Norderstedt. Immer mehr Menschen wechseln für den Lehrerjob ins Klassenzimmer. Warum das Bildungsministerium froh um jeden einzelnen ist.
Während es immer weniger Lehrerinnen und Lehrer gibt, steigt die Zahl der Quereinsteiger an Schleswig-Holsteins Schulen immer mehr. Menschen, die ihren Beruf in der freien Wirtschaft für den Job im Klassenzimmer aufgeben. Landesweit wurden 2021 nach Angaben des Bildungsministeriums 160 neue Kolleginnen und Kollegen eingestellt, die aus einem anderen Beruf kamen.
Lehrermangel – für die Bildungsministerin die zentrale Frage
Die Zahlen dieser Neueinstellungen steigen aktuell, und diese Tendenz dürfte sich verstärken. Denn das Land will dem Lehrermangel durch die verstärkte Einstellung von Quereinsteigern beikommen. Die Lehrkräfte-Versorgung sei „die zentrale schulpolitische Frage des nächsten Jahrzehnts“, sagte Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) kürzlich dem Abendblatt. Denn es gebe deutlich steigende Schülerzahlen, andererseits gingen viele Lehrkräfte in den Ruhestand. Prien weiter: „Eine große Frage wird sein, wie offen wir eigentlich für Quer- und Seiteneinsteiger sind.“ Der Einstieg müsse noch einfacher werden.
Astrid Henke, Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), wird deutlicher: „Kurzfristig müssen wir auf Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger zurückgreifen.“ Angesichts des Lehrermangels gebe es derzeit „keine andere Möglichkeit, um den Unterricht für Kinder und Jugendliche zu gewährleisten.“
Lehrer, die früher einen ganz anderen Beruf gemacht haben und nun den Neustart wagen – das wird also mehr und mehr zum Alltag der Schüler gehören. Bereits jetzt rührt das Land die Werbetrommel für den Quereinstieg, bietet zwei unterschiedliche Programme an.
Am Coppernicus-Gymnasium sind vier Quereinsteiger im Einsatz
Beispiel Coppernicus-Gymnasium: Dort sind vier von 68 Lehrkräften Quereinsteiger. Lena Malzahn, 34 Jahre alt, ist eine von ihnen. In einem zweijährigen Programm wird sie auf den Beruf vorbereitet, doch der allergrößte Teil ihres Alltags besteht – wie an diesem Tag – bereits aus Praxis.
In ihrem Klassenzimmer ist es ruhig, ein Beamer brummt, wirft das Bild eines Ikea-Sessels an die Wand. „Na, wer kennt diesen Stuhl?“, fragt Lena Malzahn. Viele der Schülerinnen und Schüler nicken. Dass der bekannte Sessel aber einen Vorläufer aus den 1920er Jahren hat, der Bauhaus-Ära, wissen die meisten nicht. Um das berühmte Design-Stück soll es in dieser Oberstufen-Kunststunde aber gehen. Lena Malzahn erklärt locker und anschaulich, plaudert und lacht mit den Jugendlichen, die dann eigene Entwürfe eines Stuhls zeichnen sollen. Lena Malzahn geht von Tisch zu Tisch, bespricht die Entwürfe, überzeugt auch einen etwas hartnäckigen jungen Mann ruhig davon, es in Sachen Perspektive noch einmal etwas anders anzugehen.
Lena Malzahn ist im Programm „Seiteneinstieg“, schon im Juni steht ihre abschließende Lehrprobe an. Dass sie noch gar keine voll ausgebildete Lehrerin ist – ihre Schüler aus dem Kunstkursus wussten das gar nicht. Sie bekommen es erst in dem Moment mit, als der Reporter mit ihr über ihr früheres Berufsleben sprechen möchte.
