Hamburg. Jochen Intelmann über Preissteigerungen in der Zukunft, eine mögliche Rezession und seine Prognose für den DAX.

Steigende Zinsen, die höchsten Inflationsraten seit fast 50 Jahren, gleichzeitig aber die Gefahr einer Rezession – nach einer langen Phase relativer Stabilität ist die Wirtschaft in turbulentes Fahrwasser geraten. Dazu hat die Erholung nach der Corona-Krise beigetragen, vor allem aber auch der Ukraine-Krieg. Doch wie geht es nun weiter? Wann geht die Teuerung wieder zurück? Wie sind die Aussichten für Sparer? Darüber sprach das Abendblatt mit Jochen Intelmann, dem Chefvolkswirt der Haspa.

Hamburger Abendblatt: Stehen wir in Deutschland vor einer Rezession – oder hat sie sogar schon begonnen?

Jochen Intelmann: Aktuell befinden wir uns in einer Stagflation. So nennen Ökonomen eine Phase, in der wir so gut wie gar kein Wirtschaftswachstum, aber dennoch hohe Inflationsraten haben. Ich rechne damit, dass wir im Hinblick auf das Wachstum in diesem Jahr weiter um die Nulllinie pendeln, ebenso noch Anfang 2023. Sollte es tatsächlich einen Gas-Lieferstopp geben, käme es auf jeden Fall zu einer Rezession.

Würde dann die Arbeitslosigkeit stark zunehmen?

Das Wort Rezession ist allgemein sehr negativ belegt, weil man damit Massenarbeitslosigkeit verbindet. Aber der Arbeitsmarkt ist nicht mehr in der gleichen Verfassung wie vor zehn oder 15 Jahren. Ich wüsste keine Branche, in der heute zu viel Personal an Bord ist, überall wird nach Personal gesucht. Das gilt auch für eher einfache Tätigkeiten. Selbst wenn die Wirtschaft schrumpfen sollte, kann ich mir keinen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland vorstellen. Denn die Betriebe werden alles daransetzen, die Arbeitskräfte zu halten. Man sieht das derzeit auch in den USA: Obwohl sich die Volkswirtschaft nach zwei aufeinanderfolgenden Quartalen mit negativen Wachstumsraten in einer sogenannten technischen Rezession befindet, herrscht dort Vollbeschäftigung.

Im Juli sind die Verbraucherpreise nach vorläufigen Daten um 7,5 Prozent gestiegen. Wie geht es mit der Teuerung weiter?

Ich befürchte, dass wir im August sogar einen Preisanstieg um die acht Prozent sehen werden. Auch für die nächsten Monate erwarte ich keinen deutlichen Rückgang der Inflation. Der Großteil davon ist aber durch die Energiepreise bedingt. Das bedeutet: Sobald sie im Jahresvergleich nicht mehr steigen, fällt auch ihr Effekt als Inflationstriebfeder weg. Für Erdöl dürfte das im Frühjahr 2023 erreicht sein, für Erdgas leider noch nicht. Insgesamt wird die Inflationsrate in diesem Jahr voraussichtlich im Schnitt bei 7,5 Prozent liegen, im kommenden Jahr wohl eher bei vier Prozent und für 2024 kann ich mir wieder die Zwei vor dem Komma vorstellen. Langfristig dürften die Inflationsraten jedoch höher ausfallen, als man es in den Jahren vor der Pandemie gewohnt war.

Wie wirkt sich die hohe Inflationsrate auf das Wachstum aus?

Die privaten Verbraucher werden sich bei den Ausgaben stark zurückhalten, weil sie wissen, dass vom Herbst an massive Heizkosten-Zusatzrechnungen auf sie zukommen. Gleichzeitig fahren die Unternehmen ihre Investitionen wegen der Rezessionsbefürchtungen zurück. Für das Gesamtjahr 2022 wird wohl noch ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent herauskommen, aber nur, weil das erste Quartal noch einigermaßen gut lief und weil ein statistischer Überhang aus 2021 dazugerechnet wird.

Kann sich die von Ökonomen gefürchtete Lohn-Preis-Spirale herausbilden, bei der hohe Inflationsraten zu sehr kräftigen Lohnsteigerungen führen, die dann wiederum die Teuerung hochtreiben?

Ich würde das nicht ausschließen. Es wäre sicher sinnvoll, sich bei Tarifabschlüssen jetzt auf hohe Einmalzahlungen plus überschaubare prozentuale Steigerungen zu einigen, und außerdem Tarifverträge von mindestens 18 Monaten Dauer zu beschließen. Unter der Annahme, dass sich die Teuerungsraten Ende 2023 wieder in die Richtung eines „normalen“ Niveaus bewegen, kämen wir damit hinter die Inflationswelle.

Wird die Arbeitskräfteknappheit längerfristig das erreichbare Wirtschaftswachstum in Deutschland dämpfen?

Ja, das glaube ich. Wir werden uns wohl auf längere Sicht mit Wachstumsraten von rund einem Prozent abfinden müssen. Viel mehr geben die Produktionsmöglichkeiten und das Arbeitskräftepotenzial nicht her.

Wann werden Sparer mit festverzinslichen Geldanlagen wieder mehr Rendite erzielen können, als die Inflation wegfrisst?

Wir gehen davon aus, dass die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen zum Jahresende bei 1,50 Prozent liegt, nachdem sie Ende 2021 noch negativ war. Aber die Realverzinsung, also die Rendite abzüglich der Inflation, wird voraussichtlich mindestens auch 2023 noch im negativen Bereich bleiben. Für Sparer sind das keine guten Aussichten.

Wie wird sich der deutsche Aktienmarkt bis zum Jahresende entwickeln?

DAX-Stände von mehr als 14.500 Punkten, wie wir sie noch im Juni gesehen haben, passen jedenfalls nicht zu den Rahmendaten. Ich glaube, dass die Gewinnschätzungen für die Unternehmen noch viel zu hoch sind. Eine Marktkorrektur in den nächsten Monaten würde mich nicht überraschen. Dabei können im Extremfall sogar die Tiefstände vom Juli von rund 12.500 Punkten getestet werden. Bei der Haspa rechnen wir aktuell mit einem DAX-Jahresendstand von 13.300 Punkten.

Belasten auch Befürchtungen vor einem chinesischen Angriff auf Taiwan die Stimmung am Markt?

Das bringt ganz klar zusätzliche Verunsicherung. Nachdem in China aber der Immobiliensektor als Wachstumstreiber weggefallen ist und der Staat nun unbedingt hohe Außenhandelsüberschüsse braucht, um auf dem Wachstumspfad zu bleiben, glaube ich nicht, dass die Regierung einen schweren Handelskonflikt mit den USA und mit Europa – den wichtigsten Kunden der chinesischen Wirtschaft – riskieren will.