Hamburg. Tricargo aus Altona wird für den “Lademeister“ ausgezeichnet. Das Unternehmen fertigt die speziellen Räder mit ungewöhnlichem Zubehör.
Björn Fischer dreht sich im Kreis. Der 38-Jährige sitzt auf seinem Fahrrad mit drei Rädern. Er hat den Lenker um mehr als 90 Grad eingeschlagen und bewegt sich quasi auf der Stelle. Nach sieben, acht Sekunden ist er einmal um die eigene Achse herum. Dabei ist Fischers Gefährt alles andere als ein kleines Leichtgewicht. Drei Meter lang ist sein Lastenrad, fast zwei Meter hoch und einen Meter breit. In den Frachtraum hinter ihm passt eine Europalette. Mehr als 200 Kilogramm Fracht kann der selbst 140 Kilogramm schwere „Lademeister“ transportieren.
Ende September wurde das in Altona gebaute Lastenrad für ausgezeichnet empfunden. Es erhielt vom Münchner Huss-Verlag den Titel „International Cargobike of the year“. In der Königsklasse der schweren Frachträder – die mehr als 100 Kilo Nutzlast haben – belegte es hinter einem vierrädrigen Mobil den zweiten Platz. „Wir sind stolz darauf, hier in Hamburg das beste dreirädrige E-Transportrad der Welt zu produzieren“, sagt Fischers Geschäftspartner André Claußen, die beide Vorstände der Genossenschaft Tricargo sind. Insbesondere in den engen Stadtteilen sei die Wendigkeit bei Auslieferungen ein großer Vorteil – gerade im Vergleich mit vierrädrigen Konkurrenten.
Verkehr in Hamburg: Bald mehr Lastenräder auf Straßen?
Die Geschichte des Lastenrads made in Hamburg begann vor sechs Jahren. Fischer wollte zusammen mit Mitstreitern ein Fahrradlogistikunternehmen aufmachen. Man sei alle rund ein Dutzend Lastenräder, die es in Europa gab, einmal Probe gefahren. „Wir haben uns dann für das vielversprechendste Modell entschieden“, sagt der Diplom-Maschinenbauingenieur. Doch in der Praxis beim Ausfahren von Obst und Gemüse in Büros und Firmen tauchten die Probleme auf. Erst gefiel die Transportbox nicht, sodass eine eigene konstruiert wurde. Dann gingen Speichen, Felgen und Mäntel kaputt.
„Wenn man mit 200 Kilo Gesamtgewicht durch ein Schlagloch fährt, kann es sein, dass ein Reifen einfach platzt. Das hatten wir diverse Male“, sagt Fischer. Um jeden zweiten Nippel für die Speichen habe man Risse gefunden. Auch der Verschleiß bei Bremsen und Schaltungen war sehr hoch.
Die Fahrräder erwiesen sich für die Firmenzwecke als ungeeignet. „Natürlich können auch durch Fahrfehler Schäden entstehen. Aber allein die Querkräfte, die hinten am Dreirad entstehen, sind viel zu groß für die Art von Laufrädern, die dort verbaut sind“, sagt Fischer.
Verkehr in Hamburg: Lastenrad mit Motorrad-Zubehör
Nach und nach wurden andere Komponenten eingebaut. Vor allem in der Motorradindustrie wurde man bei Bremsen, Reifen, Speichen, Felgen und Naben fündig. Weil der Fahrradhersteller den nackten Rahmen nicht verkaufen wollte, entwickelte Tricargo zusammen mit dem Altonaer Rahmenbauer Till Kiefer einen eigenen. 2016 war der erste Prototyp fertig. Es folgten drei weitere, auch mit verschiedenen Türen für den Laderaum wurde experimentiert.
Im dritten Quartal des Vorjahres begann die Serienfertigung. 15 Cargoräder stellte man 2020 her. Der Preis pro Exemplar liegt bei 13.498 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. „Wir planen, in diesem Jahr 40 Stück zu verkaufen, bisher sind es 25“, sagt der studierte Betriebswirt Claußen (49). „Im nächsten Jahr wollen wir das auf 120 verdreifachen.“
Fischer ist von der Fahrdemonstration im Freien ein paar Meter weiter in die Halle gegangen. Dort montiert ein Mitarbeiter gerade die Speichen an einer Felge. Für normale Fahrräder seien diese maximal 2,1 Millimeter dick, sagt der Monteur. Beim Lademeister sind es drei Millimeter. Fischer hält ein Rad für das Cargobike in der Hand. Es ist deutlich schwerer als ein normales Fahrrad-Rad. Zwar achte man schon auf jedes Kilo zu viel an Material, weil es die Nutzlast senkt – aber an der Stelle gehe man keine Kompromisse ein.