Der Beruf erfüllte nicht mehr, die Sehnsucht nach Sinnvolligkeit war groß
„Ich komme aus Hamburg, hatte dann nach dem Abi in München Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Sonderpädagogik auf Magister studiert“, erzählt die junge Frau. „Anschließend habe ich bei einem Online-Marketingunternehmen gearbeitet.“ Als „Set-Designerin“ habe sie sich um Videoproduktionen gekümmert, gedreht wurden etwa kleine Filme über Kochrezepte. Später wurde Lena Malzahn in dem Unternehmen Projekt- und Eventmanagerin.
Aber nach zehn Jahren Berufstätigkeit fehlte ihr etwas. „Die Arbeit erfüllte mich nicht mehr, ich wollte etwas Nachhaltigeres, Wertvolleres tun“, sagt Lena Malzahn. Deshalb informierte sie sich über den Quereinstieg in den Lehrerberuf, den sie immer im Hinterkopf gehabt hatte – und wurde in Schleswig-Holstein fündig.
Ganz ähnlich klingt die Geschichte von Malzahns Kollegen Lars Bargiel. Er wagte vor fünf Jahren den Quereinstieg, unterrichtet am Coppernicus-Gymnasium Mathematik und Physik. „Ich habe früher als Wirtschaftsingenieur gearbeitet, bei einem großen Energie-Unternehmen“, erzählt der 35-Jährige. Der Job sei auch „durchaus interessant“ gewesen, allerdings habe er auch Aufgaben machen müssen, die „nicht sonderlich sinnstiftend“ waren. Bargiel weiter: „Manchmal geht es in einem Unternehmen eben darum, mehr Gewinn zu erzielen. Aber ich wollte meine Arbeit gerne anderen Zielen widmen.“
So entschied er sich, dem früher „untergeordneten Berufswunsch“ doch noch nachzugehen, über das Internet wurde er auf das Seiteneinsteiger-Programm in Schleswig-Holstein aufmerksam und bewarb sich an dem Norderstedter Gymnasium.
Ein „Sinndefizit“ empfindet er bei seiner heutigen Arbeit nicht mehr: „In der Schule zu arbeiten, ist wahnsinnig sinnstiftend. Und mir macht es unglaublich Spaß, Kindern etwas beizubringen.“ Lena Malzahn pflichtet bei: „Der Job ist schon sehr sinnerfüllend, außerdem sehr vielfältig. Man muss sich immer auf neue Situationen einstellen, jeder Tag ist anders.“
Dass der Job auch Schattenseiten hat, gerade für Quereinsteiger, betont indes die GEW. „Der Einstieg ist oft hart. Schließlich fehlen den Betroffenen in der Regel die pädagogischen Studienanteile“, sagt Astrid Henke. Zudem seien „die Belastungen im Vorbereitungsdienst insgesamt enorm.“
Besonders Letzteres bestätigen Lena Malzahn und Lars Bargiel: „Man muss schon wissen, dass die zwei Jahre sehr aufwändig und arbeitsintensiv sind“, sagt Lars Bargiel, der erlebte, wie eine Seiteneinsteigerin, eine Frau mit Kindern, nach einigen Monaten aufgab. Auch Lena Malzahn sagt: „Den Arbeitsaufwand habe ich am Anfang unterschätzt. Ich komme manchmal auf 60, 70 Stunden in der Woche.“ Zudem sei es eine ganz schöne Umstellung, nach Jahren der Berufstätigkeit plötzlich wieder etwas neu anzufangen. Der Unterricht werde, gerade am Anfang, eben auch unter die Lupe genommen, „da muss man schon kritikfähig sein.“
