Berlin. Deutschlands oberster Verbraucherschützer Klaus Müller fordert bessere Angebote für Pendler. Kritik äußert er an der Corona-Politik.

Hinter Deutschlands oberstem Verbraucherschützer Klaus Müller liegt ein stressiges Jahr. Die Anfragen bei den Verbraucherzentralen sind im Pandemiejahr 2020 in die Höhe geschossen, vom Abrufen der Hilfsmaßnahmen über die Erstattung ausgefallener Flugreisen bis hin zum Verhindern neuer Betrugsmaschen berieten die Verbraucherschützer.

Als Vorstand des Verbraucherzen­trale Bundesverbands (vzbv) laufen bei Klaus Müller die Fäden der Verbraucherzentralen zusammen. Nun kommt auch noch die Flutkatastrophe hinzu. Im Interview spricht Klaus Müller über die Corona-Politik, Sorgen bei der Ernährung von Kindern und Jugendlichen und die Lehren der Flutkatastrophe.

Herr Müller, wie fällt Ihre Bilanz nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie aus? Waren die getroffenen Maßnahmen im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher?

Klaus Müller: Im Nachhinein weiß man, dass Deutschland auf eine Pandemie schlecht vorbereitet war. Dafür hat die Bundesregierung vor allem anfangs viel richtig gemacht. Aber die Fehler müssen aufgearbeitet werden. Der nächste Bundestag sollte eine Enquetekommission einsetzen, die ermittelt, wie wir medizinisch vorbereitet waren, wo der Föderalismus funktioniert hat und wo nicht und ob die Hilfen für Verbraucher und Unternehmen wirklich den gewünschten Effekt hatten.

Was ist Ihr Eindruck bei den Hilfen?

Müller: Es waren vor allem Wirtschaftshilfen und zu wenig Verbraucherhilfen. Die Mehrwertsteuersenkung hat kaum gewirkt, von der EEG-Umlagensenkung hat kein Verbraucher etwas gespürt. Immerhin der Kinderbonus war eine gute Maßnahme.

Braucht es jetzt weitere Hilfen?

Klaus Müller: Die Bundesregierung sollte kein Geld mehr mit der Gießkanne ausschütten, sondern nur da gezielt unterstützen, wo gleichzeitig weitere drängende Probleme, etwa der Klimaschutz oder die Digitalisierung, mit adressiert werden können. Positiv ist, dass weiterhin Kurzarbeitergeld in Anspruch genommen werden kann.

Klaus Müller, Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), ist nicht mit allen Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung zufrieden.
Klaus Müller, Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), ist nicht mit allen Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung zufrieden. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Einige deutsche Konzerne beziehen Kurzarbeitergeld und zahlen zugleich üppige Dividenden an ihre Aktionäre.

Müller: Juristisch ist das nicht angreifbar. Die Unternehmen haben eingezahlt und beziehen nun die Leistung als Teil des sozialen Sicherungssystems. Moralisch bleibt aber ein ganz mieses Geschmäckle übrig. Ich möchte von den Unternehmen, die trotz Milliardengewinne dieses soziale Sicherungsnetz genutzt haben, künftig keinen Vortrag über Anstand oder den ehrbaren Kaufmann hören. Dieses Recht haben sie mit ihrer Entscheidung verspielt.

Olaf Scholz will die Corona-Hilfen für Unternehmen bis Jahresende verlängern. Ist das richtig?

Müller: Punktuelle Hilfen für einzelne Branchen sind gerechtfertigt, etwa für die Kulturbranche. Vielfalt und Angebot müssen auch nach der Pandemie erhalten bleiben. Wir werden aber auch über einzelne Branchen noch genauer reden müssen, etwa die Reisebranche. Sie hat durch staatliche Hilfen wie kaum eine zweite profitiert – das war angesichts der Einschränkungen auch in Ordnung. Aber die Vorkasse-Zahlungen ärgern die Menschen immer noch und sie sind auch nicht zu rechtfertigen. Beim Bäckerbezahlt auch niemand sein Brötchen Monate im Voraus. Wenn ich aber einen Flug buche, wird die Zahlung sofort fällig, auch wenn ich erst in einigen Monaten reise. Warum sollte es hier künftig noch eine Ausnahme für die Airlines geben? Hier ist der Gesetzgeber gefordert.

