Hamburg. Zwei Luftfahrtgiganten stecken in der Krise – doch es gibt eine Zeit nach der Pandemie. Wer ist dafür besser aufgestellt?
Hohe wirtschaftliche Verluste, ein Minus bei den Bestellungen und ein deutlicher Rückgang bei der Auslieferung neuer Maschinen: 2020 war für die Flugzeugindustrie das schlechteste Jahr ihrer Geschichte. Der europäische Konzern Airbus mit seinen 15.000 Mitarbeitern im Hamburger Werk und US-Rivale Boeing leiden massiv unter der Pandemie und den Folgen – aber wer ist besser für die Zukunft aufgestellt? Das Abendblatt vergleicht wichtige Parameter wie Flugzeugprogramme, Auftragsbücher und die finanzielle Situation.
Wer hat die besseren Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge?
Jahrzehntelang maßen in dieser Kategorie die A320-Familie und die 737 von Boeing als Platzhirsche die Kräfte. Doch zunehmend stößt ein neuer Jet hinein. Airbus kaufte vor drei Jahren die Mehrheit an der neu entwickelten C-Series des kanadischen Herstellers Bombardier und benannte sie in A220 um. „Der A220 ist ein fantastisches Flugzeug und das mit Abstand modernste in der sogenannten Single Aisle-Klasse, also Fliegern mit einem Gang in der Mitte“, sagt der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt dem Abendblatt.
Die Maschinen für 100 bis 150 Passagiere werden in Montreal (Kanada) und Mobile (USA) hergestellt. Sie gelten als sparsam im Treibstoffverbrauch und punkten mit einer Reichweite von rund 6300 Kilometern sowie hohem Komfort in einer modernen Kabine. „Im Kurz- und Mittelstreckenbereich hat Airbus ganz klar die Nase vorn“, sagt Großbongardt.
Das liegt auch an einer gescheiterten Übernahme. Boeing wollte sich im Segment der kleineren Mittelstreckenjets mit dem Kauf des brasilianischen Herstellers Embraer verstärken und mit dessen Baureihe E2 Marktanteile gewinnen. Doch im April 2020 platzte das 4,2 Milliarden Dollar schwere Geschäft. Boeing fehlt es deshalb in diesem Bereich an einem konkurrenzfähigen Produkt. Als Gründe für den Rückzug gelten die Corona-Krise und die massiven Schwierigkeiten mit der 737 Max.
Bei zwei Abstürzen der 737 Max – dem Pendant zur A320neo-Familie, die beide über spritsparende Triebwerke verfügen – starben 346 Menschen, weil das automatische Steuerungssystem MCAS tödlich in das Flugverhalten eingriff. Die 737 Max wurde weltweit für fast zwei Jahre mit einem Startverbot belegt. Neue Maschinen wurden nur in geringer Stückzahl ausgeliefert. Seit Ende Januar dürfen diese Flieger nun auch in Europa wieder abheben. Voraussetzungen dafür sind technische Verbesserungen an Hard- und Software sowie zusätzliche Schulungen für die Piloten.
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„Ich glaube an ein Comeback der 737 Max. Fluglinien werden diese Maschine wieder ordern“, sagt Großbongardt. Die Maschine habe ihre Qualitäten, weil zum Beispiel das Fahrwerk kleiner als beim A320neo ist. Das spart Gewicht und so im Vergleich Treibstoff. Zudem bleiben Airlines gerne bei einem Flugzeugtyp, weil sie ihre Piloten dann zwischen den Maschinen flexibel einsetzen können und es bei Bestellungen kräftige Rabatte gibt. Allerdings ist der Frachtraum der 737 kleiner, sodass kein Platz für Zusatztanks vorhanden ist – ein Nachteil für den US-Konzern, weil die Europäer an der Stelle aufgerüstet haben.
Wer hat die besseren Langstreckenflugzeuge?
Jahrzehntelang war dies die Domäne von Boeing – doch mit der Weiterentwicklung der beliebten A320-Familie könnte Airbus Marktanteile gewinnen. Früher galten für einen A320 6000 Kilometer nonstop in der Luft als Limit. Dank der Neo-Triebwerke und Zusatztanks wurde die 44,51 Meter lange A321 erst zu einer LR (Long Range)-Version mit 7400 Kilometern Reichweite.
Bald soll auf Finkenwerder der erste Testrumpf für eine A321XLR-Version gebaut werden. Dank eines zentralen Tanks (Rear Center Tank) im Gepäckraum kann dieses Hamburger Modell, das zunächst ausschließlich auf Finkenwerder gebaut wird, 8700 Kilometer nonstop und damit Strecken wie von Fuhlsbüttel nach Chicago oder Mumbai sowie von Sydney nach Tokio schaffen – kurz: Der Jet dringt in den Langstreckenbereich vor. 2023 soll er auf den Markt kommen.
