Hamburg. Caroline Schoeniger arbeitet als Medizinisch-Taktile Untersucherin in der Brustkrebsvorsorge. Ihr Handicap macht sie zur Expertin.

Ihr feines Gespür kann Leben retten. Wenn Caroline Schoeniger ihre Patientinnen untersucht, sind ihre Hände ihr wichtigstes Arbeitsmittel. Die Hamburgerin ist stark sehbehindert, verliert von Jahr zu Jahr mehr Augenlicht. Dafür kann sie kleinste Dinge auch im Verborgenen erspüren.

„Ich habe meinen Tastsinn mit den Jahren immer weiter ausgebildet“, sagt die 59-Jährige. Das ist etwas, dass andere Menschen nicht können. Trotzdem war ihr ausgeprägtes Fingerspitzengefühl lange nicht mehr als ein Mittel, um sich in der Welt der Sehenden zu behelfen. Inzwischen hilft sie anderen. Caroline Schoeniger arbeitet in der Brustkrebs-Früherkennung, ist darauf spezialisiert, winzig kleine Gewebeveränderungen zu finden. Als sogenannte Medizinisch-Taktile Untersucherin ist ihr Handicap quasi Berufsvoraussetzung.

Caroline Schoeniger ist fast blind, aber Expertin in ihrem Job

Für Menschen mit einer schweren Behinderung ist es trotz staatlicher Quoten-Reglungen meistens sehr schwierig, einen passenden Arbeitsplatz zu finden (siehe unten). Auch bei Caroline Schoeniger sah es nicht gut aus. Sie leidet an einer Erbkrankheit, ist von Geburt an extrem kurzsichtig. Vor 20 Jahren wurde zudem auf beiden Augen Grüner Star, ein sogenanntes Glaukom, diagnostiziert. Ihr Sehvermögen schwankt stark, vor allem abends sieht alles nur noch wie durch einen Nebel.

Auch mehrere Augen-Operationen konnten daran nichts ändern. Niemand weiß, wie sich die Krankheit entwickelt und ob sie im schlimmsten Fall zur vollständigen Erblindung führt. Schon vor Jahren war klar, dass sie ihre Arbeit als Grafikerin nicht mehr länger ausüben kann. Aber statt aufzugeben, machte Caroline Schoeniger sich auf die Suche nach einer Alternative. So erfuhr sie von dem Sozialunternehmen Discovering Hands in Mühlheim, das das neue Berufsbild der Medizinisch-Taktilen Untersucherin – kurz MTU – entwickelt hat.

Seit drei Jahren bei Discovering Hands beschäftigt

Das ist inzwischen vier Jahre her. „Ich wusste sofort, dass es das Richtige für mich ist“, sagt die Mutter eines erwachsenen Sohns. Ein Umschulung zur Telefonistin, die ihr unter anderem vorgeschlagen worden war, kam für sie nicht Frage. „Ein medizinischer Beruf hat mich schon immer gereizt.“ Als zweite Hamburgerin absolvierte sie die neunmonatige Intensivausbildung. Nach dem erfolgreichen Abschluss ist sie inzwischen seit drei Jahren bei Discovering Hands beschäftigt und in drei Gynäkologie-Praxen in der Innenstadt, in St. Georg und in Bergedorf im Einsatz.

Mehrere hundert Brüste von Cup-Größe A bis Doppel E hat sie inzwischen untersucht, dazu Lymphbahnen und -knoten an Hals, Brustbein und Achseln. Brustkrebs ist immer noch die am häufigsten diagnostizierte Krebsart bei Frauen. Jedes Jahr erkranken 70.000 Frauen, bei 18.000 verläuft die Krankheit tödlich. Aber wenn die Tumore früh erkannt werden, sind die Behandlungsmöglichkeiten und auch die Heilungschancen sehr gut.

Schoeniger fühlt schon erbsengroße Knötchen

Und hier kommt das feine Gespür von Caroline Schoeniger ins Spiel. An diesem Novembertag steht sie in einem Behandlungszimmer der Frauenärzte Gert Müller-Möhring und Britta Heeren an der Bleichenbrücke in der Neustadt. Die Medizinsch-Taktile Untersucherin streicht über das weiße Tuch auf der Behandlungsliege. Auf dem Laptop hat sie das Anamneseprotokoll geöffnet und auf den größten Zoom gestellt.

Daneben liegen Klebestreifen mit rot-weißen Kästchen, die mit Braille-Schrift versehen sind. Die wird sie ihrer ersten Patientin des Tages nach dem Einführungsgespräch auf die Brust kleben – als Hilfsmittel, damit sie sich Stück für Stück vorarbeiten kann und keinen Zentimeter auslässt. „Wir können 50 Prozent kleinere und 30 mehr Gewebeveränderungen ertasten als Ärzte“, sagt Caroline Schoeniger. Während die Mediziner bei Routineuntersuchungen Tumore zumeist erst ab einem Durchmesser von ein bis zwei Zentimetern finden, fühlt sie schon erbsengroße Knötchen mit einer Größe von gerade mal fünf bis sechs Millimetern.