Sperren sich Reiseanbieter weiter gegen Rückerstattungen bei Ausfällen?

Müller: Der Schrecken des Sommers 2020 wiederholt sich in diesem Jahr zum Glück nicht. Es gibt zwar Beschwerden, aber die sind in keiner Weise vergleichbar mit den Dreistigkeiten, die sich die Lufthansa und andere Flugunternehmen im vergangenen Jahr geleistet haben. Das liegt aber auch daran, dass die Anzahl der Reisen gesunken ist.

Sollten Corona-Tests ab Mitte Oktober kostenpflichtig werden?

Müller: Ich halte es für gerechtfertigt, im Herbst andere Strukturen und Bedingungen und damit eine Kostenpflichtigkeit einzuführen. Die Situation ist nicht mehr vergleichbar mit der der vergangenen 15 Monate. Der Staat muss sein Geld für die Aufgaben einsetzen, die wirklich notwendig sind und das sind nicht kostenlose Tests für Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, obwohl sie es könnten.

Sollten Geimpfte, Genese und Getestete mehr Freiheitsrechte zurückerlangen, etwa Konzerte in Innenräumen besuchen zu können?

Klaus Müller: Wenn noch mehr Menschen geimpft worden sind und die Tests qualitativ besser werden, dann können wir zu anderen Bedingungen kommen. Viele Menschen, jung wie alt, wünschen sich das sehnlichst. Aber aus meiner Sicht geht die Gesundheit vor. Daher muss eine unabhängige medizinische Einrichtung die Risiken beurteilen, die selbst von Getesteten, Geimpften und Genesenen beispielsweise bei voller Auslastung eines Konzertsaals ausgehen. Niemand kann derzeit sagen, wie schnell sich die Virusvarianten bei uns verbreiten werden.

Viele gebeutelte Branchen hoffen auf Planungssicherheit.

Klaus Müller: Viele Menschen würden gerne ihr Weihnachtsfest mit ihren Familien planen können. Aber der Virus gibt uns leider keine absolute Planungssicherheit.

In den ersten Bundesländern hat das neue Schuljahr bereits begonnen. Wieder fehlt es an Konzepten und Luftfiltern.

Klaus Müller: Dass es an Luftfiltern und Schutzkonzepten fehlt, ist eines des größten politischen Versagens des vergangenen Winters, des Frühjahrs und nun des Sommers. Es ist kein Allheilmittel gegen Corona, aber natürlich braucht es Luftfilter und eine angemessene Ausstattung in den Schulen. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir nicht weiterkommen. Die Pandemie zeigt, dass der Föderalismus in Deutschland an einigen Ecken dringend überprüft werden muss – beim Digitalpakt haben wir das ja auch geschafft. Wenn einige so tun, als ob das Ende der Sommerferien überraschend käme, dann ist schlicht peinlich.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) fordert, dass die Maskenpflicht bis Frühjahr des kommenden Jahres aufrechterhalten werden sollte. Wie sehen Sie das?

Müller: Die Masken waren eine der unterschätztesten Maßnahmen. Es war gut und keine Schande, dass die Politik ihren Kurs hier korrigiert hat, zumal bei vielen Aspekten zu Beginn keine sicheren wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen. Wenn man mit einer Maske Menschen schützt, dann ist es die Maßnahme mit dem kleinstmöglichen Eingriff in unsere Rechte.

Das Homeoffice wird in vielen Betrieben bleiben. Muss sich auch der Öffentliche Personennahverkehr auf die neuen Pendelgewohnheiten einstellen?

