Hamburg. Volkswagen bietet in der Firmenzentrale nur noch Essen ohne Fleisch an. Auch Hamburger Unternehmen ändern ihre Speisepläne.
Die Speisepläne von Firmenkantinen sind normalerweise kein Thema mit öffentlichem Empörungspotenzial. Als allerdings kürzlich die Nachricht durchsickerte, dass im Stammhaus des Autobauers Volkswagen keine Currywurst mehr auf den Teller kommt, sorgte das quer durch die Republik für erheblichen Wirbel. Sogar Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) meldete sich zu Wort und wetterte gegen das Aus für das bei den Deutschen so beliebte Traditionsgericht.
Tatsächlich wird im Betriebsrestaurant des sogenannten Markenhochhauses in Wolfsburg nach dem Ende der Werksferien nur noch vegetarisch oder vegan gegessen. Ab und zu soll es Fisch geben. Aber dem lautstarken Einspruch zum Trotz, der vor allem von Vertretern der Fleischwarenindustrie kam: Volkswagen liegt mit der Kehrtwende im Trend. Auch in den Kantinen von Hamburger Unternehmen nimmt die Ausrichtung auf fleischfreie Gerichte zu.
Gesundes Essen: Bei Otto gibt es weniger Fleisch
„Der Anteil der Mitarbeiter, die auf vegane und vegetarische Gerichte Wert legen, ist stark gestiegen“, sagt etwa Niels Mester, gastronomischer Leiter des Kochwerks beim Onlinehändler Otto. Nach seinen Angaben ist der Fleischkonsum in den vergangenen vier Jahren um etwa 15 Prozent gesunken.
Auch wenn in den Kantinen auf dem Firmengelände in Bramfeld im Moment wegen der Corona-Pandemie statt 6000 Mahlzeiten am Tag nur 500 bis 600 ausgegeben werden, steht immer mindestens eine fleischlose Mahlzeit auf dem Menüplan.
Auch beim Nivea-Hersteller Beiersdorf haben die Essensangebote ohne Fleisch in den fünf Restaurants am Firmensitz in Eimsbüttel zugenommen. „Rund 50 Prozent der Gäste wählen das vielseitige vegetarische Angebot, das nach nationalen und internationalen Rezepturen zubereitet wird“, sagt eine Unternehmenssprecherin auf Anfrage des Abendblatts.
Studentenwerke waren Vorreiter für vegetarische Gerichte
„Es gibt eine neue Generation von Gästen, die weniger Fleisch essen wollen“, bestätigt Burkart Schmid vom Deutschen Institut für Gemeinschaftsgastronomie den Trend. Vorreiter seien schon vor einigen Jahren die Studentenwerke gewesen, die sich in den Mensen der Universitäten auf die veränderten Ernährungsgewohnheiten in der Gesellschaft eingestellt hätten. In Berlin und in Erlangen etwa gebe es inzwischen reine Veggie-Mensen.
Auch die Betriebsrestaurants müssten sich anpassen, „ohne missionarisch zu werden“, so der geschäftsführende Vorstand des Verbands, in dem unternehmenseigene Gemeinschaftsgastronomen von mehr als 960 Betrieben zusammengeschlossen sind. Dabei hingen die Bedürfnisse der Mitarbeiter auch damit zusammen, ob sie im Büro oder in der Produktion arbeiten. Sprich: Wer den ganzen Tag am Computer sitzt, verzichtet eher auf Fleisch als ein Malocher am Band.
Currywurst entzündet Debatte um Fleischkonsum
Dass sich die aktuelle Debatte um den Fleischkonsum am Arbeitsplatz gerade an der Currywurst entzündet, ist kein Zufall. Fast 30 Jahre lang behauptete sie sich auf dem ersten Platz als beliebtestes Essen in deutschen Betriebskantinen. Bei Volkswagen gehört die Currywurst quasi zur Unternehmenskultur, ähnlich wie die Automodelle Käfer oder Golf.
Seit 1973 produziert die Werkschlachterei eine eigene VW-Currywurst. 2019, im Jahr vor dem Beginn von Corona, haben Fleischer nach Unternehmensangaben insgesamt sieben Millionen Currywürste hergestellt. Inzwischen gibt es sie auch für Nicht-VWler bei Heimspielen des VfL Wolfsburg und in einigen Supermärkten in Niedersachsen.
