Hamburg. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr verzeichnet die Stadt einen Rückgang von rund 18 Prozent. Das Interesse der Jugendlichen schwindet.

Malin Westphalen hat es bald geschafft. Sie beendet im nächsten Monat im Hamburger Unternehmen Hermes Schleifmittel ihre Ausbildung als Industriekauffrau mit der Fachrichtung Informationsverarbeitung. „Ich arbeite im Vertrieb und werde vom Unternehmen auch übernommen“, sagt Westphalen, die nach einem Umweg über ein angefangenes Studium der Bioverfahrenstechnik zur klassischen Ausbildung kam. „Die ist praxisnäher, man kann das Wissen sofort anwenden“, sagt die 25-Jährige. Das Unternehmen stellt mit 320 Mitarbeitern in Hamburg Schleifmittel für die Industrie her und bildet jedes Jahr drei Azubis aus.

Doch solche Erfolgsgeschichten könnten in Zukunft weniger werden. Denn offenbar sinkt das Interesse an einer dualen Ausbildung im Betrieb und auch die Zahl der Lehrstellen, und Ausbildungsverhältnisse geht zurück, wenn man die aktuelle Lage mit dem Vor-Corona-Niveau vergleicht. Denn zweieinhalb Monate vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres am 1. August schlägt Hamburg Alarm.

Ausbildung: mehr als 1700 Lehrstellen fehlen

Zwar gibt es bei den gemeldeten Ausbildungsstellen eine leichte Verbesserung gegenüber dem Vorjahr, aber im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 fehlen mehr als 1700 Lehrstellen in den Hamburger Betrieben. 7900 gemeldete Ausbildungsstellen gibt es jetzt. Noch dramatischer ist allerdings, dass sich immer weniger Jugendliche um eine Ausbildungsplatz bemühen und die Beratungs- und Vermittlungshilfe der Jugendberufsagenturen in Anspruch nehmen. Offenbar auch eine Folge der Pandemie, in der die Beratung nur eingeschränkt online oder telefonisch erfolgen konnte. Zudem fielen Praktika in den Unternehmen pandemiebedingt aus.

Jetzt soll eine Trendwende erreicht werden. Auf einer Pressekonferenz bei Hermes Schleifmittel appellierten Bildungsbehörde, Arbeitsagentur, Gewerkschaft sowie Kammern und Verbände der Wirtschaft an alle Unternehmen, mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen. Aber auch Jugendliche und Schulabgänger müssten aktiv werden und sich jetzt bewerben. Doch es werden immer weniger Interessenten für eine Ausbildung gezählt, obwohl die Zahl der Schulabgänger seit knapp zehn Jahren mit rund 16.000 konstant ist.

Unsicherheit bei Schulabgängern

Im April notierte die Arbeitsagentur Hamburg fast 5300 Ausbildungsbewerber, das sind 13 Prozent weniger als im Vorjahr. Im Vergleich zum April 2019 ist die Lücke mit minus 25 Prozent noch größer. Es fehlen fast 1800 Bewerber, von denen man nicht weiß, ob sie sich um eine Ausbildung bemühen. Vielmehr befürchten Experten, dass die Verunsicherung bei der Berufswahl immer größer und auch weniger Hilfe in Anspruch genommen wird. „Dabei haben wir mit dem eigenständigen Fach ,Berufsorientierung‘ eine gute Grundlage für die Wahl zur beruflichen Zukunft“, sagt Schulsenator Ties Rabe (SPD).

