Hamburg. Fertigung soll so hoch geschraubt werden wie nie. Lufthansa-Chef Spohr und Experte Großbongardt sind skeptisch.

Es sind ehrgeizige Pläne: Im Sommer 2023 will Airbus die Fertigungsrate für Flugzeuge der A320-Familie auf 65 Stück pro Monat hochfahren – so viele wie noch nie und die höchste Rate eines Modells in der Geschichte der zivilen Luftfahrt weltweit. Auf diesen Hochlauf fokussiere man sich, „um die weiterhin starke Nachfrage von Kunden zu decken“, sagt Vorstandschef Guillaume Faury Ende Oktober bei der Vorstellung der Neunmonatsbilanz. Perspektivisch sollen sich die Zulieferer sogar auf eine Rate von 75 vorbereiten.

Dieser Produktionshochlauf sorgt in der Branche für Diskussionen. Schließlich ist es erst eineinhalb Jahre her, dass die moderne Luftfahrt in ihre tiefste Krise rutschte. Das Coronavirus legte den Flugverkehr lahm. Tickets wurden kaum noch verkauft, Flugzeuge monatelang eingemottet. Airbus reduzierte den Bau seiner Jets im Frühjahr 2020 um ein Drittel. Von der A320-Familie, die zu mehr als der Hälfte von den rund 15.000 Beschäftigten auf Finkenwerder gebaut wird, verließen nur 40 statt zuvor 60 Maschinen im Monat die Werkshallen – und nun schon der Salto rückwärts?

A320-Familie: Airbus plant Rekordproduktion

Man sei „ein großer Fan von Airbus-Flugzeugen“, sagt Lufthansa-Vorstandschef Carsten Spohr vor Kurzem. „Aber ich muss sagen: Zu viel Kapazität hat dieser Branche schon immer geschadet.“ Dies betreffe die Qualität der Flugzeuge, die Zuverlässigkeit der Lieferungen von neuen Fliegern, die zu erzielende Ticketpreise und die Auslastung.

„Nicht zu übertreiben wäre für alle Beteiligten (…) mein Wunsch als größter Airbus-Kunde“, so Spohr. In Asien möge dies vielleicht anders aussehen, aber auf dem heimischen Markt in Europa brauche man keine Angebotserweiterung der Flugzeughersteller. Ihm sei wichtig, dass die Dinge nicht von einem Extrem ins andere liefen, „denn dann haben die Lieferketten große Probleme“.

„Wir managen mit einigen Zulieferern Verzögerungen“

Airbus verweist auf sein prall gefülltes Orderbuch. Ende Oktober waren 5617 bestellte Maschinen der A320-Familie noch zu fertigen. Selbst bei einer Fertigungsrate von 65 bedeutet das eine Vollauslastung der acht Endmontagelinien in Hamburg (vier), Toulouse (Frankreich, zwei) sowie Tianjin (China) und Mobile (USA, je eine) von mehr als sieben Jahren.

Dass es im Bereich Lieferketten Spannungen gebe, räumte auch Faury ein. „Wir managen mit einigen Zulieferern Verzögerungen“, sagt der Airbus-Chef. Insbesondere kleinere Zulieferer seien betroffen. Aber dies habe keinen Einfluss auf den Hochlauf der Produktionsraten. Bis Jahresende will er 600 Flieger an die Kunden ausliefern. Systemische Probleme sehe er nicht.

Airbus: Debatte um Klimaschutz könnte Verhalten verändern

Der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt sieht dies etwas differenzierter. Die Flugzeugproduktion mit ihren für den Einsatz in der Luft zertifizierten Produkten sei ein träges System. Die Zulieferer bräuchten ein halbes bis dreiviertel Jahr Vorlauf, um die Produktion rechtzeitig hochzufahren. Zwar hat Airbus diese Planungen bereits Ende Mai angekündigt, Zeit wäre also genug da gewesen. Aber: „Es gab bei den Zulieferern Zweifel, ob das für bare Münze genommen werden kann“, sagt Großbongardt.

Schließlich habe damals große Unsicherheit geherrscht, ob sich der Luftverkehr und die Nachfrage nach Flugzeugen wirklich erholt. Nun zieht das Geschäft wieder an – aber es kommt ein weiteres Problem hinzu. Die Branche rätselt, wie sich die Debatte um den Klimaschutz auswirkt. „Wir alle wissen noch nicht, wie die Nachhaltigkeitsdiskussion das Reiseverhalten in den nächsten Jahren verändert“, sagt Spohr.

Es droht eine Überproduktion bei Airbus

Von normalen Verhältnissen sei man weit entfernt, findet Großbongardt und nennt die Gründe: Das Geschäft im wichtigen Markt Asien ziehe nicht so stark an wie erhofft, die Öffnungen für Reisen liefen sehr vorsichtig, die Fluggesellschaften seien kräftig verschuldet. „Die im Sommer 2023 geplante Rate von 65 finde ich daher sehr hoch“, sagt der Luftfahrtexperte. Bei den diskutierten 75 A320-Fliegern pro Monat drohe aus seiner Sicht sogar eine Überproduktion.

