Hamburg. Seltenes Interview: Michael Otto spricht über die Folgen von Corona, notwendigen Umweltschutz, die hohe Inflation und den Mindestlohn.
Michael Otto begrüßt das Abendblatt vor Ort, in seinem Büro auf dem Gelände der Otto Group, deren Aufsichtsrat er vorsteht – selbstverständlich unter strengsten Hygienevorschriften. Das Interview mit dem 78-jährigen Hamburger Ehrenbürger, der auch Mitgründer der Initiative KlimaWirtschaft (früher: Stiftung 2 Grad) ist, wird zu einer Tour d’Horizon über die Pandemie, den Klimawandel und die ökonomischen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft – viele Denkanstöße inklusive.
Hamburger Abendblatt: Die wichtigste Frage in diesen Zeiten vorweg: Geht es Ihnen gesundheitlich gut?
Michael Otto: Ja, sehr gut. Danke der Nachfrage.
Sind Sie noch viel im Homeoffice?
Otto: Ja, aber ich bin auch häufiger im Büro, bespreche mit meiner Assistentin die Post oder nehme von hier aus an Videokonferenzen oder Hybridveranstaltungen teil.
Auch wenn Sie den Begriff nicht mögen: Sie sind mit der Otto Group durchaus ein Gewinner der Pandemie. Die Menschen kaufen online, gehen weniger in stationäre Geschäfte. Bereitet Ihnen die Zukunft der Innenstädte mit Blick auf diese Entwicklung Sorgen? Droht eine Verödung der Zentren?
Otto: Wir als Otto Group haben in der Tat eine erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen. Nun zahlt sich aus, dass wir sehr früh in die Digitalisierung investiert haben und uns von einem klassischen Versender zu einem Onlinehändler und Plattformanbieter gewandelt haben. Zur Wahrheit gehört, dass bereits vor der Pandemie die Zahl der Käufer in den Innenstädten zurückgegangen ist. Das liegt auch daran, dass wegen der sehr hohen Ladenmieten dort nahezu die immer gleichen großen Filialisten anzutreffen sind. Deutschlands Innenstädte sind nahezu austauschbar. Es gibt dort so gut wie keine kleinen, individuellen Läden mehr – und das ist nicht erst seit der Pandemie so.
Was kann man dagegen tun?
Otto: Man muss die Innenstädte neu denken, sie vielfältiger machen. In die Zentren gehören kleine Manufakturen, besondere kulturelle und gastronomische Angebote, aber auch Lebensmittelgeschäfte. Zudem sollte in den Innenstädten mehr Wohnraum entstehen – vergleichbar mit einer italienischen Piazza: Die Menschen gehen vor die Haustür, können in der Nähe einen Cappuccino trinken oder für den täglichen Bedarf einkaufen. Darüber hinaus muss der stationäre Handel deutlich digitaler werden. Die Kunden sollten selbst entscheiden, ob sie in einem Geschäft stöbern, sich ein ganz spezielles Produkt online in einen Laden ordern oder direkt nach Hause liefern lassen wollen. Vermieter, Mieter und Stadtplaner müssen sich zusammensetzen und neue Konzepte entwickeln. Denn nach der Pandemie werden auch viele Büroflächen leer stehen, weil die Beschäftigten im Homeoffice bleiben. Dort könnten neue Wohnungen entstehen.
Homeoffice führt zu deutlich weniger direkten persönlichen Kontakten, es gibt einen Trend zum Leben auf Distanz – wird der Mensch so nicht zu einem asozialen Wesen?
Otto: Nein, das sehe ich nicht. Ich glaube, der Mensch ist vom Grundsatz her ein soziales Wesen. Und ich höre von vielen, dass sie im Homeoffice endlich mehr Zeit für die Familie haben – diese Form der Arbeit kann also Zusammenhalt fördern. Dennoch sollten Unternehmen nicht ausschließlich auf Homeoffice setzen. So freuen sich zum Beispiel auch unsere Beschäftigten, wenn sie mal wieder ihre Kolleginnen und Kollegen treffen. Und klar ist: Kreative, strategische Diskussionen, Brainstorming – das funktioniert nur in Präsenz gut. Bei der Otto Group werden wir deshalb ein gemischtes Modell bevorzugen. Denn eine Unternehmenskultur kann man allein mit Homeoffice nicht aufrechterhalten.
Wie soll die Regelung bei der Otto Group genau aussehen?
Otto: Nach der Pandemie sollten die Beschäftigten im Grundsatz mindestens zwei Tage pro Woche im Unternehmen sein. Aber die genauen Entscheidungen werden in den einzelnen Bereichen getroffen. So können unsere IT-Beschäftigten sicherlich eher als andere von zu Hause arbeiten. Dass ist für Einkäufer, die sich Ware anschauen müssen, deutlich komplizierter.
