Hamburg. Beim Onlinehändler kommen wieder mehr Beschäftigte ins Büro. Aber wie werden die Regeln künftig sein?

Das Treffen findet an der Baustelle statt: Katy Roewer, beim Hamburger Onlinehändler Otto als Vorständin für mehr als 6000 Mitarbeiter und den Bereich Service zuständig, ist bereits vor Ort – und freut sich über einen der noch eher seltenen Termin in Präsenz.

Die 45-jährige Topmanagerin lenkt seit nunmehr anderthalb Jahren den Corona-Krisenstab und ist auch für den Umbau der neuen Otto-Zentrale in Bramfeld zuständig. Dabei geht es unter anderem um die Zukunft der Arbeitswelt und die Frage, wie das Unternehmen mit Ungeimpften umgeht.

Hamburger Abendblatt: Frau Roewer, wie viele Tage waren Sie seit Beginn der Corona-Krise in ihrem Büro?

Katy Roewer: So genau kann ich das gar nicht sagen. Heute bin ich auf jeden Fall das erste Mal seit Beginn der zweiten Pandemie-Welle im Oktober wieder auf dem Campus. Davor war ich zwischen den beiden Lockdowns im vergangenen Sommer bis September immer an zwei Tagen in der Woche hier. Die übrige Zeit habe ich von zu Hause gearbeitet. Erst am Schminktisch in unserem Schlafzimmer, dann habe ich mir am Esstisch einen Arbeitsplatz eingerichtet.

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Büro oder Homeoffice: Was plant Otto im Herbst für die Mitarbeiter?

Roewer: Wir öffnen unseren Campus mit dem Ende der Hamburger Sommerferien in dieser Woche für die sogenannte Phase M. Das bedeutet, dass maximal 50 Prozent der Arbeitsplätze belegt werden dürfen, genau wie wir es im vergangenen August auch gemacht haben. Aber wir gehen davon aus, dass wir diese Marke nicht sofort erreichen. Es gibt jetzt zwar keine Homeoffice-Pflicht mehr. Aber viele Leute sind sehr zurückhaltend und wir haben noch eine Arbeitsschutzverordnung, nach der Arbeitgeber darauf zu achten haben, dass möglichst weiterhin im Homeoffice gearbeitet werden soll. Deshalb forcieren wir aktuell nicht, dass die Beschäftigen zurückkommen. Ich vermutet, dass das über den Winter so bleibt.

Welche Rolle spielt es, dass inzwischen anders als 2020 viele Menschen geimpft sind?

Roewer: Die Diskussion gibt es, auch in unserer Belegschaft. Wir werden aber weder eine direkte noch eine indirekte Impfpflicht einführen. Wir haben noch bis Ende August ein eigenes Impfzentrum und ermutigen die Mitarbeitenden, die Angebote wahrzunehmen. Nach einer Umfrage liegt unsere Impfquote mit mehr als 80 Prozent derzeit deutlich über dem Bundesschnitt. Bisher haben wir nicht vor, zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften zu unterscheiden. Wir bieten allen zweimal die Woche einen kostenlosen Corona-Test an.

Otto geht für die Zeit nach der Pandemie noch einen Schritt weiter. Die Beschäftigten in den Teams sollen selbst entscheiden, wo und wie sie künftig arbeiten. Wollen jetzt alle zu Hause bleiben?

Roewer: Wir haben schon vor der Pandemie entschieden, dass nicht mehr jeder einen Schreibtisch hat, an dem er oder sie den ganzen Tag sitzt. Die Beschäftigten sind jeden Tag in unterschiedlichen Arbeitssituationen. Man arbeitet eine Stunde am Schreibtisch, geht dann in ein Meeting und braucht danach vielleicht eine kreative Arbeitsumgebung oder einen Stillarbeitsplatz, eventuell auch an einem anderen Ort. Wir nennen das Activity Based Working. Sprich: Die jeweilige Aufgabe entscheidet über den Arbeitsort und das täglich neu. Wir bauen unsere Gebäude deshalb nach und nach um. Der Trend hat sich in der Corona-Phase verstärkt. Jetzt haben uns die Beschäftigten zurückgespiegelt, dass sie zurückkommen möchten, Gemeinschaft erleben und zusammenarbeiten, aber auch die Vorteile des mobilen Arbeitens beibehalten möchten. Sie möchten zwei bis drei Tage im Büro arbeiten, und den Rest von zu Hause. Das entspricht unserer Annahme.