Die Zulieferer in der Metropolregion würden sich über eine solche Rate freuen, sagt Nils Stoll, Vorstand von Hansa-Aerospace. Der Verein vertritt die Interessen von gut 150 Zulieferern und Dienstleistern der Luft- und Raumfahrtindustrie. Sowohl die Rate 65 im Sommer 2023 als auch perspektivisch die Rate 75 seien leistbar, sagt Stoll. „Einen Engpass in der Versorgung von Airbus mit Teilen aus Hamburg sehe ich nicht. Wenn ein Zulieferer ausfallen würde, stehen genug andere Firmen bereit, die in die Bresche springen.“

Airbus unterstützte die Zulieferer in der Krise

Die Betriebe in der Hansestadt sieht Stoll angesichts von eineinhalb Jahren Pandemie robust aufgestellt: „Die Situation der Zulieferer in Hamburg ist überraschend gut, viel besser als zu erwarten war.“ Das liege zum einen an Airbus, die in der Krise sehr verantwortungsvoll gehandelt und über den Marktbedürfnissen produziert hätten, um die Zulieferer zu unterstützen. Denn in den vergangenen 18 Monaten brauchte im Prinzip keine Airline neue Flugzeuge. Gebaut wurden sie trotzdem. Ohne die recht stabile Rate von 40 in der A320-Produktion wäre die Lage auf dem deutschen Zulieferermarkt deutlich schlechter.

Zu den größten Betrieben der Branche in Hamburg gehört Diehl Aviation. Es sei „ein gutes Signal“, dass Airbus die Produktionsraten wieder anziehen könne, sagte Sprecher Guido van Geenen. Wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen bereite man sich nun darauf vor, dass man den Produktionshochlauf bei der A320-Familie bewältigen werde. Nach einer Fast-Halbierung der Belegschaft beschäftigt das Unternehmen an der Elbe rund 580 Mitarbeiter. Diehl stellt in der Hansestadt vor allem Bordtoiletten für Airbus her, aber auch Module für die Kabinenausstattung.

Auch Airbus-Zulieferer bauten Personal ab

Allerdings gibt es auch für Diehl ein Problem. Denn die eigenen Zulieferer hätten in der Corona-Krise ebenfalls Personal abgebaut. „Nun gilt es, den Produktionshochlauf zusammen mit unseren Lieferanten zu meistern“, sagt van Geenen. In gezielten Bereichen müsse man beim Personal nachsteuern – im Klartext: neu einstellen. Das sei ebenso derzeit eine Aufgabe, die man annehmen müsse, wie Materialengpässe. Sie stellten „eine gewisse Herausforderung dar“, seien aber noch nicht so gravierend wie in anderen Branchen.

Die Lager seien leer, sagt Stoll über die Situation der Betriebe am weltweit drittgrößten Luftfahrtstandort. Das Auffüllen gestalte sich schwierig. „Wir hören, dass es ab und an ein bisschen knatscht“. Die Verfügbarkeit von mineralölbasierten Rohstoffen, die für die Kunststoffproduktion wichtig sind, sei schlechter als früher. Auch im Elektronikbereich gebe es Engpässe.

A320: „Der Produktionshochlauf wird gelingen"

Weil in der Luftfahrt meist langfristige Verträge abgeschlossen werden, könnte das in der Zukunft nach deren Auslaufen noch schlechter werden. „Es würde mich überraschen, wenn keine Lieferengpässe auftreten würden“, so Großbongardt. Grundsätzlich ist er aber positiv gestimmt: „Der Produktionshochlauf wird gelingen, aber nicht so schnell wie von Airbus gewünscht.“

Das Gelingen liegt auch an den staatlichen Hilfsmaßnahmen in Deutschland. Beispielsweise gab es in den USA keine Kurzarbeit. Unternehmen wurden einfach geschlossen oder Arbeitsplätze abgebaut – das erschwert nun einen Hochlauf der Produktion in der international vernetzten Branche.

Krüger Aviation ist Marktführer für Flugzeugspiegel

Stolls Firma konnte selbst davon profitieren. Im Hauptberuf ist er Chef von Krüger Aviation. Das Barsbütteler Unternehmen ist Weltmarktführer für Flugzeugspiegel. Sie sind in den Toiletteneinheiten der A320-Flieger zu finden. So habe man von einem US-Konkurrenten, der die Krise nicht überstanden hat, einen Auftrag übernommen. Für 2022 erwartet Stoll für Krüger Aviation einen Umsatz, der mindestens auf dem Niveau von 2019 liegt.

„Die finanzielle Unterstützung des Staates hat die Wettbewerbsposition der deutschen Zulieferer international gestärkt“, sagt Großbongardt. Fachkräfte konnten dadurch an Bord gehalten werden. Rosarot sei die Lage dennoch nicht. Der Produktionshochlauf sei generell zwar eine gute Nachricht, aber er bedeute auch stets Kapitaleinsatz, sagt Großbongardt: „Der Mittelstand in Deutschland hat aber keine üppige Kapitaldecke – und diese wurde durch Corona zusätzlich belastet.“

Lage der Luftfahrtzulieferer noch unklar

Teilweise müsse in Maschinen investiert werden, um die höheren Raten zu schaffen. Rohmaterial muss bei steigenden Preisen gekauft werden, und es dauere bis anschließend wieder Geld auf dem Konto sei. Er kann sich daher vorstellen, dass Airbus Zulieferern finanziell unter die Arme greift.

Finanzielle Engpässe erwartet auch Stoll in der Branche. Während der Pandemie sei etwa eine Handvoll Hamburger Luftfahrtzulieferer in die Insolvenz gerutscht. „Aber die Stunde der Wahrheit kommt erst noch: Wenn der weitere Produktionshochlauf erfolgt und die Betriebe ihre Corona-Kredite zurückzahlen müssen nach der anfangs gewährten tilgungsfreien Zeit“, sagt Stoll. „Im nächsten halben Jahr wird sich zeigen, wie gut die Luftfahrtzulieferer in Hamburg Corona überstanden haben.“