Henstedt-Ulzburg. US-Konzern weiht in Henstedt-Ulzburg 35 Millionen Euro teures Vertriebszentrum für Chemikalien ein – Konkurrenz zu Airbus?
Die Ware kommt ohne Fahrer und mit gelbem Blinklicht: Eine graue Box steht auf dem schwarz-gelben, autonom fahrenden Transportwagen in der 16.000 Quadratmeter großen Halle von Boeing in Henstedt-Ulzburg. Zuvor hatten die Mitarbeiter des US-Konzerns das bestellte Teil von einem der rund 44.000 Lagerplätze geholt und in die Plastikwanne gepackt. Über auf den Boden geklebte Magnetstreifen wird der „Weasel“ genannte Transportwagen gesteuert, bei einem Hindernis auf der Strecke bleibt er stehen.
Nun ist er an der Verpackungsstation angekommen. Wenn der Weg zum Transportband frei ist, fahren die „Weasel“ vor, die Box rutscht aufs Band und die bestellte Ware kann zum Paket verpackt und anschließend ausgeliefert werden. Rund 400 Pakete verließen derzeit pro Tag die Halle, sagt Timo Balke, der für das operative Geschäft zuständig ist. Perspektivisch sollen es 600 bis 800 sein.
35 Millionen Dollar wurden investiert
An den „Weaseln“ bleiben im neuen Distributionszentrum von Boeing die Augen hängen. 35 Millionen Dollar (entspricht etwa 35 Millionen Euro) hat der Neubau gekostet, in dem man Mieter ist. Seit Anfang Mai liefert der US-Flugzeugbauer Chemikalien nicht mehr vom mittlerweile geschlossenen Standort Kaltenkirchen aus, sondern aus dem Gewerbegebiet in Henstedt-Ulzburg nahe der A7.
Am Mittwoch wurde die Halle feierlich eröffnet. „Das ist ein großer Tag für Boeing Deutschland“, sagte Standortleiterin Birgitt Pohlkamp. Boeing-Deutschland-Chef Michael Haidinger sprach von einer „sehr, sehr bedeutenden Investition für Boeing in der Region Hamburg“ und nannte das neue Distributionszentrum, zu dem auch noch 3200 Quadratmeter Bürofläche gehören, die „weltweit größte und modernste Einrichtung dieser Art“.
Geliefert wird die Ware bis nach Indien und Afrika
Mehr als 6000 Kunden will Boeing von hier aus mit Chemikalien und Spezialmaterialien, aber auch dem Kriechöl-Klassiker WD-40 beliefern. „Wenn wir über Gefahrgutklassen sprechen, lagern wir hier wirklich alles außer radioaktivem und explosivem Material“, sagt Balke. So gibt es einen auf sechs Grad Celsius gekühlten Raum, in dem zum Beispiel Harze gelagert werden, und einen minus 18 Grad kalten Frostraum.
„Wir beliefern von hier aus Kunden in Europa, Afrika, dem Nahen Osten und Indien“, sagt Pohlkamp: „Viele Lieferungen werden geflogen, große Paletten werden verschifft. Der Hamburger Hafen spielt also neben dem Flughafen auch eine große Rolle.“ Im Angebot hat der US-Konzern Materialien für alle Flugzeugtypen, -triebwerke und -komponenten, aber auch für Helikopter.
Auch Airbus soll zu den Kunden gehören
Zu den Abnehmern zählten mit Airbus und Lufthansa Technik auch die beiden Branchenschwergewichte in der Hansestadt, hieß es. Zudem würden Niederlassungen in England, Frankreich und Dubai von „Hamburg“ aus gemanagt, wie die beiden Standorte in der Metropolregion Boeing-intern bezeichnet werden – auch wenn sie knapp 20 Kilometer beziehungsweise Hunderte Meter nördlich der Stadtgrenze in Schleswig-Holstein liegen.
Denn neben dem neuen Standort Henstedt-Ulzburg mit 202 Mitarbeitern zählt auch Norderstedt mit 127 Beschäftigten zu „Hamburg“ – auch wenn es in der Elbestadt selbst keine Mitarbeiter gibt.
