Berlin. Die Aktien der Impfstoffhersteller haben zuletzt deutliche Rücksetzer erlebt. Sind sie überbewertet? Was Experten raten.

Im Oktober 2019 wagte sich ein junges deutsches Unternehmen an die US-Technologiebörse Nasdaq. Es hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die Krebsforschung zu revolutionieren, doch mit Biotechnologie fällt es in Deutschland schwer, Investoren zu überzeugen. Daran änderte auch der wie ein Versprechen anmutende Mainzer Firmensitz mit Adresse „An der Goldgrube 12“ wenig.

Zu je 15 Dollar (rund 12,94 Euro) konnten die ersten Aktien gezeichnet werden, sie spielten Bruttoerlöse von 150 Millionen US-Dollar ein – ein eher enttäuschendes Ergebnis, von dem hierzulande aber ohnehin kaum jemand Notiz nahm.

Zwei Jahre später hat das Unternehmen die Welt verändert, es kennt nun jeder: Biontech. Bis zu drei Milliarden Impfdosen gegen das Coronavirus will Biontech bis Jahresende hergestellt haben, das Vakzin wurde in mehr als 100 Länder oder Regionen ausgeliefert.

Biontech hat eine atemberaubende Rallye hingelegt

Umgerechnet rund 14 Euro kostete die Aktie, als sie 2019 erstmals an der Nasdaq frei gehandelt werden konnte. Im August des laufenden Jahres erreichte sie ihren bisherigen Höchststand. Zu 377 Euro wurde das Papier gehandelt, dem fast 27fachen des ersten Kurses.

Für so mache Anlegerinnen und manchen Anleger hat sich Biontech tatsächlich als Goldgrube entpuppt. Als Biontech an die Börse ging, wusste man noch nichts von einer nahenden Pandemie. Trotzdem brachte das Mainzer Unternehmen bereits eine Bewertung von rund 3,2 Milliarden Euro auf die Waage. Mit Ausbruch der Pandemie setzte Biontech alles auf eine Karte – mit Erfolg.

Eine Adresse wie eine Verheißung: Biontechs Firmensitz „An der Goldgrube 12“
Eine Adresse wie eine Verheißung: Biontechs Firmensitz „An der Goldgrube 12“ © imago images/Jörg Halisch | Joerg Halisch via www.imago-images.de

Biontech ist derzeit wertvoller als Bayer

Heute weist das Unternehmen eine Marktkapitalisierung von knapp 51 Milliarden Euro auf. Wäre Biontech im Dax gelistet, wäre es damit höher notiert als Konzerne wie Adidas oder Bayer. Die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci erhielten für ihre Leistung das Bundesverdienstkreuz, sie zierten das Cover des US-Magazins „Time“.

„Es ist ein Glück und ein Segen, dass wir in Deutschland ein Unternehmen wie Biontech haben“, sagt Anlegerschützer Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Und Aktienanalyst Elmar Kraus, der für die DZ Bank die Pharma- und Biotech-Branche beobachtet, greift im Gespräch mit unserer Redaktion zu einem spektakulären Vergleich: „Biontech ist wie ein deutsches Apple.“

Erinnerung an die T-Aktie werden wach

Tatsächlich elektrisiert die Aktie des Mainzer viele Kleinanlegerinnen und Kleinanleger. Wochenlang zählte das Papier zu den meistgehandelten Aktien in Deutschland, selbst als „Volksaktie“ wurde es schon bezeichnet – in Erinnerung an die Aktie der Deutschen Telekom, die Ende der 1990er Tausende Deutsche auf das Börsenparkett lockte.

Was damals allerdings folgte, war mit dem Platzen der Internetblase ein historischer Absturz, der viele Anlegerinnen und Anleger nachhaltig vom Aktienmarkt abschreckte. Und auch bei Impfstoffaktien haben einige schon ins fallende Messer gegriffen.

Zuletzt gab es deftige Kursrücksetzer

Curevac etwa galt lange als deutscher Hoffnungsträger auf einen Corona-Impfstoff, musste seinen ersten Kandidaten aufgrund geringer Wirksamkeit aber zurückziehen. Heute ist die Aktie nur noch ein Drittel des Dezemberhochs wert. Selbst bei den erfolgreichen Impfstoffherstellern machte sich zuletzt nach berauschenden Kursfeuerwerken Katerstimmung breit.