„Der A321XLR ist das perfekte Flugzeug, um aus der Covid-19-Krise herauszufliegen“, sagte Airbus-Topmanager Michael Schöllhorn kürzlich im Abendblatt-Interview. Der Hintergrund: In der Branche rechnet man damit, dass nach der Corona-Krise zunächst das Kurz- und Mittelstreckengeschäft wieder anzieht. Eine Erholung für lange Distanzen wird erst in der Mitte des Jahrzehnts erwartet und sich langsam vollziehen.
Daher wird es zunächst eine Vielzahl „dünner“ Langstrecken-Routen geben. Auf diesen lohnt sich der Einsatz eines Großraumjets (für 300 Passagiere und mehr) kaum, weil die Airlines die Maschinen nicht vollbekommen. Mit dem A321XLR, für den Airbus 180 bis 220 Passagiere in einer typischen Zwei-Klassen-Kabine als Kapazität angibt, könnten sich solche Strecken aber deutlich früher rechnen. Zumal auch der Kaufpreis viel niedriger als bei einem Großraumjet ist.
„Der A321XLR ist in der Kombination aus Kapazität und Reichweite für lange, dünne Strecken ideal“, sagt Großbongardt. Er erwartet, dass Boeing mit einem neuen kleinen Großraumjet mit zwei Gängen kontern wird, in dem zwischen 230 und 270 Sitze untergebracht werden können. Im Jahr 2027 könnte so ein Jet bei Fluglinien in Betrieb gehen.
Neben dem Nachfrageeinbruch bei den Passagierzahlen gilt die Auftragslage in dem Segment ohnehin als schwierig. Seit einigen Jahren halten sich Airlines mit Bestellungen zurück. Das liegt daran, dass es viele junge Langstreckenmaschinen gibt, sodass der Ersatzbedarf noch relativ gering ist. Der A350 wurde vor gut sechs Jahren erstmals in den Dienst gestellt. Boeings Dreamliner 787 ist mit maximal einer Dekade auf dem Buckel ebenfalls noch jung.
Für die vierstrahligen spritfressenden Flaggschiffe 747 und A380 sind die Tage beschleunigt durch die Pandemie gezählt, ihre Produktion wird auslaufen. Weil auch vor Corona das Passagierwachstum vor allem im sogenannten Punkt-zu-Punkt-Verkehr zwischen Flughäfen der zweiten Reihe und weniger zwischen den großen Drehkreuzen stattfand. Daher war der Bedarf für weitere Riesenmaschinen für 500 bis 600 Fluggäste begrenzt – und wird es nun wohl noch lange bleiben.
„Der nächste Flieger, der Geschichte wird, ist der A330“, sagt Großbongardt. Auch für die Neo-Version des Großraumjets sieht er kaum noch einen Markt. Grundsätzlich sei Boeing mit Dreamliner und der geplanten 777X im Langstreckenbereich gut aufgestellt. Aber: „In den nächsten drei, vier Jahren könnte Airbus mit dem A350 besser liegen, weil es ein modernes Flugzeug und kleiner ist als die 777X.“ In das größte zweistrahlige Verkehrsflugzeug der Welt sollen in der längsten Version mehr als 400 Sitze passen.
Bloß ist fraglich, wann solche Flieger wieder voll ausgelastet werden. Denn Größe bedeutet immer das Risiko, dass zu wenige Passagiere an Bord sind, um genug Geld zu verdienen. „Die Dominanz von Boeing im Langstreckenbereich ist vorbei“, sagt Großbongardt: „Das trifft Boeing hart, weil sie mit keinem Programm so viel Geld verdienen, dass die Schwächen bei anderen Flugzeugtypen kompensiert werden.“
Wer hat das vollere Auftragsbuch?
Auf den ersten Blick geht der Punkt klar an Airbus. Mehr als 7000 Bestellungen führen die Europäer in ihrem Orderbuch auf (siehe Grafik). Der Großteil davon für die A320-Familie, die zu mehr als der Hälfte in Hamburg endmontiert wird. Für den Hoffnungsträger A321XLR sind es wohl um die 500 Maschinen. Rechnerisch ist die Fertigung für rund zehn Jahre ausgelastet.
