Hamburg. Allein über die Arbeitsagentur können gut 1000 Stellen aktuell nicht besetzt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Viktor Spade bestreut eine weiße Kiste von innen mit Mehl. Dann kippt der Bäckerlehrling den Teig hinein, legt ihn richtig hin und streut erneut ein bisschen Mehl drauf. Der 18-Jährige greift die weiße Kiste, stellt sie in die Baguettepresse und wirft den Inhalt auf den Tisch. Seine Azubi-Kollegin Vanessa Gondeck und Chef Hardy Krause packen die acht Teigrohlinge, formen sie und legen die künftigen Baguettes auf ein Blech. „Hier darf Handwerk sichtbar sein. Es muss nicht jedes Baguette aussehen wie das andere“, sagt Krause, der Geschäftsführer der Bäckerei Rohlfs in Farmsen-Berne ist.
Bäcker nimmt auch Auszubildende mit schlechtem Zeugnis
Rund 180 Mitarbeiter sind beim Familienunternehmen mit 14 Filialen im Stadtgebiet angestellt. Sieben Beschäftige sind Lehrlinge. Zehn weitere Auszubildende hätte Krause gerne eingestellt, acht für den Verkauf und zwei für die Konditorei. Doch er fand keine. Obwohl er sehr kompromissbereit sei. „Ich nehme auch Leute, bei denen ich einmal tief durchatmen muss, wenn ich das Zeugnis sehe“, sagt Krause und verdeckt mit den Händen die Augen: „Wir kriegen das hin. Wir haben einen jungen Menschen, den können wir formen.“
Bäcker sei ein toller Beruf. Und im Handwerk sei man es gewohnt, mit Leuten zu arbeiten, die nicht so gut in der Schule gewesen seien. Häufig führt er Schulklassen durch die Bäckerei, backt mit ihnen Brötchen, um das Interesse zu wecken. So bekommt er einen Teil seiner Azubis – aber nicht genug.
1000 unbesetzte Ausbildungsstellen in Hamburg
So wie Krause und der Bäckerei Rohlfs geht es vielen Hamburger Firmen. Der Hamburger Agentur für Arbeit wurden in diesem Jahr 9785 Ausbildungsstellen zur Vermittlung gemeldet. Das waren knapp 300 mehr als ein Jahr zuvor. Allerdings konnten 1032 nicht besetzt werden. Das war fast eine Vervierfachung des Wertes aus dem Vorjahr. Auch die Zahl der Bewerber ging noch einmal um gut 1000 junge Menschen zurück, sagt Arbeitsagentur-Chef Sönke Fock bei der Vorstellung der Bilanz des Hamburger Ausbildungsjahres 2022 in der Bäckerei Rohlfs. „Es ist einfach bedauerlich, dass wir noch einmal so einen deutlichen Rückgang zu verzeichnen haben“, sagt Fock: „Es fällt uns schwer, junge Leute zu begeistern.“
Die Gründe dafür sind vielfältig: Manche Jugendliche sind unentschieden und zögern eine Bewerbung hinaus, bis die Frist schließlich abgelaufen ist. Zudem zögen viele Berufseinsteiger alternative Angebote wie ein Studium vor. Dabei könne gerade für Abiturienten eine Ausbildung ein Turbo für den Start ins Berufsleben sein, sagt Fock: „Eltern ermutige ich ausdrücklich, ihre Kinder auf die besonders attraktiven Ausbildungsangebote Hamburger Firmen hinzuweisen.“
In Hamburg gibt es 320 Ausbildungsberufe
In der Hansestadt gebe es 320 unterschiedliche Ausbildungsberufe, die Situation sei ein „absoluter Bewerbermarkt“. In den vergangenen mehr als zwei Jahren sorgte zudem Corona dafür, dass weniger Jugendliche und junge Menschen für Praktika gewonnen werden konnten. Wegen der Pandemie-Auflagen und des oft praktizierten Homeoffices waren sie häufig nicht möglich, für viele seien sie aber eine wichtige Orientierung und ebneten normalerweise den Einstieg in das Berufsleben. Außerdem kam es vor, dass Firmen nach Beendigung der Kurzarbeit sehr spät Lehrstellen ausschrieben, die in der Kürze der Zeit nicht besetzt werden konnten.
Tatsächlich angefangen haben in Hamburg in diesem Jahr 17.514 junge Menschen eine Ausbildung. Das waren nahezu so viele wie im Vorjahr. Allerdings gab es bei der schulischen Berufsausbildung einen Rückgang von knapp fünf Prozent, während mit 11.661 exakt 282 mehr junge Leute in die duale Berufsausbildung in der Hansestadt starteten. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 fehlt aber noch eine große Zahl. Damals wurden 13.479 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert eine umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie. Betriebe, die nicht selber ausbilden, sollen so an den Kosten dafür beteiligt werden. „Immerhin profitieren ja auch sie davon, wenn die neuen Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt kommen“, sagt die Hamburger DGB-Vorsitzende Tanja Chawla.
Besonders gefragt sind in Hamburg Pflegefachkräfte
Von der Arbeitgeberseite hieß es, dass der Markt grundsätzlich wieder an Schwung gewänne, man sich aber der Situation bewusst sei. „Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden laut unseres Fachkräftemonitors in 13 Jahren rund 133.000 Fachkräfte am Standort fehlen“, sagt Handelskammer-Präses Norbert Aust. Davon seien 112.000 Fachkräfte mit einer beruflichen Qualifikation. Man wolle eine Berufsorientierungsphase starten. „Wir müssen uns als Unternehmen anstrengen“, sagt Philipp Murmann, Präsident des UVNord.
Immerhin sind bei der Arbeitsagentur für das nächste Jahr bereits 5150 Ausbildungsstellen gemeldet – 650 mehr als vor einem Jahr zu diesem Zeitpunkt. Für 3300 dieser Stellen erfolgt der Start bereits im Februar 2023. Besonders gefragt sind Pflegefachkräfte mit 329 Angeboten. Es folgen Polizeivollzugsbeamte für den mittleren Dienst mit 222 sowie Kaufleute für Spedition und Logistik mit 132 Stellen.
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Vanessa Gondeck und Viktor Spade sind mit ihrer Berufswahl in jedem Fall zufrieden. Beiden mache die Arbeit Spaß. An das Aufstehen um 2 Uhr morgens habe sie sich gewöhnt, sagt die 18-Jährige. Um 3 Uhr morgens beginne dann der Job.
Spade empfiehlt Interessierten ein Praktikum, um zu sehen, ob einem der Bäckerberuf mit dem ungewöhnlichen Tagesrhythmus liege. Er will auch nach seiner Prüfung im nächsten Jahr in der Branche bleiben. Für seine Berufswahl hat er übrigens eine humorvolle Begründung: „Ich habe Spaß zu kochen und zu backen, aber beim Kochen verletze ich mich gerne. Daher backe ich lieber – da kann ich mich nur verbrennen.“