Hamburg. Sollte man jetzt noch Aktien kaufen? Und wenn ja, welche? Hamburger Experte gibt Tipps zur aktuellen Lage am Kapitalmarkt.

Für Politiker markiert der Angriff auf die Ukraine eine „Zeitenwende“. Doch der deutsche Aktienmarkt hat sich schon seit Anfang März kräftig erholt und inzwischen fast wieder den Stand von vor Beginn des Krieges erreicht. Hamburger Aktien haben – ebenso wie Titel aus den USA und aus Asien – gegenüber dem 23. Februar, dem Tag vor dem Überfall, sogar an Wert gewonnen.

Warum ist das so? Welche Branchen profitieren von der weltpolitischen Entwicklung, welche verlieren? Und wie wirkt die hohe Inflationsrate auf den Aktienmarkt? Das Abendblatt sprach darüber mit Hamburger Experten.

Warum konnten sich die Aktienmärkte so schnell erholen?

„Die schnelle Erholung ist eigentlich erstaunlich, denn die Unsicherheiten haben sich seit dem 23. Februar sicherlich noch erhöht“, sagt Carsten Klude, Chefvolkswirt beim Hamburger Bankhaus M.M. Warburg & CO. Aber schon im Vorfeld des Ukraine-Kriegs habe am Markt unter anderem wegen der Energiepreissteigerungen eine „stark negative Stimmung“ geherrscht, viele Großanleger hätten daher schon Teile ihrer Aktienbestände verkauft. Zudem dürfe man nicht vergessen, dass Deutschland und Europa viel stärker von dem Krieg betroffen seien als die USA und Asien, ergänzt Bernd Schimmer, Chef-Anlagestratege der Haspa: „Es zeichnet sich ja keine Weltrezession ab. US-Aktien ziehen die europäischen mit nach oben.“

Gibt es Gewinner der aktuellen Krise?

„Man kann derzeit eine klare Zweiteilung des Aktienmarkts beobachten“, sagt Klude: „Zu den Gewinnern gehören sicherlich die Öl- und Gasförderer.“ Das sieht Schimmer ganz ähnlich: „Die Rohstoff- und Energiesektoren sind die größten Profiteure. Und hier insbesondere Firmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien, denn der Klimawandel ist ja nicht plötzlich weg.“ Auch mit Aktien von Nahrungsmittelproduzenten sowie dem Pharma- und Gesundheitssektor könne man sich relativ wohlfühlen, „denn daran wird zumeist nicht gespart“, so Schimmer.

Von welchen Branchen sollte man nun eher die Finger lassen?

„Für die klassischen Industriewerte wie Siemens und den Automobilsektor dürften sich die Gewinnperspektiven eingetrübt haben, aus der Chemiebranche sind unter anderem wegen der Energieversorgungssituation extrem negative Szenarien zu hören“, erklärt Klude. „Zu den Verlierern gehören aber auch die Banken, von denen viele bis zum Krieg Russland-Geschäfte gemacht haben, die nun aber auch mit geringeren Dividendeneinnahmen aus Aktienbeständen rechnen müssen.“

Wie ist es Hamburger Aktien ergangen?

Der HASPAX, der Index der Titel aus der Metropolregion Hamburg, hat seit dem 23. Februar um gut neun Prozent zugelegt. Es sind vor allem zwei Firmen, die für diese gute Entwicklung sorgten: Aktien des Wind- und Solarparkbetreibers Encavis haben sich um rund 58 Prozent verteuert – wohl auch eine Folge der Diskussion um eine größere Energie-Unabhängigkeit Europas von Russland –, und Anteilsscheine der Reederei Hapag-Lloyd (plus 29,5 Prozent) profitieren noch immer von den hohen Preisen für Seetransporte. Auf der anderen Seite leidet der Gabelstaplerbauer Jungheinrich unter den sehr stark gestiegenen Stahlkosten, die Aktie hat zuletzt um 23 Prozent nachgegeben. Eher hausgemacht ist dagegen der deutliche Kursrückgang (minus 24 Prozent) des Immobilienunternehmens Alstria Office: Trotz guter Entwicklung des Tagesgeschäfts hat man beschlossen, die Dividende drastisch zu verringern.

Wie entwickeln sich Rüstungstitel?

Wenig überraschend zeigt die gesamte Branche in den vergangenen Wochen eine überdurchschnittliche Kursentwicklung, wobei sich die Werte des Panzerbauers Rheinmetall und des süddeutschen Sensor-Spezialisten Hensoldt gar mehr als verdoppelt haben. Allerdings richten sich große Investoren wie Fondshäuser zunehmend an Nachhaltigkeitsstandards aus, die Rüstungsfirmen in der Regel ausschließen. „Für viele Anleger ist das ein Problem“, sagt Klude, „auch wir haben keine Rüstungstitel in unseren Portfolios.“

Schimmer merkt dazu an: „Es wird in diesen Tagen viel von einer Zeitenwende gesprochen – und in diesem Rahmen wird auch der Rüstungssektor neu bewertet. Ist ein Investment in ein Unternehmen, das dazu beiträgt, unsere Grundordnung zu verteidigen, ethisch unkorrekt?“ Die Diskussion darüber hat gerade erst begonnen. Sie mache aber noch einmal die generelle Schwierigkeit deutlich, „dass es eben bis heute keine eindeutige Definition für Nachhaltigkeit gibt“, so Klude: „In Deutschland hält man Kernkraftwerke eher nicht für nachhaltig, in etlichen anderen Ländern wegen des Klimaaspekts aber schon.“

Sollte man jetzt auf asiatische oder amerikanische Titel ausweichen?