Metropolregion ist zweitgrößter deutscher Boeing-Standort
Daher überrascht es nicht, dass in der Hansestadt und auch in Deutschland der Fokus bei den Flugzeugbauern fast ausschließlich auf Airbus liegt. Allerdings beschäftigt der US-Erzrivale hierzulande immerhin auch etwa 1000 Menschen. Hamburg sei nach Neu-Isenburg mit knapp 400 Mitarbeitern der bundesweit größte Standort, sagt Haidinger im Gespräch mit unserer Redaktion. Nahe Frankfurt arbeite der US-Konzern vor allem an digitalen Lösungen, um die Luftfahrt zum Beispiel durch bessere Navigation oder Flugplanung effizienter zu machen.
In Kaiserslautern seien rund 100 Beschäftigte in einem Joint Venture an der Entwicklung und Produktion von Flugzeugsitzen beteiligt. In München gibt es ein Büro für 40 bis 50 Forscher. In Berlin unterhält man ein rund ein Dutzend Personen starkes Hauptstadtquartier, das sich um die politischen Beziehungen kümmert.
Boeing arbeitet in Deutschland mit 100 Zulieferern zusammen
„Wir arbeiten in der Bundesrepublik mit rund 100 Zulieferern zusammen und beziehen pro Jahr für 1,2 Milliarden Euro Teile“, sagt Haidinger und ergänzt: „Wir sind sehr willkommen, weil sich die Industrie nicht nur von einem Großkunden abhängig machen will.“
Auch wenn er den Namen nicht ausspricht, meint er natürlich Airbus. Beide Unternehmen dominieren den Flugzeugmarkt. Lange Zeit galten die US-Amerikaner als größter Hersteller, doch vor allem in den vergangenen Jahren haben sich die Europäer diesen prestigeträchtigen Titel gesichert.
Abstürze der 737 Max und Corona belasten US-Konzern
Das lag vor allem an Problemen des Kurzstreckenflugzeugs 737 Max. Nach zwei Abstürzen mit insgesamt 346 Toten waren alle Maschinen des Typs ab März 2019 mit einem Startverbot belegt. Die Produktion wurde daraufhin monatelang unterbrochen. Das Flugsteuerungssystem MCAS wurde für die Abstürze verantwortlich gemacht. Erst als die überarbeitete Version von den Behörden freigegeben wurde, dürften die Flieger in vielen Regionen Ende 2020 wieder abheben.
Haidinger spricht von „schweren drei Jahren“, denn im März 2020 kam das Coronavirus hinzu und legte die Luftfahrt weitgehend lahm. „Wir sehen der Zukunft positiv entgegen“, sagt er aber heute. Zwar belaste nun der Ukraine-Krieg zusätzlich, bringe allerdings durch steigende Verteidigungsbudgets der Staaten viele neue Aufträge für die Rüstungssparte, die bei Boeing sehr wichtig ist. Und auch für den zivilen Jetmarkt ist er optimistisch: „Die Luftfahrt wird wieder wachsen. In den nächsten 20 Jahren werden rund 40.000 Flugzeuge benötigt und da wollen und werden wir ein gutes Stück von abbekommen.“
Airbus hat mehr Bestellungen für Kurzstreckenflieger
Die Masse der Flieger wird bei den kleineren Kurz- und Mittelstreckenjets abgesetzt – ein Bereich, indem Airbus mit der A320-Familie Vorteile gegenüber der 737 hat, wie man auch beim Blick in die Auftragsbücher sieht. Beim US-Konzern steht die 737 mehr als 3500-mal in den Auftragsbüchern, die A320-Familie bei Airbus mehr als 6000-mal.
65 Jets im Monat sollen im nächsten Jahr konzernweit gefertigt werden, rund die Hälfte davon auf Finkenwerder. Boeing fuhr vor Covid-19 eine Monatsrate in den 50ern bei der 737, derzeit sind es 32. „Der Hochlauf wird durch den Markt bestimmt“, sagt Haidinger, ohne konkrete Angaben zu einer weiteren Steigerung der Rate zu machen.
