Hamburg. Horst Bargsten nimmt die angebotene Altersteilzeit an, verschenkt das Auto, verkauft das Haus, pilgert los – und findet Freiheit.

Am 16. Oktober 2021 schließt Horst Bargsten mit seinem alten Leben ab. Er steht in Wanderklamotten mit seinem 16 Kilogramm schweren Rucksack auf dem Rücken vor seinem Noch-Haus in Ahlerstedt nahe Buxtehude. Um 8.20 Uhr übergibt er den Schlüssel an den Nachbesitzer. Bei trockenen 8 Grad Celsius und kaum Wind läuft er den kurzen Weg zur Seniorenresidenz. Dort lebt seine 88 Jahre alte, an Demenz erkrankte Mutter. Jeden Sonntag gehen sie gemeinsam in den Gottesdienst, anschließend gibt es bei ihm zu Hause Mittagessen. Das ist nun vorbei. Es heißt Abschied nehmen. „Das war emotional und hat mich Tränen gekostet“, sagt Bargsten.

Dann läuft er los, nach Norden gen Harsefeld. Der kleine Ort liegt an der Via Baltica des Jakobswegs – und dieser ist nun für die nächsten Monate sein Ziel. Die erste Etappe geht dann Richtung Süden bis Zeven zu einem Freund. Mehr als 30 Kilometer hat er gegen Abend abgespult. „Das war ein bisschen viel. Ich war kaputt“, erinnert er sich. Ein Grillabend mit Freunden gibt wieder Kraft. Am nächsten Morgen geht es weiter. Otterstedt ist die nächste Station, dann Lilienthal und Bremen. „Ich kann kaum glauben, so weit gelaufen zu sein“, sagt Horst Bargsten. Normalerweise fährt er in die Weserstadt doch immer mit dem Auto – doch das hat er gar nicht mehr.

Jakobsweg: Bargsten trifft Entscheidung während Corona

Dass sich der heute 62-Jährige überhaupt auf den Weg macht, liegt an Sars-CoV-2. Rückblick: Bekanntlich tauchen Ende des Jahres 2019 aus China erste Meldungen über das Coronavirus auf. Spätestens im Februar 2020 rechnet Bargsten, der das Du bevorzugt und einfach mit Horst angesprochen werden möchte, mit Auswirkungen auf seinen Arbeitgeber. Seit 2000 ist der gelernte Blechschlosser, der sich später zum staatlich geprüften Techniker fortbildete, bei Airbus. Die Terroranschläge in New York, die Vogel- und die Schweinegrippe – alle diese Ereignisse hätten sich immer auf den Luftverkehr ausgewirkt. „Anfang März 2020 war mir klar, dass mein Arbeitgeber Personalmaßnahmen treffen wird und dass ich mit meinen 60 Jahren auf der Abschussliste stehen werde“, erinnert er sich.

Kurze Zeit später bricht der Flugverkehr weltweit nahezu zusammen. Airbus wird die neu gebauten Flugzeuge teilweise nicht mehr los, weil den Airlines durch den wegbrechenden Ticketverkauf das Geld zum Bezahlen der Schlussrate fehlt. Wann sich die Branche wieder erholt, ist schwer abzusehen. Ende Juni verkündet der Flugzeugbauer, dass allein in Hamburg 2260 Jobs vor dem Aus stehen – etwa jeder siebte.

Ahlerstedter nimmt Angebot von Airbus an

Es gibt Gespräche über Ab­findungen und Vorruhestandsregelungen, Letzteres gilt für den Ahlerstedter. Schließlich ist er einer von rund 1000 Hamburger Beschäftigten, die das Angebot des Unternehmens annehmen und freiwillig oder früher als geplant ausscheiden. Am 30. September 2020 wird sein neuer Vertrag wirksam. Er bekomme etwas mehr als sein halbes Gehalt, muss dafür aber nur noch ein Jahr Vollzeit und dann drei Jahre null arbeiten, sagt Horst Bargsten: „So gefällt mir das – und dem Arbeitgeber offenbar auch.“

Von Jugend an begeistert er sich für die Fliegerei. Seine Lehre macht er beim Luft- und Raumfahrtkonzern Messerschmidt-Bölkow-Blohm. „Ich bin einer von den Kerosintypen“, sagt er und meint damit, dass das Flugbenzin in den Adern fließt. Heißt: Er macht nicht nur einen Job, er hängt mit Herzblut an seiner Tätigkeit. Nach gut 15 Jahren in der Telekommunikations- und Röntgenbranche kehrt er zur Jahrtausendwende in die Luftfahrt zurück. Ab 2006 und damit von Anfang an ist er an der Entwicklung des neuen Großraumflugzeugs A350 beteiligt.

„Fliegen bedeutet für mich Freiheit“

„Dies ist die spannendste Zeit in meinem Berufsleben“, sagt Bargsten. Zusammen mit Kollegen baut er testweise Bordküchen, Toiletten und Sitze. Später werden diese Teile von Zulieferern bezogen. Als Qualitätsmanager für die Innenausstattung und den Frachtraum beim A350 nimmt er ihre Produkte ab. „Fliegen bedeutet für mich Freiheit.“ Man sehe die Welt von oben, komme schnell von A nach B.

