Berlin. Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt seit Jahren. Mietervertreter schlagen Alarm. Aber lässt sich der Trend überhaupt noch umkehren?
„Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit.“ Es ist ein Satz, der in Erinnerung bleiben wird. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der auch für den Wohnungsbau zuständig ist, hatte ihn in Vorbereitung zum Wohngipfel 2018 gesagt.
Seitdem wurde er von den Ministerinnen und Ministern der Bundesregierung, unabhängig ob von der Union oder der SPD, mantraartig wiederholt. Tatsächlich wurden in der zu Ende gehenden Legislaturperiode rund 1,2 Millionen neue Wohnungen fertiggestellt – ein Höchstwert innerhalb der letzten 20 Jahre. Einen Trend konnte die Regierung dabei aber nicht stoppen: Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt immer weiter.
Sozialwohnungen: Hoher Andrang, wenig Wohnungen
Wer in eine staatlich geförderte Wohnung mit zugesicherter günstiger Miete einziehen möchte, braucht dafür in Deutschland einen Wohnberechtigungsschein. Mit diesem kann er nachweisen, dass seine derzeitige Einkommenssituation ihn dazu berechtigt, eine Sozialwohnung in Anspruch zu nehmen.
Rund 40 Prozent der 22 Millionen Mieterhaushalte haben laut des auf Wohnungsmarktforschung spezialisierten Pestel-Instituts einen Anspruch auf einen solchen Wohnberechtigungsschein – und damit rund 8,8 Millionen Mieterhaushalte. Für diese 8,8 Millionen Mieterhaushalte stehen aber nur noch 1,1 Millionen Sozialwohnungen zur Verfügung – Tendenz sinkend.
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IG BAU und Mieterbund fordern mehr Investitionen
Wie kann es sein, dass auf der einen Seite die Zahl der Sozialwohnungen abnimmt, auf der anderen Seite die Mieten aber immer stärker steigen? „Wir haben in Deutschland eine Systematik, die es in anderen Ländern nicht gibt: Bei uns verlieren geförderte Wohnungen nach einer Frist ihre Sozialbindung“, erklärt Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes. „Weil vor 30 Jahren deutlich mehr als heute gebaut wurde, erleben wir einen realen Rückgang an Sozialwohnungen – obwohl pro Jahr rund 25.000 neue Sozialwohnungen entstehen.“
Wolle man den Rückgang zumindest stoppen, brauche man 100.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr, rechnet Siebenkotten vor. Das aber kostet Geld. „Um überhaupt Investoren zu finden, muss man ungefähr 60.000 Euro pro Sozialwohnung an Förderung anbieten“, sagt Siebenkotten. Das würde bei 100.000 neuen Sozialwohnungen ein Fördervolumen von sechs Milliarden Euro ergeben – pro Jahr.
Wohngemeinnützigkeit wurde Ende der 1980er Jahre abgeschafft
In den vergangenen Jahrzehnten kamen viele Faktoren zusammen, die den Schwund an Sozialwohnungen beschleunigte. Ende der 1980er Jahre gab es alleine in Westdeutschland rund vier Millionen Sozialwohnungen. Doch längst nicht alle waren von dem Modell überzeugt. In hohen Plattenbauten ballten sich die sozialen Probleme, eine Durchmischung der Stadtteile gab es kaum – ein Problem, das bis heute in solchen Hochhaussiedlungen anhält.
Als 1982 herauskam, dass sich Vorstandsmitglieder von Europas größtem Wohnungsbaukonzern, der zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehörenden „Neuen Heimat“, in die eigene Tasche wirtschafteten, kippte die Stimmung.
Die „Neue Heimat“ wurde abgewickelt, die Wohngemeinnützigkeit, die Gewinne beschränken und das Wohnen günstig halten sollte, wurde 1988 abgeschafft. Angesichts der damaligen demografischen Entwicklungen ging man ohnehin von einer schrumpfenden Gesellschaft aus.
Bund schießt jedes Jahr eine Milliarde Euro zu
Seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 liegt der soziale Wohnungsbau in der Hand der Bundesländer. Angesichts sehr unterschiedlicher Haushaltskassen wurde dem Sozialwohnungsbau in den vergangenen 15 Jahren in einigen Ländern mehr, in anderen dagegen weniger Beachtung geschenkt.
Um zuverlässig den Sozialwohnungsbau zu fördern, wurde in dieser Legislaturperiode das Grundgesetz geändert. Seitdem schießt der Bund dauerhaft eine Milliarde Euro pro Jahr zu. Im Durchschnitt haben Bund und Länder damit seit 2017 rund 2,2 Milliarden Euro pro Jahr in den sozialen Wohnungsbau investiert.
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IG-BAU-Chef Feiger: „Wohnungsnot ist eine tickende Zeitbombe“
Das aber reicht bei Weitem nicht aus, meint Robert Feiger, Bundesvorsitzender der Bau-Gewerkschaft IG BAU. „Die Wohnungsnot ist eine tickende Zeitbombe: In der Wohnungssituation, die wir haben, steckt enormer sozialer Sprengstoff“, sagte Feiger unserer Redaktion. Der Staat habe beim sozialen Wohnungsbau das „soziale Gewissen verloren“.