Boeing gilt bei Langstreckenfliegern als besser aufgestellt
Man müsse auch sehen, was die Lieferketten schaffen würden. Und die geopolitische Lage sei fragil. „Grundsätzlich sehen wir dem Wettbewerb gelassen entgegen. Wir haben mit der Max-Familie Flugzeuge, mit denen wir ein gutes Stück des Mittelstreckenmarktes gewinnen werden. Wie viel Prozent dieses Marktes wir letztendlich gewinnen werden, wird sich zeigen“, sagt Haidinger. Selbst wenn Airbus die Oberhand bei den Bestellungen für die kleine Maschinen behalten sollte, könne der US-Konzern damit leben, weil man sich bei Frachtern und Langstreckenmaschinen hervorragend aufgestellt sehe.
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In der Tat halten viele Experten die Amerikaner für die langen Strecken mit 787 und 777 trotz jüngster Probleme für besser aufgestellt als Airbus mit A350 und A330neo. Allerdings drängt Airbus mit dem A321LR und XLR nun mit diesen kleinen Maschinen in das Segment für lange Nonstop-Flüge, weil durch Veränderungen an den Tanks mehr Kerosin an Bord passt und so Transatlantikflüge ermöglicht werden. Der erste A321XLR befindet sich in der Flugerprobung, zwei weitere auf Finkenwerder gebaute sollen bald folgen.
Keimzelle für Boeings Distributionsgeschäft in Fuhlsbüttel
Ein paar Kilometer weiter nördlich nahe dem Verkehrsflughafen der Stadt lag übrigens die Keimzelle für Boeings Distributionsgeschäft. Eine der Vorgängerfirmen hatte Anfang der 90er Jahre in Fuhlsbüttel ihren Sitz, später gab es einen Zukauf in Hummelsbüttel. Doch mit zunehmendem Wachstum sei es in der Hansestadt zu eng geworden, sodass 2009 der Sprung nach Norderstedt erfolgte, sagt Pohlkamp. Von dort werden vor allem mechanische Elemente wie Schrauben, Nieten und Bolzen ausgeliefert.
2012 wurde die Firma Interturbine in Kaltenkirchen übernommen – nun läuft das Chemikalien-Geschäft in Henstedt-Ulzburg. Zwar waren im Vorjahr im Zuge der Corona-Krise rund 60 Arbeitsplätze in der Metropolregion abgebaut worden, doch für die Zukunft will man beim Personal zulegen, so Pohlkamp: „Wir sind jahrelang gewachsen, wollen wieder wachsen und Arbeitsplätze hier ansiedeln. Derzeit haben wir zehn freie Stellen im Bereich Logistik.“
Henstedt-Ulzburg plant neue Bushaltestellen im Gewerbegebiet
Henstedt-Ulzburgs Bürgermeisterin Ulrike Schmidt (parteilos) hofft, „dass weitere hinzukommen werden“. Man werde den US-Konzern wie beim Ansiedlungsprozess auch bei der angestrebten, weiteren Expansion unterstützen. So werde beispielsweise die Busanbindung des Gewerbegebietes ab Mitte Dezember mit dem Fahrplanwechsel verbessert, damit die Mitarbeiter den Betrieb auch ohne Auto gut erreichen könnten. An der Rudolf-Diesel-Straße sollen drei neue Haltestellen eingerichtet werden.
Hinrich Habeck, Geschäftsführer der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung und Technologietransfer in Schleswig-Holstein, nannte die Ansiedlung eine „absolute Bereicherung für die Region, aber auch für den Standort Schleswig-Holstein“. Nicht viele Unternehmen würden sich in der derzeitigen Lage große Investitionen trauen. Daher sei es umso besser, dass Boeing beispielhaft vorangehe, sagte Habeck und fasste das Verhältnis wie folgt zusammen: „Boeing und Schleswig-Holstein sind zwei gute alte Bekannte, die seit 15 Jahren prima miteinander auskommen.“