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Muss Otto zusätzliche Anreize schaffen, um die Menschen zurückzuholen?

Roewer: Wir möchten Gemeinschaft fördern am Campus. Wir Menschen brauchen einander und aus den Teams entstehen oft bessere Ergebnisse, wenn man sich auch mal sieht, als wenn jeder nur allein vor sich hinarbeitet. Deshalb wird es sicher auch künftig Präsenztage geben – wer wie viele nutzt, ist Sache der Teams. Nicht als Zwang, an diesen Tagen wollen wir Zusammenarbeit fördern und Begegnungskultur schaffen. Wir wollen als Arbeitgeber keine Vorschriften machen. Jetzt müssen wir Erfahrungen machen, die auch untereinander weitergegeben werden sollen. Die Arbeitswelt wird sich in den nächsten drei Jahren sehr dynamisch entwickeln und wir wollen uns mitentwickeln.

Wie hoch ist die Gefahr, dass Teamfähigkeit, Kreativität und auch Identifikation mit dem Arbeitgeber leiden, wenn immer mehr dauerhaft nicht ins Büro kommen?

Roewer: Otto hat eine sehr starke Kultur, die über viele Jahre durch starkes Miteinander geprägt wurde. Das höre ich auch immer wieder von neuen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Und trotzdem fehlt im Moment was. Das sagen viele. Meine feste Überzeugung ist, dass wir uns wieder regelmäßig sehen müssen. Präsenz spielt eine große Rolle, um die Unternehmenskultur weiterzuentwickeln. Bei einem Townhall-Meeting im Forum zum Beispiel, da spürt man was. Das kann eine digitale Veranstaltung nicht ersetzen.

Gibt es eine größere Fluktuation, seitdem Arbeit vor allem im Homeoffice stattfindet?

Roewer: Nichts was messbar wäre. Im Gegenteil: Es ist wichtig, dass wir öffentlichkeitswirksam darüber sprechen, wie wir arbeiten. Gerade junge Mitarbeiter setzen mobiles Arbeiten mit der entsprechenden Eigenverantwortlichkeit voraus. Das macht unsere Attraktivität als Arbeitgeber aus. Und es spielt eine wichtige Rolle bei Neueinstellungen.

Was halten Sie von gesetzlichen Reglungen zum Recht auf Homeoffice?

Roewer: Der Gesetzgeber hat die Verantwortung, Rahmenbedingungen etwa beim Arbeitsschutz zu setzen. Aber ich finde alles, was die Ausgestaltung der Arbeitsmodellen zu sehr einschränkt und zu absolut ist, macht es für uns als Arbeitgeber schwer. Wir haben ja auch einen Betriebsrat, mit dem wir das gemeinsam entwickeln.

Es gibt immer mehr kritische Stimmen, die negative Auswirkungen des Homeoffice beklagen, von Motivationsproblemen über Abgrenzungsschwierigkeiten bis zu Vereinsamung? Merken Sie das im Unternehmen?

Roewer: Wir beobachten das auch, zumindest in seltenen Fällen. Es ging vielen so, dass man das Gefühl hatte, der letzte Winter gehe gar nicht zu Ende. Auch mir ist oft die Decke auf den Kopf gefallen. Wir haben versucht Belastungssituation über Führungskräfte abzufangen. Es wurden Rituale entwickelt, um nah an den Beschäftigten dran zu bleiben und zu erkennen,ob es jemand nicht gut gut geht. Wir haben auch Beratungsangebote hochgefahren und bewegte Pausen per Video angeboten. Was wir nie festgestellt haben ist, dass die Leute weniger arbeiten und Produktivitätseinbußen haben. Ganz im Gegenteil.

Entscheidend für die Zukunft der Arbeit bei Otto ist die neue Zentrale, die gerade im Umbau ist und bis 2023 fertig werden soll. Wie viele Mitarbeiter werden dort noch einen Schreibtisch haben?