Biontech notiert derzeit rund 40 Prozent unter seinem Allzeithoch. Auch die Aktien der anderen Impfstoffhersteller, deren Vakzine in Europa zugelassen sind, haben kräftige Korrekturen zu verzeichnen. Biontechs Partner Pfizer etwa hat seit seinem Augusthoch knapp 17 Prozent an Wert verloren. Das Papier des US-Unternehmens Moderna, das wie Biontech auf einen Impfstoff mit der mRNA-Technologie setzt, kostete bei seinem Hoch im August noch 401,90 Euro, nun ist es für rund 30 Prozent weniger zu haben. Beim US-Unternehmen Johnson&Johnson, das auf einen Vektor-Impfstoff setzt, ging es im Vergleich zum Augusthoch um zehn Prozent abwärts.

Astrazeneca trotzt dem Trend

Lediglich der britisch-schwedische Konzern Astrazeneca konnte sich seit seinem Augusthoch leicht verbessern. „Astrazeneca darf während der Pandemie mit dem Impfstoff eigentlich keinen Gewinn machen und wartet darauf, dass die Pandemie zur Epidemie heruntergestuft wird, um dann die Preise erhöhen zu können“, sagt Aktienanalyst Kraus. „Entsprechend bewegt die Impfstoff-Lage die Aktie aber auch weniger als bei den anderen Impfstoffherstellern.“

Einen Grund für die deutlichen Rücksetzer der anderen Hersteller sieht der DZ-Bank-Experte in der Empfehlung der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA, zunächst weltweit alle Menschen erstzuimpfen, bevor man die Booster-Impfung in den Industriestaaten verabreicht. Die schwankungsfreudigen Biotech-Aktien seien ohnehin nichts für schwache Nerven, das derzeitige Umfeld sei zusätzlich „extrem aufgeheizt“, meint Kraus.

Deutsche Bank-Chefanlagestratege gibt sich optimistisch

„Angesichts der atemraubenden Hausse der Impfstoffaktien überrascht mich der jüngste Rücksetzer nicht“, sagte auch Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege der Deutschen Bank, unserer Redaktion. „Gerade bei schnellwachsenden Unternehmen beobachtet man ein solches 'Durchschnaufen' immer wieder.“ Zwar seien Impfstoffaktien ambitioniert bewertet, von einer Überhitzung will Stephan aber nicht sprechen.

Kurzfristig sieht der Deutsche-Bank-Chefanlagestratege Potenzial: „Vor dem Hintergrund empfohlener Booster-Impfungen für weite Teile der Gesellschaft könnten die Kurse wieder zulegen.“ Vor allem aber langfristig würden sich Perspektiven bieten, wenn es gelänge, die mRNA-Technologie auch bei anderen Krankheiten anzuwenden.

Bei Biontech ruhen die Hoffnungen auf der Krebsforschung

Biontech etwa war ursprünglich gestartet, um die Krebsforschung zu revolutionieren. Die Entwicklung des Corona-Impfstoffes sorgt nun dafür, dass ausreichend Geld für die Forschung zur Verfügung steht. Allein im zweiten Quartal des aktuellen Jahres stand ein Gewinn von knapp 2,8 Milliarden Euro zu Buche. Biontech habe es geschafft, einen Qualitätsbegriff zu besetzen, sagt Kraus.

„Die Meisten wollten und wollen mit Biontech geimpft werden“, sagt der DZ-Bank-Experte. „Ein solcher allgemeiner Qualitätsbegriff für ein Medikament oder gar einen Impfstoff ist eher ungewöhnlich.“ Biontech habe sich in der Krise einen Vertrauensvorschuss erarbeitet. Entsprechend groß sind die Hoffnungen auf die Krebsforschung.

Anlegerschützer Tüngler: „Biontech kann zur Volksaktie werden“

„Sollte Biontech in der Krebsforschung Erfolg haben, wird die Aktie nach oben schießen in Kurshöhen, die weit von den derzeitigen Kursen entfernt sind“, sagt Anlegerschützer Tüngler.

Dann hätte Biontech tatsächlich Potenzial auf eine besondere Wahrnehmung: „Der Stolz auf dieses Unternehmen in Kombination mit einem Produkt, dass den Alltag eines jeden Einzelnen betrifft, kann Biontech zur Volksaktie werden lassen.“