Lastenrad aus Hamburg: „Über Scherben fahren wir einfach drüber“
„Wenn da Scherben liegen, fahren wir einfach drüber. Hektische Schlenker machen wir nicht“, sagt Fischer und ergänzt: „Wegen Glasscherben hatten wir noch keinen Platten.“ Das sei wichtig, denn schließlich sei es für einen Logistiker nicht akzeptabel, wenn ein Reifen platt sei und daher das Fahrrad für den Transport ausfalle. Auf den selbst gebauten Lademeistern waren die Fahrer in den vergangenen Jahren schon mehr als 150.000 Kilometer unterwegs. Denn die 100-prozentige Radlogistiktochter hat einige bekannte Unternehmen als Kunden gewonnen.
So erledigt man für das Gut Wulksfelde den Direktvertrieb. Die Lebensmittel werden per 7,5-Tonner aus Tangstedt in die vier Tricargo-Mikrodepots am Firmensitz an der Waidmannstraße, nahe dem Zentralen Omnibus-Bahnhof, in der Tiefgarage des Einkaufszentrums Hamburger Meile und am Bramfelder Dorfplatz gefahren. Von dort geht es dann weiter zu den Kunden. Für die Deutsche Post werden täglich 64 Briefkästen in der Innenstadt und in Altona geleert und zu Verteilzentren an der Plöner Straße und am Hühnerposten gefahren. Für große Firmen wie Siemens und die Hamburg Commercial Bank leere man Postfächer und fahre die Briefe in die Zentralen.
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Das Kerngeschäft liege im B2B-Bereich, man erhalte also Aufträge von anderen Firmen. Typische Kurierfahrten stehen im Hintergrund. „Wir verlieren keine Kunden“, sagt Fischer. Im Gegenteil: „Es kommen neue rein.“ Dazu trügen die Sperrung des Jungfernstiegs für Pkw und Projekte wie autofreie Kieze beispielsweise in Ottensen bei. Grundsätzlich habe man bewiesen, dass das Fahrrad als Transportmittel in der Logistik funktioniere. „2020 haben wir bei einem Umsatz von einer Viertelmillion Euro erstmals ein positives Jahresergebnis erzielt“, sagt Fischer und verweist darauf, dass alle insgesamt 37 Beschäftigten – davon 24 als Fahrer und Disponenten in der Logistik – im Gegensatz zu Wettbewerbern unbefristet und sozialtarifvertraglich geregelt beschäftigt seien.
Verkehr in Hamburg: Lastenrad kann Liefer-Probleme lösen
Von Profitabilität ist die Fahrzeugentwicklung noch etwas entfernt. Rund eine halbe Million Euro stecken in dem Unternehmen. Viele der mehr als 100 Genossen hätten Geld investiert und so das Eigenkapital gestärkt. Im Laufe des zweiten Halbjahres soll es den ersten Monat geben, in dem operativ schwarze Zahlen geschrieben werden. Die Nachfrage sei hoch. „Wir sprechen mit Kunden, die einen Bedarf von mehr als 2000 Fahrrädern bis August 2022 sehen“, sagt Fischer. Eine Anzahl, die derzeit alle Cargobikehersteller in Deutschland zusammen nicht produzieren könnten. Insbesondere auf der Zustellung der letzten Meile gelten die Frachträder für die Zukunft als gute Lösung, um die Verkehrsprobleme in den Innenstädten und dicht bebauten Stadtteilen mit wenig Stellplätzen zu verbessern.
Die Fertigungstiefe habe man bewusst niedrig gehalten. Gedreht, gefräst und zerspant wird nicht selbst, auf den Kauf teurer Maschinen wurde verzichtet. Aus der Nähe von Osnabrück werden von einem Hersteller die fertig geschweißten Stahlrahmen geliefert, die mindestens 15 Jahre halten sollen. Dafür sorge die Kathodentauchlackierung. Die derzeit fünf Monteure müssen rund 500 Artikel mit Akkuschrauber und Handwerkszeug zusammenbauen. Plötzlich fallen „Schussgeräusche“. Eine Mitarbeiterin setzt gerade Niete und baut eine Transportbox zusammen.
Rund 2,5 Tage dauert der Zusammenbau eines Lademeisters. Auf einem Holzgestell ist ein Rahmen eingespannt. Zunächst werden Lager, Achse, Laufräder, Antriebsstrang und die Gabel angebaut. Für den Antrieb sorgt die Kombination aus Akku, Elektromotor im Vorderrad mit einer Nenndauerleistung von 250 Watt und einem Piniongetriebe. „Das ist quasi ein Autogetriebe in Klein“, sagt Claußen. „Das hält den Belastungen stand.“ Es gibt fünf Fahrstufen und eine Anfahr- und Schiebehilfe bis sechs Kilometer pro Stunde, um die Gelenke der Fahrer zu schonen. Bei Tempo 25 ist Schluss. Dann gibt es vom Motor keine Unterstützung mehr. Fischer: „Für einen Logistiker ist gutes Organisieren in der Box entscheidend und nicht die Spritzigkeit und maximale Geschwindigkeit.“