Gerhard Schröder empört über Wegfall von Currywurst
Mit der Einführung des fleischlosen Kantinenessens in der Wolfsburger Zentrale müssen auch die Kultwürste dran glauben. Dabei ist der Unmut außerhalb des Konzerns gefühlt größer als bei den Beschäftigten. „Wenn ich noch im Aufsichtsrat von VW säße, hätte es so etwas nicht gegeben“, empörte sich SPD-Mann und Niedersachse Gerhard Schröder auf dem Business-Portal Linkedin. „Currywurst mit Pommes ist einer der Kraftriegel der Facharbeiter und Facharbeiterinnen in der Produktion. Das soll so bleiben“, so der 77-Jährige.
Aber nicht nur die Unternehmensleitung, auch Betriebsratschef Heiko Lossie wiegelt ab. „Das ist nicht das Ende der Currywurst“, sagte er einem Medienbericht zufolge. Die Neuausrichtung auf gesündere Ernährung sei auf Wunsch vieler Beschäftigter beschlossen worden und könne langfristig auch die CO2-Bilanz verbessern, heißt es. In Hannover hat der Konzern das Konzept bereits ausprobiert – erfolgreich, wie es heißt. Auf dem Werksgelände in Wolfsburg hält sich der Notstand zudem in Grenzen. Es gibt dort Kantinen, in denen weiterhin Currywurst auf den Teller kommt.
Bei Otto in Hamburg gibt es weiterhin Currywurst
Auch bei Otto in Hamburg gibt es weiterhin Currywurst. Aber viel seltener als früher. 2016 standen die scharfen Würste noch jeden Tag auf dem Menüplan, heute hat sich das Angebot auf einmal in der Woche reduziert. „100 bis 120 Currywürste“, sagt Otto-Kochwerk-Chef Mester, „wurden vor der Pandemie in der Woche verkauft.“ Beim Hauptpflegekonzern Beiersdorf steht „drei- bis viermal im Jahr“ Currywurst auf dem Speiseplan.
Und in der Konzernzentrale des Gabelstapler-Herstellers Jungheinrich war Currywurst vor Beginn der Pandemie einmal in der Woche Tradition in der Kantine, die auf Firmengründer Friedrich Jungheinrich zurückgeht. „Bis heute ist sie eines der beliebtesten Gerichte“, erklärt Unternehmenssprecher Benedikt Nufer. Allerdings ist auch hier eine Kostveränderung spürbar. „Das Cateringteam beobachtet seit Jahren den Trend zu einer bewussteren Ernährung“, so Nufer.
Gesundes Essen: Corona beschleunigt den Wandel
Wie man Ernährungsgewohnheiten gesünder gestalten kann, ist auch ein wissenschaftliches Thema. Ein Team um Ulrike Pfannes und Sibylle Adam, Professorinnen im Fachbereich Ökotrophologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, untersucht im Rahmen des Forschungsprojekts „Nudging im Norden“ seit 2016 die Möglichkeiten, in Mensen und Kantinen gesundheitsförderliche Ernährung „anzustupsen“. Zum Beispiel mit Stickern und Symbolen, die die gesündere Wahl anzeigen, oder mit attraktiver gestaltetem und auf Augenhöhe platziertem Obst und Gemüse.
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Die Corona-Pandemie beschleunigt den Wandel in den Verhaltungsmustern. „Bislang war es so, dass die Kantine auch Ausdruck der Wertekultur eines Unternehmens war“, sagt Gemeinschaftsverpflegungsexperte Burkart Schmid. Zahlreiche Firmen haben in den vergangenen Jahren in die Betriebsgastronomie investiert. Dadurch, dass viele Arbeitnehmer seit mehr als anderthalb Jahren im Homeoffice seien und weiterhin diese Option nutzten, änderten sich jetzt die Anforderungen.
Spaghetti lösen Currywurst in der Beliebtheit ab
Wenn die Beschäftigten nur zwei statt früher fünf Tage im Unternehmen seien, könnten die Kantinen umso mehr Marktplatz und Kommunikationsstandort werden, so Schmid. „Essen, Austausch und Arbeit greifen künftig mehr ineinander.“ Es gehe weg von dem auf das Mittagessen ausgerichteten Angebot hin zu kleineren Mahlzeiten – auch zum Mitnehmen für zu Hause. „Sicher ist, dass es nicht mehr so sein wird wie vor Corona.“
Das zeigt sich auch am diesjährigen Ranking der Topkantinenessen des Catering-Dienstleisters Apetito. Erstmals seit 28 Jahren musste die Currywurst im Pandemiejahr 2020 den ersten Platz abgeben – an einen anderen Klassiker: Spaghetti bolognese.