Sind Sie für eine Impfpflicht?
Otto: Wenn die neuen verschärften 2G-Regeln nicht zu einer deutlich höheren Impfquote führen, dann halte ich eine Impfpflicht für notwendig. Es kann nicht sein, dass die große Mehrheit der Gesellschaft dauerhaft darunter leidet, dass sich ein kleiner Teil nicht impfen lassen will. Wir werden diese Pandemie nur hinter uns lassen, wenn wir eine deutlich höhere Impfquote erreichen.
Hat es Sie überrascht, dass es hierzulande so viele Impfgegner gibt?
Otto: Das hat mich tatsächlich überrascht.
Worauf führen Sie das zurück?
Otto: Die Deutschen sind grundsätzlich eher kritisch, sind selten zufrieden. Das hat auf der anderen Seite dazu geführt, dass wir ein Volk der Erfinder sind, um Dinge zu verbessern. Das liegt sicherlich an unserer Kultur. Mir fallen diese Unterschiede besonders deutlich auf, wenn ich auf einer meiner vielen Reisen in Afrika bin. Dort herrscht oft Armut, es finden Bürgerkriege statt, es gibt viele Krankheiten – aber die Menschen tragen dennoch eine große Fröhlichkeit in sich. Wenn ich dann zurück nach Deutschland komme, frage ich mich oft, worüber sich viele Menschen hierzulande aufregen, was sie kritisieren. Das zeigt sich jetzt auch bei den Impfungen.
Müsste es nicht eine weltweite Aktion gegen die Pandemie und für das Impfen geben?
Otto: Ja, darauf weist auch die Weltgesundheitsbehörde hin. Wir müssen den Entwicklungsländern ausreichend Impfstoff zur Verfügung stellen, sonst gibt es immer wieder Mutanten – und wir werden die Pandemie niemals hinter uns lassen können. Bei den Impfungen wird noch zu sehr in nationalen Grenzen gedacht.
Kommen wir nach Corona zum zweiten wichtigen Thema weltweit: dem Klimaschutz. Wie beurteilen Sie die Beschlüsse der UN-Klimakonferenz in Glasgow?
Otto: Aus meiner Sicht machen solche Konferenzen auf jeden Fall Sinn. Wann gibt es sonst die Chance, dass rund 200 Nationen zusammenkommen und sich mit einem so wichtigen Thema wie dem Klimaschutz befassen? Und auch die Tatsache, dass die NGOs dort gehört und deren Meinungen über die Medien weltweit verbreitet werden, halte ich für wichtig. Das Ergebnis der Konferenz ist allerdings nicht ausreichend. Positiv kann man herausheben, dass sich die Länder zum 1,5-Grad-Ziel bekannt haben und dass viele Staaten Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 anstreben.
China und Indien aber nicht …
Otto: Ich bin davon überzeugt, dass zumindest China hier noch nachbessern wird. Sehr bedauerlich ist aber, dass der Kohleausstieg viel zu weich formuliert worden ist. Und es wäre darüber hinaus wichtig gewesen, den Emissionshandel weltweit stärker auf die Tagesordnung zu setzen. Hier hätte ich mir intensivere Diskussionen mit China gewünscht, das bereits in zahlreichen Provinzen einen Emissionshandel betreibt.
Blicken wir auf Deutschland: Sind die Ziele der neuen Bundesregierung mit Blick auf den Klimaschutz ambitioniert genug?
Otto: Im Koalitionsvertrag werden zumindest alle wichtigen Bereiche des Klimaschutzes angesprochen. Ich finde es gut, dass bis 2030 immerhin 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen sollen und dass die Regierung früher aus der Kohleverbrennung aussteigen möchte. Begrüßenswert ist auch, dass der CO2-Preis das zentrale Steuerungselement beim Klimaschutz wird, dass die Genehmigungsverfahren zum Ausbau erneuerbarer Energien vereinfacht werden und die Regierung die Energieeffizienz der Gebäude deutlich vorantreiben will. An manchen Stellen hätte ich mir aber konkretere Formulierungen gewünscht. Auch bleibt bei vielen vorgeschlagenen Maßnahmen die Finanzierung offen. Zudem hätte ich es begrüßt, wenn es ein Programm für die ersten 100 Tage gegeben hätte, sodass die Bevölkerung sofort überprüfen kann, ob sich etwas bewegt. Und ich muss leider feststellen, dass das Klimaschutzgesetz der alten Regierung weichgespült wurde. Nun ist nur noch die Rede von einem jährlichen Monitoring und dass man mehrjährig überprüft, ob Ziele erreicht werden. Aber was passiert, wenn Vorgaben nicht eingehalten werden? Das bleibt offen.