Er habe das Privileg genossen, ein Flugzeug zu bauen – das sei für viele andere Menschen nicht alltäglich. Am 30. September 2021 ist es damit vorbei. Er hat seinen letzten Tag bei Airbus. Die Online-Verabschiedung mit gut einem Dutzend Kollegen habe ihn sehr berührt, weil die Chefs die Laudatio sehr persönlich gehalten hätten, mit vielen Details aus seinem Lebenslauf. Tränen fließen aber nicht.

Bargsten verkauft sein Haus

In den letzten Monaten seines Arbeitslebens bereitet er parallel den Start in sein neues Leben vor. Das Haus vermieten will er nicht. Er hat keine Lust, unterwegs SMS zu erhalten wie „Die Heizung ist kaputt. Was sollen wir tun?“ Also verkauft er das Eigenheim, sein Auto und der Apple-Rechner werden verschenkt. „Ich habe alles abgestoßen, was irgendwie Last bedeutet“, sagt Horst Bargsten.

Er ist ungebunden. Seine Ehe vor zehn Jahren zerbrochen. Seine 25 und 22 Jahre alten Kinder stehen auf eigenen Beinen. Enkelkinder gibt es nicht. Ursprünglich will er nach Südamerika reisen. Doch angesichts des Coronavirus und des Lockdowns scheint ihm das zu gewagt. Dann schlägt ihm jemand den Jakobsweg vor. Je mehr er darüber nachdenkt, umso mehr gefällt ihm die Idee. Ein halbes Jahr Wandern als Meditation für den Übergang vom „Hamsterrad“ Arbeit in einen neuen Lebensabschnitt.

„Auf einmal war ich durch Deutschland durch und in Basel“

Zwei Wochen nimmt er sich noch, um das Haus auszuräumen und zu übergeben – dann geht es Mitte Oktober los. Kurz hinter Bremen trifft ihn ein heftiger Oktobersturm, der waagerechte Regen duscht ihn kräftig. Er schafft nur sieben Kilometer an dem Tag. Trotzdem geht es weiter. Über Osnabrück, Münster, Dortmund, Köln und Bonn kommt er nach Ahrweiler – und ruft in dem vom Hochwasser überfluteten rheinland-pfälzischen Ort beim Helfer-Shuttle an. „Die haben mich mit Kusshand genommen.“ Er bekommt Kost und Logis frei, Arbeitsklamotten und Werkzeug – und legt los. Macht Häuser wetterfest, indem er beschädigte Türen und Fenster zunagelt. Kratzt Tapeten ab. Baut eine Küche ein. Und transportiert in einer Eimerkette Schlamm aus überschwemmten Weinbergen.

Mit Beginn der Helferpause am 21. Dezember beendet er seinen Helfereinsatz und will über Weihnachten zu seiner Tochter in die Nähe von Fulda fahren – doch die hat sich mit Corona infiziert. Also geht es zunächst zu einem Freund nahe Mannheim, der ihm auch schon einige Wochen zuvor aufnahm, weil er sich auf seiner Wanderung eine Blasenentzündung eingefangen hatte. An Neujahr bricht er mit der Bahn zu seiner Tochter auf, sie feiern zusammen ihren Geburtstag und dann geht es zurück auf den Jakobsweg – oder besser auf einen der Jakobswege: Denn es gibt ein ganzes Netz von diesen. Horst ist meist allein unterwegs. Frankfurt, Mainz, Worms, Speyer, Straßburg, Freiburg. „Auf einmal war ich durch Deutschland durch und in Basel.“

In Basel kommt er mal wiederbei einem Freund unter

In der Schweizer Grenzstadt kommt er mal wieder bei einem Freund unter. Mitunter sind die Unterkünfte auf seiner Pilgerreise aber etwas gewöhnungsbedürftig. Er schläft zwischen Teekartons, weil sein Gastgeber ein Teegeschäft aufgeben musste. Und kommt bei einer Familie unter, die in der Wohnstube ein Aquarium, Katzen und mehrere Hühner hält – das Pilgerzimmer sei aber sehr sauber gewesen. Probleme mit dem Schlafen habe er ohnehin nie gehabt, auch auf dieser Reise nicht. „Ich lege mich hin, mache die Augen zu und weg ist der Kerl. Das empfinde ich als Segen.“ Im Schnitt – so seine Rechnung – gibt er 13,09 Euro pro Nacht für die Unterkunft aus.

In Basel entscheidet er sich, zunächst seinen Gleitschirmschein fertig zu machen, den er bei einem früheren Aufenthalt in Bayern wegen schlechten Wetters nicht beenden konnte. Mit dem Zug geht es nach Sonthofen. Er schafft die Prüfung. Anschließend setzt er sich wieder den mit Daunen- und Regenjacke, Fleeceshirt, Unterwäsche und Turnschuhen bepackten Wanderrucksack auf. Waschmaschine und Trockner gibt es in den meisten Unterkünften.

