Hamburg. Mein Laden in Corona-Zeiten, Teil 15: Wie die Hamburger Unternehmerin Janine Werth ihren Lebenstraum durch die Krise steuert.

Wer in diesen Tagen durch den Großen Burstah in der Hamburger Innenstadt geht, sieht viele leere Geschäfte und zahlreiche Baustellen. Die Einkaufsstraße hat schon bessere Zeiten gesehen. In dem Neubau mit der Hausnummer 42 geht die große Glastür häufig auf und zu. Wie meistens steht Inhaberin Janine Werth hinter dem großen Kassentresen ihres Ladens Werte Freunde und lächelt freundlich, wenn jemand reinkommt. Und das passiert häufig.

„Alles, was warm hält, läuft im Moment gut“, sagt die Einzelhändlerin. An einer langen Kleiderstange hängen dicke Winterjacken aus der aktuellen Herbst-/Winterkollektion. Es gibt grob gestrickte Pullis und Strickjacken, Schals und Mützen in den Modefarben Pink und Apfelgrün, karierte Hosen und Blazer, buntgemusterte Blusen und Kleider. Ja­nine Werth erzählt von Kundinnen, die wattierte Westen fürs Büro gekauft haben. „Damit sie es bei runtergedrehter Heizung und einer Höchsttemperatur von 19 Grad den ganzen Tag aushalten.“

Werte Freunde seit Gründung im Krisenmodus

Eine Episode. Aber eine, die ein Schlaglicht auf die nächsten Monate wirft. Schon jetzt zeichnen sich die ersten Auswirkungen von Energiekrise, Ukraine-Krieg und unsicherer Wirtschaftslage auf die Konsumlaune der Deutschen ab – und damit auch auf die Hamburger Ladenbesitzerin. „Im Prinzip sind wir seit der Gründung im Dauerkrisenmodus“, sagt Janine Werth. Im Oktober 2018 hatte sie ihr Fachgeschäft Werte Freunde mit nachhaltiger Mode und einem breit gefächerten Naturkosmetikangebot eröffnet.

Als sich das ungewöhnliche Konzept nach der Startphase gerade anfing zu etablieren, kam die Corona-Pandemie mit monatelangen Zwangsschließungen, Maskenpflicht und Hygiene- und Abstandsauflagen. Wie die Unternehmerin ihren Betrieb mit zehn Beschäftigten durch diese Zeit steuert, begleitet das Hamburger Abendblatt in einer losen Artikelserie. „Die gute Nachricht ist, dass es uns noch gibt“, sagt Janine Werth wenige Tage vor dem vierten Geburtstag ihres Ladens. „Aber jetzt zittern wir wieder und wissen nicht, wie es weitergeht.“

Werte Freunde wurde für einen Monat geschlossen

Werte Freunde ist der Lebenstraum der gelernten Kosmetikerin, die lange in der Naturkosmetikbranche und bei der Drogeriemarktkette Müller gearbeitet hat. Das drückt sich schon im Firmennamen aus, einem Wortspiel mit ihrem Nachnamen und eine Botschaft an die Kundschaft. Mehr als 600.000 Euro Schulden hat Janine Werth gemacht, um ihre Selbstständigkeit zu finanzieren. Schon der erste Lockdown im März 2020 hatte – trotz Corona-Soforthilfen in Höhe von 20.000 Euro – ein großes Loch von mehreren Zehntausend Euro in den eng gestrickten Businessplan gerissen.

Dass die 43-Jährige, ausgestattet mit einer ordentlichen Portion Optimismus, es bis jetzt immer wieder geschafft hat, ihren Laden durch schweres Fahrwasser zu bringen, hat mit ihren Ideen, großem Engagement der Mitarbeiterinnen und einer treuen Stammkundschaft zu tun – aber auch mit beträchtlichen Wirtschaftshilfen des Staats. 205.000 Euro Unterstützung hatte Janine Werth im Spätsommer 2021 erhalten. In diesem Jahren waren es noch mal mehr als 60.000 Euro, nachdem sie ihr Geschäft angesichts steigender Corona-Zahlen und sinkender Shoppinglust im Februar freiwillig für einen Monat dichtgemacht und Kurzarbeit beantragt hatte.

"Wir können uns nicht beschweren"

Seit dem Comeback im Frühjahr läuft es wieder deutlich besser. „Die Kundinnen und Kunden kommen, manchmal in Wellen. Aber wir können uns nicht beschweren“, sagt die 43-Jährige. „Wir erfüllen zwar nicht unsere Planzahlen, sind aber immerhin noch auf dem guten Vorjahresniveau.“ Damit geht es ihr besser als vielen anderen in der Branche. Das liegt auch an ihrem zweigleisigen Geschäftsmodell. Vor allem das Kosmetiksegment erweise sich als krisenfest und werde weiterhin sehr gut nachgefragt.

Die Behandlungstermine im Kosmetikstudio seien nahezu immer ausgebucht. Gerade hat Werth eine dritte Kosmetikerin eingestellt. „Wenn es so weitergeht, kommen wir dieses Jahr auf unsere erste Umsatzmillion.“ Eine Ergebnisprognose wagt sie nicht. Im vergangenen Jahr hatte Werte Freunde bei allen Problemen mit einer schwarzen Null abgeschlossen. Immerhin.