Hohe Energiepreise, Vorgaben für private Klimaschutzmaßnahmen – wird der Durchschnittsbürger finanziell nicht überlastet?
Otto: Es muss definitiv einen sozialen Ausgleich geben. So hätte man die EEG-Umlage durchaus früher als nun im Koalitionsvertrag vereinbart streichen sollen - und auch die Stromsteuer könnte man zur Entlastung der Bürger zum Teil oder ganz abschaffen. Im Gegenzug gibt es ja die CO2-Bepreisung. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass die Öl- und Benzinpreise wieder deutlich sinken werden. Dann wird auch Heizen und Autofahren günstiger. Sollten sich die hohen Energiekosten allerdings verstetigen, muss man über ein staatliches Bürgergeld nachdenken, mit dem die Betroffenen entlastet werden.
Wäre es nicht eine Option, um günstigen Strom zumindest für eine Übergangszeit zu garantieren, die Atomkraftwerke hierzulande länger am Netz zu lassen?
Otto: Deutschland sollte nicht wieder auf Atomkraft setzen, schließlich haben wir immer noch keine Lösung für die Entsorgung des Atommülls. Allerdings sollten wir aus meiner Sicht die Forschung der Kernfusion vorantreiben. Hier hat es in den USA erst vor Kurzem einen ersten Durchbruch gegeben.
Von den Klimaschutzmaßnahmen wird eine letzte funktionierende Industrie in Deutschland schwer getroffen: die Autoindustrie. Komplizierte Verbrenner-Technologie wird durch simple Elektroantriebe, die leicht zu kopieren sind, ersetzt. Geben wir hier nicht zu leicht einen Industriezweig preis?
Otto: Der größte Fehler wäre es, nichts zu tun. Die deutsche Autoindustrie hat die Elektromobilität in der Vergangenheit leider ein wenig verschlafen. Doch ich bin zuversichtlich, dass sie mit dem aktuellen Tempo Rückstände auf andere Hersteller im Ausland aufholen kann. Selbstverständlich wird dieser Transformationsprozess nicht ohne den Verlust von Arbeitsplätzen stattfinden. Aber dafür entstehen in anderen Bereichen neue Stellen – ob in der Batterie-, Sensortechnologie oder der Chip-Produktion. Es muss viel Wert auf Umschulungen und Weiterbildungen gelegt werden, um Beschäftigte der Autohersteller und -zulieferer fit für neue Aufgaben zu machen. Das ist eine große Herausforderung.
Nun sind die politischen Ziele für die Elektromobilität sehr ehrgeizig, aber was ist mit den Ladesäulen?
Otto: Den Ausbau der Elektro-Ladesäulen hat die deutsche Politik verschlafen. Es reicht nicht, die Elektromobilität nur zu propagieren und sich dann nicht um die Infrastruktur zu kümmern.
Deutschland befindet sich in einer Stagflation – die Wirtschaft wächst nicht mehr, die Inflation ist hoch. Ein Grund für die gestiegenen Preise sind Lieferengpässe. Ist die Otto Group davon betroffen?
Otto: Auch wir haben bei einzelnen Produkten Lieferengpässe – zum Beispiel bei elektronischen Spielekonsolen. Aber insgesamt zahlt sich nun aus, dass wir sehr langfristige und partnerschaftliche Verträge mit unseren Lieferanten geschlossen haben. So werden wir aktuell bei Lieferungen durchaus bevorzugt behandelt.
Wann erwarten Sie, dass die Phase der Lieferengpässe überwunden sein wird?
Otto: Ich denke, dass sich die Situation auf den Weltmärkten bereits im ersten Halbjahr 2022 entspannen wird. Allerdings hängt viel von der Pandemie-Entwicklung ab. Die Logistikketten sind so eng miteinander verwoben, da müssen nur wenige Hafenarbeiter mit Corona infiziert sein, schon steht ein kompletter Hafen in China still, und Tausende Container können nicht verladen werden.
Bereitet Ihnen die hohe Inflation Sorgen?