Müller: Der ÖPNV muss deutlich flexibler werden, was die Kundenbedürfnisse angeht. Wenn es nur ein Jahres-, Monats- oder Wochenticket gibt, dann entspricht das nicht mehr dem Nutzerverhalten. Gerade für Pendler braucht es neue, flexible Angebote, eine Art Homeoffice-Ticket für nur einzelne Wochentage. Aber der ÖPNV ist leider ein Krisenverlierer. Daher muss der Bund zusätzlich massiv investieren und die Mittel an Angebots- und Qualitätsziele knüpfen. Auch die extreme Kleinstaaterei von Verkehrsunternehmen und -verbünden gehört überwunden

Brauchen wir ein Schulfach Verbraucherbildung?

Müller: Beim Bildungsniveau zu Fragen rund um Gesundheit, Digitales, Finanzen, Recht und Ernährung schneidet Deutschland im internationalen Vergleich erschreckend schlecht ab. Ich glaube nicht, dass ein eigenes Schulfach durchsetzbar ist. Aber diese Verbraucherthemen gehören verbindlich in jedes Schul-Curriculum und müssen prüfungsrelevant werden.

Das extreme Hochwasser hat vielen Menschen ihr Hab und Gut genommen. Wie sollten Hausbesitzer und Mieter künftig besser vor solchen Katastrophen geschützt werden?

Müller: Zunächst muss den Menschen unbürokratisch geholfen werden. Starkregenereignisse werden zunehmen. Der Klimawandel ist im Gange, mit allen Gefahren, die damit verbunden sind. Die Regierung muss deshalb einen neuen Versicherungsschutz vorbereiten.

Sollte die Elementarschadenversicherung zur Pflicht werden?

Müller: Aktuell sind 47 Prozent der Hausbesitzer gegen Elementarschäden versichert. Doch diese freiwillige Quote muss dringend auf mindestens 80 Prozent erhöht werden. In Baden-Württemberg sind es 95 Prozent, da dort die Elementarversicherung bis vor wenigen Jahren eine Pflichtversicherung war. Eine Pflichtversicherung für alle Hausbesitzer wäre jedoch ein tiefer Eingriff in die Grundrechte. Menschen würden gezwungen, eine Versicherung abzuschließen. Das kennt man in Deutschland nur bei der Haftpflichtversicherung für Autos – und zwar um andere zu schützen. Die Gefahr besteht, dass eine Pflichtversicherung schnell höchstrichterlich gekippt werden könnte. Wir fordern deshalb, dass in der Wohngebäudeversicherung künftig die Option einer Allgefahrenabwehr automatisch angeboten wird. Damit wird den Hausbesitzern klar gemacht, wie groß die Risiken sind. Doch man kann sie auch abwählen, wodurch es keine verfassungsrechtlichen Probleme mehr gäbe.

Eigentlich müsste die Einsicht für eine solche Pflicht doch vorhanden sein?

Müller: In den nächsten zwei Jahren brauchen wir eine Informationskampagne, die aufklärt, dass die Folgen des Klimawandels jeden treffen kann. Vor der Bundestagswahl versprechen alle Parteien finanzielle Hilfen, doch ob dies danach noch der Fall ist, wage ich zu bezweifeln. Ein Versicherungsschutz ist dagegen ein Rechtsanspruch.

Warum aber nicht alle zu ihrem Glück zwingen?

Müller: Das wäre der zweite Schritt. Sollte sich zwei Jahre nach Einführung der Allgefahrenabdeckung herausstellen, dass die Verbreitung der Absicherung nicht mindestens 80 Prozent erreicht, wird die Einführung einer Versicherungspflicht notwendig. Dies ist vor dem Hintergrund des Karlsruher Klimaschutzurteil auch gerechtfertigt. Allerdings sollten die Kosten für die Versicherung nicht auf die Mieter umgelegt werden können, denn ich möchte nicht, dass die Mieterinnen und Mieter in Berlin oder im Ruhrgebiet, die Hausbesitzer in Sachsen oder Baden-Württemberg quersubventionieren.

Sollten Nichtversicherte sonst die Schäden selbst tragen statt auf Staatshilfe zu hoffen?