Vor allem in den Städten werde das Problem immer dringender. Auf dem Land hat rund jeder dritte Mieterhaushalt Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein. Da in der Regel dort die Mieten niedriger sind, ist das Problem fehlender Sozialwohnungen zwar existent, aber weniger gravierend als in der Stadt, wo theoretisch rund jeder zweite Mieterhaushalt einen Anspruch auf eine Sozialwohnung hätte.
In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Sozialwohnungen gedrittelt
Rechnerisch erhält schon heute nur rund jeder Achte, der einen neuen Wohnberechtigungsschein erhält, eine Sozialwohnung. Die Realität sieht noch düsterer aus. Denn tatsächlich werden Sozialwohnungen selten frei, immer mehr fallen aus der Mietpreisbindung und stehen anschließend dem freien Markt zur Verfügung.
Allein im vergangenen Jahr gingen so rund 26.000 Sozialwohnungen bundesweit verloren. In den vergangenen drei Jahren waren es rund 130.000 Sozialwohnungen und im Betrachtungszeitraum auf 20 Jahre hat sich die Anzahl der bundesweit verfügbaren Sozialwohnungen gedrittelt.
Es bräuchte fünfmal mehr Sozialwohnungen als bisher
Will man den Bedarf nach günstigem Wohnraum sinnvoll decken, dann brauche es einen langfristigen Bestand von 5,6 Millionen Sozialwohnungen, heißt es in einer Berechnung des auf die Erforschung von Wohnungsmärkten spezialisierten Pestel-Instituts aus Hannover.
Neue Sozialwohnungen zu bauen, ist nicht der einzige Weg, um den Bestand zu erhöhen. Eine weitere Möglichkeit liegt darin, auslaufende Sozialbindungen zu verlängern. Im Schnitt wurden in den vergangenen Jahren aber nur rund 1700 solcher sogenannten Belegrechtsankäufe vorgenommen. Gerade in der hochpreisigen Phase des Marktes ist ein solches Konstrukt aber teuer.
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Viele Haushalte liegen unter gesetzlichem Existenzminimum
Die abnehmende Zahl an Sozialwohnungen hat schon jetzt gravierende Folgen. Laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung befinden sich schon heute rund 1,1 Millionen Mieterhaushalte in den Großstädten in einer prekären Lage.
Nach Abzug der Miete bleibe diesen Haushalten und damit rund 2,1 Millionen Menschen weniger als das im Sozialrecht festgelegte Existenzminium übrig, heißt es. Besonders stark betroffen seien Alleinerziehende.
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Wohngeldzahlungen haben sich fast verdoppelt
Während viele Mieterinnen und Mieter immer weniger Geld haben, gibt der Staat auf der anderen Seite immer mehr Geld aus. Wer keine Transferleistungen wie etwa Hartz IV bezieht, aber dennoch Unterstützung bei der Miete benötigt, kann Wohngeld als Mietzuschuss beantragen.
In den vergangenen Jahren haben sich die Gesamtkosten, die sich Bund und Länder teilen, fast verdoppelt – von 680,8 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 1,311 Milliarden Euro im vergangenen Jahr.
„Es muss Wohngeld geben, um Menschen zu unterstützen, die sich das Wohnen sonst nicht leisten können“, sagt IG-BAU-Chef Robert Feiger. „Aber mehr Wohngeld bedeutet nicht mehr Wohnungen.“ Er hält es für sinnvoller, den Wohnungsbau stärker anzukurbeln.
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IG BAU fordert Steuerreform
Neben den Zuschüssen sieht er vor allem die Möglichkeit, steuerlich zu regulieren. Von einem „Steuer-Dynamik-Paket“ ist in einem Positionspapier, das unserer Redaktion vorliegt, die Rede. Darin fordert die IG BAU einen dauerhaft reduzierten Mehrwertsteuersatz für den sozialen Wohnungsbau von bisher 19 auf künftig nur noch 7 Prozent.
Laut der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (Arge) errechnen sich für eine 65-Quadratmeter-Geschosswohnung Baukosten von rund 203.000 Euro. Ein um zwölf Prozent reduzierter Mehrwertsteuersatz würde die Baukosten auf rund 183.000 Euro absenken, argumentiert die IG BAU.
IG BAU und Mieterbund wollen Grunderwerbssteuer bei Sozialwohnungen streichen
Würden 100.000 Sozialwohnungen dieser Größe entstehen, hätte man durch die Steuersenkung eine Förderung von zwei Milliarden Euro erzielt, an der sich Bund, Länder und Kommunen automatisch beteiligt hätten, heißt es weiter.
Außerdem will die Gewerkschaft den sozialen Wohnungsbau von der Grunderwerbsteuer befreien. Diese fällt sehr unterschiedlich aus. In Bayern und Sachsen-Anhalt werden beispielsweise nur 3,5 Prozent fällig, in Nordrhein-Westfalen und Thüringen dagegen 6,5 Prozent. Das sei ein „unnötiger Kostentreiber“, meint auch Mieterbundspräsident Lukas Siebenkotten.