahren bald wieder eine Innovation, etwa ein neues Handelssegment, an der Börse Hamburg geben?
Steinberg: Wir haben in der Vergangenheit wirklich große Schritte getan und mussten es dann erst einmal etwas ruhiger angehen lassen. Aber wir haben etwas in Arbeit – und das ist nicht nur eine Kleinigkeit.
Es gibt einen regelrechten Hype um Krypto-Investitionen. Wie stehen Sie dazu?
Steinberg: Wir beobachten den Markt für Krypto-Währungen wie Bitcoin, der hochspekulativ ist und bleibt, sehr sorgfältig. In diesem Segment warten wir darauf, dass es eine effektive Regulierung gibt und der „Spielgeld-Charakter“ verschwindet.
Deshalb bieten wir auf unserem elektronischen Handelssystem Quotrix und an der Börse Düsseldorf einen Markt für Krypto-ETPs an, also Wertpapiere auf der Basis von Kryptowährungen, dessen Umsätze sich zuletzt sehr erfreulich entwickelt haben.