Roewer: Wir haben schon vor Corona entschieden, dass wir Desk-Sharing fördern wollen. Also, dass nicht mehr jeder Beschäftigte einen eigenen Schreibtisch hat. Damals waren wir von einer Quote von eins zu zwei ausgegangen. Dass wird sich erhöhen. Um wie viel, kann ich noch nicht sagen. Das hängt davon ab, wie Teams ihre Anwesenheit oder Abwesenheit regeln. Aber meine Einschätzung ist, dass die Quote viel höher sein wird. Dafür werden die Flächen für Besprechungen und andere Formen der Zusammenarbeit größer.

Corona: Diese Testverfahren gibt es

  • PCR-Test: Weist das Virus direkt nach, muss im Labor bearbeitet werden – hat die höchste Genauigkeit aller Testmethoden, ist aber auch die aufwendigste
  • PCR-Schnelltest: Vereinfachtes Verfahren, das ohne Labor auskommt – gilt als weniger zuverlässig als das Laborverfahren
  • Antigen-Test: weniger genau als PCR-(Schnell)Tests, dafür zumeist schneller und günstiger. Laut RKI muss ein positives Testergebnis durch einen PCR-Test überprüft werden, ein negatives Ergebnis schließt eine Infektion nicht aus, insbesondere, wenn die Viruskonzentration noch gering ist.
  • Antigen-Selbsttest: Die einfachste Test-Variante zum Nachweis einer Infektion mit dem Coronavirus. Wird nicht von geschultem Personal, sondern vom Getesteten selbst angewandt. Gilt als vergleichsweise ungenau.
  • Antikörper-Test: Weist keine akute, sondern eine überstandene Infektion nach – kann erst mehrere Wochen nach einer Erkrankung sinnvoll angewandt werden
  • Insgesamt stellt ein negatives Testergebnis immer eine Momentaufnahme dar und trifft keine Aussagen über die Zukunft

Werden Sie und ihre Vorstandskollegen in Zukunft noch einen eigenen Schreibtisch haben?

Roewer: Nein, aber das war nie geplant. Wir suchen uns einen Platz. Aber meistens sind wir sowieso in Meetings. Dafür brauchen wir keinen eigenen Schreibtisch.

Parallel gibt es bei Otto auch einen Umstrukturierungsprozess unter dem Namen New, bei dem in den nächsten drei Jahren hunderte Jobs bedroht sind. Wie weit ist dieses Vorhaben?

Roewer: Wir sind in der Phase, dass wir das Projekt vorantreiben und umsetzen. Aber es gibt noch keine konkreten Zahlen. Es gibt viele kritische Fragen, aber auch Unterstützung. Noch sind keine Stellen abgebaut worden.

Kommen wir zur aktuellen ökonomischen Situation: Wie entwickelt sich das zweite Geschäftsjahr für Otto?

Roewer: Die ersten Monaten 2021 waren bedingt durch den Lockdown sehr gut. Jetzt merken wir, dass der Konsum seit der Öffnung des stationären Einzelhandels im Juni teilweise dorthin zurückgeht. Das haben wir auch erwartet. Aber wir haben auch viele neu gewonnene Kunden behalten. Wir sehen eine Verlagerung der Bestellungen. Während etwa Textilien im vergangenen Jahr nicht gekauft wurden, ist das in diesem Jahr anders. Wir sind sehr zufrieden, wachsen deutlich. Aber ein Umsatzwachstum von 30 Prozent wie 2020 werden wir wohl nicht wieder erreichen.

Wie sieht Ihre Vision vom Arbeiten bei Otto aus – und auch für Sie selbst?

Roewer: Es wird eine Kombination sein, von mobilem Arbeiten und Präsenz auf dem Campus. Ich glaube, dass die Vielfalt der Arbeitsmodelle sich deutlich weiterentwickelt. Ein Wunsch von mir ist, dass berufstätige Mütter dadurch weniger in Teilzeitjobs gehen, weil das mobile Arbeiten deutlich mehr Flexibilität bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht. Das erlebe ich bei mir selbst. Und das gilt übrigens auch für Väter.