Untersucherinnen können zur Senkung der Sterblichkeit beitragen

Genauigkeit und Sorgfalt sind entscheidend bei der etwa einstündigen Untersuchung. Bei einer guten Freundin hat sie erlebt, dass es tödlich enden kann, wenn der Tumor zu spät entdeckt wird und schon gestreut hat. „Ich bin auf der Suche, aber ich will eigentlich gar nichts finden“, sagt Caroline Schoeniger. Tatsächlich kommt es sehr selten vor, dass sie etwas Auffälliges ertastet. Nicht immer ist es Brustkrebs. Wenn doch, war ihr Fingerspitzengefühl möglicherweise die Rettung. So wie bei einer 52-Jährigen, die lange nicht bei der Krebsvorsorge gewesen vor. Im letzten Abschnitt der Brustuntersuchung hatte die Medizinisch-Taktile Untersucherin eine Verhärtung gefunden. „Bei der Untersuchung durch die Ärztin direkt im Anschluss, stellte sich raus, dass es ein Mammakarzinom war“, sagt sie.

„Für die Patientinnen ist es eine zusätzliche Sicherheit und eine sinnvolle Ergänzung“, sagt auch Gynäkologe Gert Müller-Möhring, der die Untersuchungsmethode seit zwei Jahren in seinen Praxisräumen anbietet. Mit der Untersuchung würden auch Frauen erreicht, die andere Früherkennungsmethoden skeptisch sähen oder mieden. „Ziel ist es, Brustkrebs früh zu erkennen, weil die Heilungschancen dann deutlich höher sind.“

Eine Studie der Universität Erlangen, zu der ein großes Brustkrebszentrum gehört, hat vor einigen Jahren bestätigt, dass die Untersucherinnen zur Senkung der Sterblichkeit beitragen können und zudem die Kostenbelastung im Gesundheitssystem mindern. Allerdings ist das Angebot im Norden noch sehr gering. Gerade mal in fünf Praxen in Hamburg werden die Tast-Untersuchungen angeboten. Aktuell sind zwei Medizinisch-Taktile Untersucherinnen im Einsatz. Eine dritte fängt Anfang Dezember nach der Elternzeit wieder an. Insgesamt hat Discovering Hands bundesweit gut 50 MTUs im Einsatz und kooperiert mit mehr als 100 Frauenarzt-Praxen.

Brustkrebs: Wenige Krankenkassen bezahlen die Untersuchung

Flächendeckend ist das Angebot noch nicht. Annemarie Goldmann kommt extra aus Lüneburg, um sich von Caroline Schoeniger abtasten zu lassen. „Ich habe das Gefühl, in guten Händen zu sein“, sagt die 66-Jährige, die die Untersuchungsmethode angenehmer findet als eine Mammografie. Auch sie hat bereits erlebt, dass im Familienkreis jemand an Brustkrebs gestorben ist. Seit mehreren Jahren kommt sie einmal im Jahr. Die Medizinstudentin Caroline Märten ist aus Lübeck zur Untersuchung nach Hamburg gereist. „Ich hatte das Gefühl, dass ein Knötchen in der Brust getastet zu haben. Aber meine Frauenärztin hat mich nicht ernst genommen“, sagt die 25-Jährige, deren beide Großmütter an Brustkrebs gestorben sind.

Beide Patientinnen sind nach der Untersuchung erleichtert nach Hause gefahren. Caroline Schoeniger hat nichts Auffälliges getastet. Die Kosten in Höhe von knapp 60 Euro mussten die beiden Frauen aus eigener Tasche bezahlen. „Das war es mir wert“, sagt Caroline Märten. Bislang bieten erst 29 gesetzliche sowie alle privaten Krankenkassen die Kostenübernahme an. Große Versicherungsträger wie die Techniker Krankenkasse, die AOK Rheinland/Hamburg oder die DAK sind nicht darunter.

Dass sie trotz ihr Schwerbehinderung im Beruf ihre Frau steht, ist für Carolin Schoeniger eine starke Motivation. Der Verdienst der Untersucherinnen liegt zwischen 1800 und 2200 Euro etwa auf dem Niveau von Arzthelferinnen. Noch wichtiger ist der Medizinisch-Taktilen-Untersucherin aber etwas anderes. „Ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Arbeit etwas bewirken kann“, sagt sie. Ihr früherer Beruf als Grafikerin habe Spaß gemacht. „Aber jetzt tue etwas Sinnhaftes.“