„Wir stehen immer noch am Abgrund.“

Trotzdem sagt die Unternehmerin: „Wir stehen immer noch am Abgrund.“ Um ihren Gefühlszustand zu beschreiben, wählt sie das Bild einer Dynamitstange und einem Feuerzeug mit offener Flamme. Das hat vor allem damit zu tun, dass Werte Freunde seit Beginn der Corona-Krise mit massiven Liquiditätsproblemen kämpft. Die fehlenden Einnahmen vor allem aus dem ersten Lockdown konnte das junge, wachstumsorientierte Unternehmen bislang nicht wettmachen, schrammt immer wieder an der Grenze des Dispokredits.

Dabei fehlen Mittel vor allem bei der Vorfinanzierung der jeweils nächsten Kollektion. Rechnungen von insgesamt mehr als 120.000 Euro, bei der Winterkollektion noch mehr, müssen dann in wenigen Wochen überwiesen werden. „Ich plane das natürlich, aber es ist immer eine sehr knappe Sache“, sagt Janine Werth, die bei Finanzthemen von ihrem Lebenspartner unterstützt wird.

Dispokredit auf 33.000 Euro gesenkt worden

Parallel zahlt sie – wie in der Gründungsphase 2018 geplant, also vor Corona, Krieg und Inflation – seit mehr als einem Jahr ihren Bankkredit ab. 100.000 Euro habe sie inzwischen getilgt, sagt die Geschäftsfrau. Zugleich ist das Geld, das sie im laufenden Geschäft gut brauchen könnte. „Ich würde mir mehr Unterstützung von der Bank wünschen.“ Denn auch der Dispokredit ist gemäß Businessplan inzwischen von 50.000 Euro auf 33.000 Euro gesenkt worden.

In den kommenden Wochen steht zudem die Abrechnung der staatlichen Wirtschaftshilfen an. Die Corona-Soforthilfe aus dem Jahr 2020 muss das Start-up nicht zurückzahlen, bei den sogenannten Überbrückungshilfen aus dem Jahr 2021 sind aber Rückforderungen in Höhe von etwa 30.000 Euro zu erwarten. „Ich setze darauf, dass dann eine Ratenzahlung möglich ist“, sagt Ja­nine Werth.

Werth investierte in LED-Beleuchtungsanlage

Denn auch in diesem Jahr gibt es mit der Energiekrise und Inflation neue unwägbare Probleme, die schnell zur Existenzbedrohung werden können. So ist schon jetzt klar, dass die Kosten für den Ökostrom im Laden deutlich steigen. Bis Ende des Jahres liegt die monatliche Belastung noch bei 430 Euro. Für Mitte November hat der Energieanbieter eine Mitteilung über die künftige Abschlagshöhe angekündigt.

Immerhin hat Werth im vergangenen Jahr in eine LED-Beleuchtungsanlage investiert. „Das spart schon mal.“ Nach Geschäftsschluss um 19 Uhr schaltet sie das Licht komplett aus. Die Heizung, eine strombetriebene Lüftungsanlage, nutzt sie kaum. Parallel versucht die Einzelhändlerin weitere Kosten zu reduzieren, unter anderem verhandelt sie gerade mit dem Hauseigentümer über die Miete – monatlich ein Betrag von knapp 12.000 Euro inklusive Nebenkosten.

Am Sonnabend gibt es bei jedem Einkauf ein Geschenk für die Kunden

Zum ersten Mal denkt sie auch offen darüber nach, einen Investor in ihr Unternehmen zu holen, und sucht aktiv. Bislang war das undenkbar, aber nach vier Jahren unter Daueranspannung sehe sie keine andere Möglichkeit. „Die Planungen des Geschäftsmodells basieren auf den Wachstumsprognosen, die wir 2018 gemacht haben“, sagt sie. Das Wachstum sei aber in den vergangenen Monat geringer, sodass die ersehnte Entspannung ausbleibe. „Wir brauchen dringend eine Finanzspritze.“ Auch für sie und ihren Lebenspartner sei die Situation eine große Belastung. „Ein Leben am Limit, das geht nicht fortwährend“, sagt die Unternehmerin.

Denkt sie ans Aufgeben? „Immer mal wieder“, sagt Janine Werth. „Aber wenn ich im Laden bin und mein tolles Team und meine glücklichen Kundinnen und Kunden sehe, weiß ich, warum ich das mache.“ Besonders freut sie sich auf den Geburtstag von Werte Freunde. Gefeiert wird am kommenden Sonnabend. Seit Tagen bereiten sie und ihre Mitarbeiterinnen den großen Tag vor, packen Hunderte Pakete und Päckchen – denn bei jedem Einkauf gibt es am Geburtstag ein Geschenk dazu.

Werte Freunde: "Das Konzept ist zu gut, um zu sterben“

Im vergangenen Jahr standen die ersten Kundinnen schon vor Ladenöffnung vor der Tür. Am Ende des Tages hatte Janine Werth fast 25.000 Euro Umsatz in der Kasse. „Es war der beste Verkaufstag, den wir jemals hatten. Das zeigt mir: Das Konzept ist zu gut, um zu sterben.“