Ihre erste richtige Unterrichtsstunde fand online statt, es war die Hochzeit der Corona-Pandemie. Später ging es dann mit halber Klassenstärke los. Trotzdem sei sie „richtig aufgeregt“ gewesen, als sie das erste Mal unterrichten sollte, sagt Lena Malzahn. Ihre Anfängerfehler, vielleicht typisch für eine Quereinsteigerin, schildert sie so: „Eine erfahrene Lehrkraft hat mir gesagt, ich unterrichte so schnell wie ein Speed-Boat. Das musste ich natürlich sehr, sehr reduzieren. Das Erste, was ich lernen musste, war, wie Kinder in dem Alter denken.“ Ähnlich klingt es, wenn Lars Bargiel von seinen ersten Unterrichtsstunden berichtet: „Vorher hatte ich mal im Unternehmen Vorträge gehalten, vor Erwachsenen. Nun stand ich vor einer Schulklasse, habe 90 Minuten vom Satz des Pythagoras erzählt. Und die Schüler haben sich wahrscheinlich gefragt, ‘Was macht der Typ da eigentlich?’. Die Welt mit Schüleraugen zu sehen, das ist ein riesiger Perspektivwechsel.“
Trotzdem, das berichten beide, hätten sie bald gelernt, sich auf die Schüler einzustellen und den Unterricht zu gestalten. „Gute Vorbereitung hilft, und in den Hospitationsstunden kann man sich viel von erfahrenen Kollegen abschauen“, sagt Lars Bargiel. Außerdem sei es natürlich wichtig, von vornherein einen gewissen Draht zu Kindern zu haben. „Ich hatte eigentlich immer einen Bezug zu Kindern und Jugendlichen. Das hat mir geholfen“, sagt Lena Malzahn. Wenn man die Grundvoraussetzung mitbringe, viel arbeiten zu können, werde man in dem Job „belohnt“, sagt sie – ganz ähnlich sieht es Lars Bargiel.
Die Berufserfahrung bringt neue Einflüsse an die Schule
Heike Schlesselmann, die Leiterin des Coppernicus-Gymnasiums, sagt: „Die Erfahrungen, die wir bisher mit Quereinsteigern gemacht haben, sind in der großen Mehrzahl wirklich positiv.“ Das anfangs noch fehlende pädagogische Know-how würden diese schnell wettmachen. Außerdem brächten diese durch ihre frühere Berufserfahrung neue Einflüsse an die Schule. Schlesselmann: „Es tut uns gut, über den Tellerrand zu schauen und zu hören, wie es im echten Wirtschaftsleben ist. Die Schüler profitieren davon.“
Lena Malzahn ist anzumerken, dass sie, nach ihrem Studium der Kunstgeschichte, auch einen praktischen Zugang zu gestalterischen Fragen erworben hat. Der kommt ihr jetzt dem Schulunterricht zugute. Sie sagt: „Das Schöne ist, dass man in dem Job Themen, die einen selbst begeistern, unterrichten und damit andere begeistern kann. Es ist wirklich toll, den Schülern neue Horizonte aufzuzeigen.“
Infos für alle, die über den Quereinstieg nachdenken
Das Land Schleswig-Holstein sucht nach Personen, die kein Lehramtsstudium absolviert haben, aber gerne in den Lehrerberuf wechseln möchten. Für sie gibt es zwei Programme. Seiteneinstieg heißt ein Programm, das 24 Monate dauert. Voraussetzung ist ein Hochschulabschluss (Master, Magister oder Diplom) in einer gesuchten Fachrichtung sowie mehrjährige Berufserfahrung. Seiteneinsteiger können an einer Schule dann eingestellt werden, wenn eine Planstelle nicht mit einer regulären Lehrkraft besetzt werden kann.
Die Seiteneinsteiger unterrichten während der zwei Ausbildungs-Jahre an einer Schule. Parallel dazu nehmen sie einmal in der Woche an besonderen Qualifizierungsseminaren teil, in denen es etwa um Themen der Pädagogik oder um die Organisation des Unterrichts geht. An der Schule werden sie von Ausbildungslehrkräften begleitet. Während der 24 Monate verdienen die Teilnehmer des Seiteneinsteiger-Programms bereits Geld.
Quereinstieg heißt ein sehr ähnliches Programm; es ist mit 18 Monaten Dauer aber deutlich kürzer. Es greift dann, wenn es in einer bestimmten Fachrichtung einen besonderen Bedarf gibt und in dem Bereich nicht genügend Lehramtsanwärter zur Verfügung stehen.
Weitere Informationen gibt es beim Bildungsministerium.