„Zu viele Schüler setzen alle ihre Anstrengungen auf das Studium, was dann nicht von Erfolg gekrönt wird“, sagt Schulsenator Thies Rabe.
„Zu viele Schüler setzen alle ihre Anstrengungen auf das Studium, was dann nicht von Erfolg gekrönt wird“, sagt Schulsenator Thies Rabe. © Public AddressEXKLUSIV FÜR HAMBURGER ABENDBLATT UND BGZ - bis 2025 Pauschal bezahlt Bürgerschaftwahl 2020 | Mirko Hannemann

Dennoch gibt es jedes Jahr rund 2000 Schulabgänger, die weder ein Studium noch eine berufliche Ausbildung aufnehmen. Bis zu den Sommerferien bietet die Berufsberatung der Arbeitsagentur noch mehr als 3000 Beratungstermine für Hamburger Jugendliche an, die ihre Chance auf einen Ausbildungsplatz in diesem Jahr nutzen wollen. „Mit Blick auf die Corona-Pandemie gab es zwei Jahre eine erhebliche Unsicherheit bei jungen Menschen, die ihre persönliche Berufswahl zu treffen hatten. Diese Zeit bessert sich merklich, auch wenn unsere Zahlen das noch nicht abbilden“, sagt Sönke Fock, Vorsitzender der Geschäftsführung in der Agentur für Arbeit Hamburg.

Viele bevorzugen Studium statt Ausbildung

Auch die hohe Abiturientenquote in Hamburg von über 50 Prozent spielt eine Rolle. Viele schließen dadurch eine duale Ausbildung aus und konzentrieren sich von Anfang an auf ein Studium. Doch das gelingt nicht immer. „Zu viele Schüler setzen alle ihre Anstrengungen auf das Studium, was dann nicht von Erfolg gekrönt wird“, sagt Rabe. „Rund jeder Dritte beendet sein Studium nicht.“ Auch Abdul Samay Saifi merkte nach drei Semestern Marketing, dass es nicht die richtige Entscheidung war. „Ich musste mein Studium selbst finanzieren und nebenbei arbeiten“, sagt Saifi, dem auch die Praxis im Studium gefehlt hat. Mit einer Ausbildung zum Industriekaufmann bei Hermes Schleifmittel, die er in diesem Jahr abschließt, fühlte er sich besser aufgehoben.

Hjalmar Stemmann, Präsident der Handwerkskammer erinnerte daran, dass auch eine klassische Ausbildung ohne Studium die Tür zu einer Karriere öffnet. Denn mit einer Meisterausbildung kann man die Berufsabschlussbezeichnung Bachelor Professional tragen. Auch das Einkommen liegt dann auf dem Niveau eines Beschäftigten mit Studienabschluss. „In Hamburg warten 5000 Betriebe darauf, von jungen Meistern übernommen zu werden“, sagt Stemmann. Fock und Handelskammer-Präses Norbert Aust warnten vor den Folgen des Fachkräftemangels in Hamburg. „Innerhalb der nächsten zwölf Jahre verlassen 176.500 Fach- und Führungskräfte Hamburger Unternehmen.

Ausbildungsquote in Hamburg sinkt

Seit Jahren nimmt die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Hamburg zu, aber die der abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse ab. Gegenwärtig hat die Hansestadt mehr als eine Million sozialversicherungspflichtige Jobs, aber auf die Ausbildung hat das keine Auswirkungen. Im Gegenteil: Die Ausbildungsquote – das Verhältnis von Azubis zu Beschäftigten – sinkt.

Mit vier Prozent für 2019 (neuere Zahlen liegen nicht vor) hat Hamburg den niedrigsten Wert der westlichen Bundesländer und liegt etwa auf dem Niveau der östlichen Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt mit je 3,9 Prozent. Auch alle norddeutschen Bundesländer einschließlich Bremen (5,0 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (4,2 Prozent) weisen eine höhere Ausbildungsquote auf. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein liegt sie bei rund 5,5 Prozent.

„Die aktuelle Ausbildungstätigkeit der Betriebe reicht bei Weitem nicht, um dem Fachkräftebedarf etwas entgegenzusetzen“, sagt Tanja Chawla, Vorsitzende des DGB in Hamburg. Um junge Menschen gut auszubilden, müsse man investieren. „Diese Chance und Verpflichtung darf die Wirtschaft nicht verstreichen lassen und stattdessen deutlich mehr qualitativ hochwertige Ausbildungsplätze anbieten“, forderte die Gewerkschafterin.