Haspa-Anlagestratege Schimmer hat dazu eine klare Meinung: „Wir empfehlen, stärker auf US-Titel zu setzen.“ Auch bei M.M. Warburg hat man US-Aktien „deutlich übergewichtet“. Die dortigen Unternehmen seien in der Regel weniger stark in den Russland-Handel eingebunden, sagt Klude, „und schließlich findet der Krieg in Europa statt.“ Im Hinblick auf Titel aus Asien – und ganz allgemein aus Schwellenländern – ist Kludes Team hingegen eher vorsichtig, denn: „Dort haben zum Teil schon erhebliche Zinserhöhungen stattgefunden.“

Wie wirkt die Inflation auf die Börse und wie können Anleger profitieren?

„Die Kombination aus hoher Inflation und geringem Wachstum ist nicht gut für den Aktienmarkt – und in eine solche Situation rutschen wir gerade ein Stück weit hinein“, erklärt Schimmer: „Aber das ist immer noch besser als Deflation oder eine Rezession.“ Der sehr kräftige Preisauftrieb ist nach Auffassung von Schimmer sogar einer der Gründe, weshalb sich die Börse trotz der schlimmen Nachrichten vergleichsweise gut hält: „So grausam dieser Krieg auch ist – angesichts der hohen Inflationsraten erscheinen Aktien immer noch attraktiver als Anleihen. Als Anteilseigner eines Unternehmens kann man mit der Inflation eben besser umgehen als mit festverzinslichen Papieren.“

Dabei werden die Verbraucherpreise eher noch weiter steigen, glaubt Klude: „Geht man unter anderem von den Ankündigungen der Lebensmitteldiscounter über Preiserhöhungen aus, dürften wir in den nächsten Monaten Inflationsraten von acht Prozent oder sogar darüber sehen.“ Als Gegengewicht gegen die immer höheren Teuerungsraten empfiehlt sich für Anleger laut Klude ein kleiner Korb von Öl- und Gaswerten, denn deren Kurse legen bei steigenden Energiepreisen zu: „Ebenso geeignet dürften Aktien von Rohstoffförderern wie Rio Tinto oder Glencore sein – wenn man das mit seinen Nachhaltigkeitsstandards vereinbaren kann.“ Auch Schimmer rät für diesen Zweck zu Aktien von „ethisch vertretbaren Minenbetreibern“ sowie – ganz klassisch – zu Gold in physischer Form als Beimischung.

Wann steigen die Leitzinsen wegen des starken Preisauftriebs?

Die US-Notenbank Fed hat Mitte März schon gehandelt: Erstmals seit 2018 gab es eine Leitzinserhöhung – um 0,25 Prozentpunkte in die Bandbreite von 0,25 bis 0,5 Prozent. „In den USA wird man in den nächsten zwei Jahren auf einen Leitzins von 2,5 Prozent zugehen“, erwartet Schimmer. In Frankfurt bei der Europäischen Zentralbank (EZB) sei man aber noch längst nicht so weit: „Die EZB wird versuchen, innerhalb der kommenden zwölf Monate wenigstens schon einmal den Einlagenzinssatz von derzeit minus 0,5 Prozent auf null zu bringen“ – damit könnten dann immerhin auch die Banken von den bei allen Sparern verhassten Negativzinsen wieder abrücken.

„Die EZB windet sich wie ein Aal“, sagt Klude zur europäischen Zinspolitik: „Dort weiß man, dass für manche Euro-Länder die Finanzierbarkeit der Staatsschulden bei spürbar höheren Zinsen zum Problem werden könnte. Den eigentlichen Leitzins wird man in diesem Jahr wohl noch nicht antasten.“

Wie geht es am Aktienmarkt weiter?

„Das Potenzial für steigende Kurse ist jetzt wahrscheinlich erst mal nahezu ausgeschöpft“, glaubt Klude: „Wir gehörten für 2022 zunächst mit einer DAX-Jahresendprognose von 18.000 Punkten zu den optimistischsten Analysten. Nun gehen wir davon aus, dass wir uns in Richtung 15.000 Zähler bewegen.“

Die Experten bei der Haspa erwarten laut Schimmer angesichts der vielen Unsicherheiten einen DAX-Jahresendstand innerhalb der breiten Spanne von 12.000 bis 16.000 Punkten, peilen auf Basis der Erfahrungen mit früheren Krisen aber ebenfalls etwa 15.000 Punkte an.