„Ich will unbedingt über Toulouse laufen“

Zwei Liter Wasser hat er stets dabei, Essen holt er sich unterwegs in Bäckereien und Supermärkten – 26,99 Euro gibt er pro Tag für Sonstiges aus. Spätestens um 8 Uhr macht er sich auf den Weg, nachmittags zwischen 16 und 18 Uhr will er am nächsten Etappenort sein. Per Pedes geht es via Scheidegg, Bregenz, Fribourg, Lausanne und Genf nach Frankreich. Dort pilgert er durch viele mittelalterliche Ortschaften, nun auch ab und an mit anderen Pilgern. Sein nächstes, großes Ziel: „Ich will unbedingt über Toulouse laufen.“

Am 6. Mai steht er vor dem Werkstor seines früheren oder Noch-Arbeitgebers – wie man es sehen will. „Das ist ein geniales Gefühl.“ Voller Freude reißt er seine Wanderstöcke nach oben. Bestimmt 50-mal sei er während seines Berufslebens dort ge­wesen. Hin und zurück ging es mit dem Werksshuttle, der zweimal täglich Finkenwerder und Toulouse per Flugzeug in zwei Stunden miteinander verbindet. Nun ist er – mit einigen Umwegen – 2700 Kilometer gelaufen. Pro Tag meist zwischen 22 und 25 Kilometer. „Das jetzt zu Fuß bewältigt zu haben, da kommen viele Emotionen zusammen.“ Sein Werksausweis funktioniert, er geht aufs Gelände und nimmt als Überraschungsgast an einer Videokonferenz seiner früheren Kollegen teil.

„Alle wollten mich unbedingt zu Hause beherbergen"

„Ich habe das Meeting gesprengt. Da kam ein Haufen Fragen.“ Er beantwortet sie gern, die 90 Minuten gehen wie im Flug vorbei. Über Arbeitsinhalte wird kaum gesprochen. Nach und nach kommt er bei mehreren Arbeitskollegen unter. „Alle wollten mich unbedingt zu Hause beherbergen. Urplötzlich war eine sehr persönliche Ebene da, obwohl wir uns vorher nur auf Businessebene kannten.“

Generell überwältigt ihn die Gastfreundschaft auf seiner Pilgerreise immer wieder. „Ich komme mit so vielen Menschen in Kontakt, die mir wohlwollend gegenüberstehen.“ Sie stehen ihm bei der Suche nach einem Quartier bei oder bieten ihm kurzerhand trotz teilweise hoher Corona-Inzidenzen selbst Unterschlupf an – Einführung in deren persönliche und familiäre Probleme inklusive. Offenbar scheint Bargsten ein guter Zuhörer zu sein.

"Ich habe aufgehört, zu bewerten"

Mit Toulouse ist ein großes Ziel erreicht, aber es geht weiter. Gen Westen Richtung Biarritz. Wenn er unterwegs ist, sei er im Dialog mit sich selbst, erzählt er im Videogespräch mit dem Abendblatt aus Südfrankreich: „Ich gebe mir selbst Antworten.“ Hört er Motorengeräusche am Himmel blickt er nach oben. Häufig denkt er auf seiner Tour an die Arbeit.

Den A350 habe er schon zwei- bis dreimal neu gebaut. Heute sehe er Dinge anders als damals, hätte häufiger gegenüber seinen Vorgesetzten eine konträre Position vertreten sollen. Ob er Negativerlebnisse auf seiner Tour sammelte? Nein, sagt Horst Bargsten: „Es gibt bei mir nichts Schlimmes mehr, weil ich aufgehört habe zu bewerten.“ Via San Sebastian will er bis nach Santiago de Compostela laufen. Mitte, Ende Juli will er am Zielort des Jakobsweges im nordwestlichen Zipfel Spaniens sein. Weitere rund 1000 Kilometer.

Auch in Marokko und Algerien reizen ihn Land und Leute

Und dann? Portugal kenne er noch nicht und das liege quasi vor der Haustür. Auch in Marokko und Algerien reizen ihn Land und Leute. Er sei neugierig auf die andere Lebensart und Kultur. Und wie? Weiter zu Fuß sei möglich; oder er kaufe sich ein Mofa oder kleines Auto; oder er trampe. „Das sind Dinge, die ich auf mich zukommen lasse“, sagt er und ergänzt: „Ich habe ein Gefühl der absoluten Freiheit kennengelernt.“

Er sei jetzt homeless – heimatlos. Eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland sei zwar derzeit nicht vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen. Er wartet auf einen Wink, wo es ihn hinverschlagen soll. „Ich habe keine festen Pläne. Ich habe mir auch vorgenommen, nicht mehr zu planen. Ich mache Breaks, wenn sie mir in den Sinn kommen.“ Wie bei seinen Pausen für den Hilfseinsatz im Ahrtal, dem Gleitschirmkurs in Sonthofen und nach dem Etappenziel Toulouse.

Jakobsweg: Bargsten flog im Mai wieder nach Hamburg

Von dort war er im Mai für zehn Tage nach Hamburg geflogen. Dort sah er seine Kinder und Brüder wieder und besuchte seine Mutter in der Seniorenresidenz seines alten Heimatorts. Horst Bargsten sagt: „Das hat uns allen gutgetan.“