Müller: Hier schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Sicher, Hausbesitzer haben eine Eigenverantwortung. Doch wer kann seinem Nachbarn, dessen Existenz vernichtet und der nicht versichert ist, in die Augen blicken und sagen, dass er keine Hilfe erhält, weil er nicht vorgesorgt hat? Ich möchte das nicht. Wir sind eine solidarische Gesellschaft, erst recht bei Katastrophen.

Muss künftig grundsätzlich anders gebaut werden – vor allem nicht mehr direkt an Flüssen und Seen?

Müller: Das kann man so pauschal nicht sagen. Aber klar ist, dass auch jetzt nicht jedes zerstörte Haus oder jeder Betrieb am selben Ort wieder aufgebaut werden sollte. Denn wir haben auch Gefahren im Bau und im Planungsrecht unterschätzt. Es wird Flächen geben, an denen aufgrund des Klimawandels nicht mehr gebaut werden darf.

Während der vergangenen Monate haben die Cyberangriffe zugenommen. Inwieweit sind Privatleute in Gefahr?

Müller: Viele Verbraucher genießen die Vorzüge des Internets. Doch viele Hersteller und Webseitenbetreiber tun nicht genug für die IT-Sicherheit ihrer Systeme um die Daten von Verbrauchern zu schützen. Auch das Bewusstsein für Datensicherheit bei Verbrauchern muss gestärkt werden. Wir brauchen zudem klare Haftungsregelungen von Amazon Co, die für die Shops auf ihren Plattformen und die Produktsicherheit geradestehen. Es gibt viele Fake-Shops, auf die Menschen hereinfallen. Zur Datensicherheit brauchen wir zudem die Zwei-Faktor-Authentifizierung bei der eigenen E-Mail-Adresse für mehr Sicherheit.

Aldi, Lidl und Co. setzen auf bessere Fleischqualitäten. Ist dies aus Ihrer Sicht der richtige Weg für mehr Tierwohl?

Müller: Die Mehrheit der Bevölkerung hält die heutige Tierhaltung nicht mehr für akzeptabel. Wir begrüßen es daher, dass Aldi ab 2030 nur noch Frischfleisch aus den beide höheren Haltungsstufen 3 und 4 anbieten will und den Anteil ab sofort schrittweise erhöht. Alle Handelsunternehmen sollten diesem Schritt folgen. Damit es allen Nutztieren besser geht braucht es jedoch nicht nur freiwillige Initiativen des Handels, sondern einen verbindlichen und ambitionierten Umbau der gesamten Tierhaltung. Die gesetzlichen Haltungsstandards müssen angehoben, die Kontrolle verbessert und das staatliche Tierwohllabel eingeführt werden. Die nächste Bundesregierung muss das zügig auf die Agenda setzen.

Können sich künftig weniger Betuchte noch Fleisch leisten?

Müller: Ein großer Teil der Verbraucher ist bereit, für Fleisch aus besserer Tierhaltung auch mehr zu bezahlen. Billigpreise für Fleisch sind eine Täuschung, denn die wahren Kosten – zum Beispiel negative Auswirkungen auf Umwelt, Gesundheit und Tierwohl – zahlen Verbraucher bereits heute, nur an anderer Stelle. Ich persönlich kehre gerne zu den Gewohnheiten meiner Großeltern zurück, mit einem Braten am Sonntag, Fisch am Freitag. Ansonsten dürfen es gerne schmackhafte vegetarische Speisen sein.

Was halten Sie von der Einführung einer Zuckersteuer für besseren Gesundheitsschutz?

Müller: Die Corona-Krise wird das Problem von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen verschärfen. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat eine Abgabe auf Zucker, Salz oder Fett vorgeschlagen. Aus Sicht des vzbv würde eine Abgabe auf Süßgetränke deren Zuckergehalt reduzieren und somit für eine gesündere Ernährung sorgen. Viele Länder wie etwa Großbritannien sind hier schon weiter.

Würden Sie sich künftig ein eigenes Müller: Eine Empfehlung möchte ich nicht geben. Ich wünsche mir eine starke Verbraucherschutzpolitik im nächsten Koalitionsvertrag und einen schlüssigen Ressortzuschnitt, der dies so effizient wie möglich umsetzt.