Otto: Ja. Ich stelle mir vor allem die Frage, inwieweit sich diese Inflationsraten verstetigen. Sicherlich haben wir Sondereffekte wie die Lieferengpässe, die gestiegenen Energiekosten und die Rückkehr zum alten Mehrwertsteuersatz. Aber auch ohne diese Effekte ist die Inflation zu hoch. Da kann ich es nicht verstehen, dass die Europäische Zentralbank so stur an ihrer ultralockeren Geldpolitik mit Minuszins und Anleihe-Aufkäufen festhält. Ich glaube nicht daran, dass wir 2022 wieder die gewünschte Preisstabilität erreichen werden. Ohnehin finde ich es inakzeptabel, dass Kunden Banken für ihr Erspartes Zinsen bezahlen müssen. Das darf nicht sein und ist ökonomisch ungesund. Damit wird Verschuldung gefördert, nicht nur von Privatpersonen, sondern auch von Unternehmen und Staaten. So bleiben ungesunde Firmen zu lange am Markt, und Regierungen haben kein Interesse, Schuldenberge abzubauen. Zum Teil bekommen die Länder sogar Geld, wenn sie Anleihen ausgeben.
Waren die Staatshilfen für Unternehmen hierzulande während der Pandemie nicht zu großzügig? Irgendwann muss dieses Geld vom Staat, also vom Steuerzahler, wieder zurückgezahlt werden.
Otto: Die Hilfen waren notwendig, aber auch großzügig. Deutschland hat hier mehr getan als fast alle anderen Länder. Das muss die Wirtschaft ohne Frage anerkennen. Das Gute ist: Deutschland konnte es sich auch leisten, weil wir nach der Finanzkrise die Wirtschaft belebt und zugleich Schulden abgebaut haben. Da stehen andere Staaten in Europa wesentlich schlechter da. Nach der Pandemie sollten wir den gleichen Weg wie nach der Finanzkrise einschlagen. Die Wirtschaft benötigt wieder Wachstumsimpulse. Dabei kann uns der Kampf gegen den Klimawandel helfen. Unser Land sollte zum Vorreiter für neue, nachhaltige Produkte und Dienstleistungen werden und diese exportieren. Der Klimawandel ist eine große Chance zur Modernisierung unserer Wirtschaft.
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Viele Firmen klagen über Fachkräftemangel. Ist das bei der Otto Group ein Problem?
Otto: Wir sind beim Personal grundsätzlich sehr gut aufgestellt. Junge Fachkräfte kommen zu uns, weil sie sehen, dass wir bei der Digitalisierung sehr fortgeschritten sind, und weil sie sich mit unseren Unternehmenswerten identifizieren. Dennoch würden auch wir noch mehr qualifizierte IT-Kräfte einstellen.
Wie kann man den Mangel beheben?
Otto: Bildung, Bildung, Bildung! Das fängt in den Schulen an. Viele Absolventen der 9. Klasse haben nicht die Qualifikation, um in der Berufsschule mithalten zu können. Wir müssen in die Bildung investieren, brauchen mehr Lehrerinnen und Lehrer, damit in den Ganztagsschulen nachmittags gerade für die schwächeren Schüler qualifizierte Nachhilfe stattfindet. Ausbildungsplätze haben wir genug, aber es fehlen die passenden Bewerber.
Reicht das aus?
Otto: Zudem sollten wir junge Frauen noch stärker in den MINT-Fächern fördern. Sie sind leider immer noch in den technischen Berufen unterrepräsentiert. Und die Firmen müssen das lebenslange Lernen stärker vorantreiben, indem sie Weiterbildungen konsequent anbieten und einfordern. Bei der Otto Group muss sich jeder Beschäftigte digital weiterbilden. Dafür gibt es sogenannte E-Learning-Module. 20.000 Beschäftigte haben diese bereits in Anspruch genommen. Und Deutschland braucht endlich eine gezielte Einwanderungspolitik, sodass wir genau die Experten ins Land holen, die unsere Wirtschaft benötigt.
Ab 2023 gilt ein Mindestlohn von zwölf Euro in der Stunde – ein sinnvolles Gesetz?
Otto: Bei der Otto Group haben wir damit kein Problem, weil wir in dieser Größenordnung bereits mindestens entlohnen. Ich halte es auch grundsätzlich für richtig, die Mindestlöhne anzuheben. Allerdings ist es ein Fehler, dass die Politik nun der Meinung ist, Löhne allein festlegen zu können. Sie greift damit in zahlreiche Tarifverträge ein. Zudem gibt es in Deutschland eine Mindestlohnkommission, in der Arbeitgeber, Gewerkschafter und Wissenschaftler sitzen, die eigentlich für dieses Thema zuständig ist. Die zwölf Euro Mindestlohn waren am Ende nicht mehr als ein Wahlgeschenk. Und es zeichnet sich doch jetzt schon ab, dass bei der nächsten Wahl die nächste Erhöhung versprochen wird – obwohl das eigentlich nicht Sache der Regierung ist.