Hamburg. Das von der HAW beim ITS-Weltkongress präsentierte Projekt hilft sehbehinderten Menschen. So funktioniert der clevere Vierbeiner.

Mein kleiner Lotse hat eindeutig einen Linksdrall. Leise surrend zieht er mich durch die Gänge der Messehalle langsam hinter sich her. Um mich herum schwarze Nacht. Ich habe die Augen fest geschlossen, um mich völlig auf meinen Führer zu verlassen. Plötzlich bleibt er unerwartet stehen. Direkt vor der Stufe zu einem Messestand.

„Da hat er jetzt eine Kurve gemacht“, sagt Lutz Leutelt, nimmt mir das Gerät aus der Hand und beginnt an der Technik herumzufummeln. Leutelt ist Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg, und was er da in Händen hält ist ein Entwicklungsprojekt seiner Studierenden, ein elektronischer Blindenführhund.

Digitaler Blindenhund bellt nicht, pinkelt nicht und wedelt nicht

Er bellt nicht, pinkelt nicht gegen Bäume und hat keinen Schwanz zum Wedeln. Aber er soll einmal das können, was lebendige Blindenhunde auch vermögen: Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sicher an ihr Ziel bringen. Sein Wirkungskreis soll aber viel größer sein: Während ausgebildete Blindenführhunde nur auf bestimmten Strecken, die sie intensiveingeübt haben, einsetzbar sind, soll das elektronische Pendant, seinen „Haltern“ überall zur Seite stehen, auch auf Reisen in fremden Regionen.

Beim Weltkongress für Intelligente Transportsysteme (ITS) gibt es viele spektakuläre Dinge zu bewundern: Fliegende Lastendrohnen, automatisch fahrende S-Bahn-Züge, Parkhäuser der Zukunft, die das Einparken selbst erledigen sollen. Komplettiert wird das Programm aber durch Hunderte kleinere Projekte. Die Planer der Veranstaltung haben auch Jugendlichen und Studierenden aus der Metropolregion Hamburg eine eigene Plattform gegeben, auf der sie ihre Ideen von einer digitalen Mobilitätszukunft präsentieren können – etwa diesen digitalen Blindenführhund.

HAW-Studierende forschen seit drei Jahren am Blindenhund

Ilona Bühlmann, Denise Wendlandt und Max Fischer – allesamt Studierende der HAW – führen ihn gerade vor. Mit einem echten Hund hat das Gerät zunächst einmal nicht viel gemein. Es sieht eher aus wie ein Staubsauger. „Das war auch mal ein Staubsauger“, verrät Bühlmann. Wir haben in ausgehöhlt, und für unsere Zwecke umgebaut.“ Die Technik darin ist kompliziert, soll am Ende aber einfach zu bedienen sein.

Die Steuerung erfolgt über eine App auf einem normalen Smartphone. Wer auf einen Blindenführer angewiesen ist, spricht einfach sein Ziel hinein, beispielsweise „Edeka-Markt, Osterstraße 120“. Die auf dem Handy gespeicherte Karte sucht das Ziel und navigiert den elektronischen Blindenführhund mit seinem Nutzer dorthin.

Lasersensoren und Kamera sowie Handy-App steuern Hund

Der rollende Helfer verfügt über Lasersensoren und Kamera, um Hindernisse zu erkennen und ihnen auszuweichen. „Der Lasersensor muss Hindernisse erkennen und die Kamera sehen, was das ist“, erklärt Leutelt. „Handelt es sich beispielsweise um eine Menschenmenge. kann der Blinde die Leute ja bitten, zur Seite zu gehen. Steht er mit seinem elektronischen Führhund aber vor einer Baustelle, wird es schwieriger.“

Vorwärts bewegt sich der kleine Helfer mit zwei Rädern am vorderen Ende, die von Servomotoren angetrieben werden. Überhaupt die Motoren: Anfangs wurde dem elektronischen Blindenführhund noch der fahrbaren Untersatz eines ferngesteuerten Automodells druntergeschraubt. Aber die Motoren waren viel zu laut. „Wir haben gelernt, dass Blinde zur Orientierung extrem auf ihr Gehör angewiesen sind. Das ging mit den Motoren gar nicht“, sagt Max Fischer. Er hat als Bachelorarbeit eine Platine entwickelt, die das Kabelwirrwarr im inneren der Staubsaugerhülle ersetzen soll – mit einem Lautsprecheranschluss. „Der Blindenhund soll später einmal nicht nur erkennen, dass es vor einem Bus steht, sondern seinem Nutzer auch gleich mitteilen, auf welcher Linie er fährt.“ Von einem normalen Vierbeiner kann man das nicht erwarten.

Seit drei Jahren wird ernsthaft an dem elektronischen Blindenhund geforscht. Rund 25 Studierende haben im Rahmen einer Bachelor- oder Masterarbeit in der Ausbildung bei Leutelt zu einzelnen Fragestellungen an dem Projekt gearbeitet.

Digitaler Blindenführhund: Es geht um ein Millionenprojekt

Aber warum hat mich das Gerät beim Praxistest beinahe gegen einen Messestand laufen lassen? Antwort: „Eine Fehlfunktion.“ Denn auch das gehört zur Wahrheit: Das Entwicklungsprojekt an dem die Studierenden an der Hamburger Hochschule seit drei Jahren basteln und schrauben, ist meilenweit von einer Marktreife entfernt. „Schauen sie sich die autonom fahrenden Autos an. Von denen sollen die ersten 2025 Serienreife erlangen. Man darf aber nicht vergessen, dass Dekaden daran geforscht wurde“, sagt der Professor. So werde es auch noch fünf oder zehn Jahre dauern, den perfekten elektronischen Blindenführhund zu entwickeln. „Auch das muss klar sein: Fehlfunktionen dürfen dann nicht mehr vorkommen.“

Allerdings müsste sich dazu ein Technologiepartner aus der Wirtschaft des Projektes annehmen. „Da steckt jetzt Technik im Wert von 1000 Euro drin, die wir mit unseren einfachen Hilfsmitteln hergestellt haben“, sagt Leutelt. „Die Entwicklung zur Marktreife ist ein Millionenprojekt.“

Die Nachfrage wäre jedenfalls kein Problem: Gerade werden die Studierenden von einer Gruppe sehbehinderter Messebesucher umlagert, die den elektronischen Blindenführhund ausprobieren wollen. In Deutschland leben etwa 1,2 Millionen blinde oder stark sehbehinderte Menschen. Ein vierbeiniger ,ausgebildeter und zertifizierter Blindenführhund kostet 25.000 bis 30.000 Euro. 80 Prozent der Anträge werden von den Krankenkassen abgelehnt. Der „Electronic Guide Dog“ wird voraussichtlich nur etwa die Hälfte kosten. Knuddeln kann man ihn nicht. Aber wer trotz Sehbeeinträchtigung unabhängig sein möchte, erhält eine clevere Lösung.