Im April 2020 wurde die Produktionsrate von 60 auf 40 A320-Maschinen pro Monat reduziert. Nun soll sie wieder steigen, auf 45 Jets im Schlussquartal 2021. Bleibt die Frage, ob die Airlines nach der langen Corona-Durststrecke genug Geld haben, alle ihre Bestellungen abzunehmen. „Airbus vermeidet bisher sehr geschickt Abbestellungen, indem Auslieferungen nach hinten verschoben werden“, sagt Großbongardt. Aber dennoch sieht er die Gefahr, dass die Europäer die hohen Planzahlen nicht am Markt unterbringen können.
Bei Boeing sieht die Lage zunächst düster aus. 2020 wurden 1194 Bestellungen aus den Büchern gestrichen, mit rund 4000 Aufträgen ist das Orderbuch nur gut halb so dick wie bei Airbus. „Beim Vergleich der Zahlen muss man aufpassen“, sagt Großbongardt: „Wegen der US-Börsenrichtlinien müssen Orders rausgenommen werden, wenn ein Vertrag gekündigt werden kann.“
Und das ist zum Beispiel beim geplanten Großraumflieger 777X der Fall, weil dessen Erstauslieferung erneut deutlich nach hinten verschoben wurde, auf Ende 2023. Auch beim Problemflieger 737 Max wurden massenhaft Stornos kassiert. Nun dürfen diese Flieger, von denen aktuell noch rund 300 fertig gebaute Maschinen geparkt sind, wieder ausgeliefert werden. Von daher könnte Boeing 2021 vielleicht noch mit Airbus bei den Auslieferungen konkurrieren, sagt Großbongardt. „Beim Wettlauf um den Titel größter Flugzeugbauer der Welt wird Airbus ansonsten aber mindestens bis zum Jahr 2025 die Nase vorn haben.“
Wie ist die wirtschaftliche Lage?
Boeing hat 2020 ein historisch schlechtes Ergebnis erzielt. Bei einem Umsatzminus von 24 Prozent wurden 11,9 Milliarden Dollar (fast zehn Milliarden Euro) unterm Strich als Minus ausgewiesen. Das ist der mit Abstand höchste Fehlbetrag in der mehr als 100-jährigen Konzerngeschichte.
Da wirkt der Verlust von 636 Millionen Dollar aus dem Vorjahr wegen der Max-Probleme fast klein. Allein für die Verspätung bei der 777X wurden 6,5 Milliarden Dollar im Schlussquartal 2020 zurückgelegt. Der Konzern macht aber auch Geld. Das Verteidigungs-, Weltraum- und Servicegeschäft spielte rund zwei Milliarden Dollar ein.
Airbus will seine Bilanz am 18. Februar vorlegen. Für die ersten neun Monate gab es einen Umsatzeinbruch von 35 Prozent und einen Verlust von 2,69 Milliarden Euro. Weil sowohl die USA als auch die EU die Luft- und Raumfahrt als Pfeiler der Industriepolitik sehen, dürften beide Unternehmen im Zweifel vom Staat finanziell gestützt werden.
Wen sehen Analysten vorne?
Die Corona-Krise stoppte das jahrelange Gipfelrennen beider Aktienkurse jäh. Nach dem Absturz legen beide Papiere nun aber wieder zu. Airbus liegt momentan bei rund 92 Euro, Boeing bei 178 Euro (216 Dollar). Laut Onlineportal Finanzen.net stufen vier Analysten die Boeing-Aktie auf „Kaufen“ ein, vier auf „Halten“.
Das durchschnittliche Kursziel wird mit 253 Dollar angegeben. Bei Airbus empfehlen neun Analysten „Kaufen“ und vier „Halten“. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei rund 100 Euro. Die US-Investmentbank Goldman Sachs hält beide Titel für Unternehmenswerte, die man unbedingt im Portfolio haben sollte.
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Wer hat Vorteile beim Zukunftsthema „grünes Fliegen“?
Airbus kündigte im September den ersten großen Schritt an. Es werde an drei Konzeptstudien gearbeitet, die mit „grünem“ Wasserstoff als Antrieb fliegen sollen. Bis 2035 soll ein emissionsfreies Flugzeug in der Luft sein. Boeing ist bei dem Thema sehr viel zurückhaltender. Aber auch die US-Amerikaner würden zusammen mit der US-Raumfahrtbehörde Nasa an Emissionsreduzierungen und elektrischem Fliegen und Hybridantrieb arbeiten, sagt Großbongardt.
„Der Druck aus der Politik, von Passagieren und aus dem Kapitalmarkt mit Pensionsfonds und Flugzeugfinanzierern ist immens, die Luftfahrt zu dekarbonisieren“, also weg vom Kohlenstoff als Antriebsbasis zu kommen. Der neue US-Präsident Joe Biden dürfte weiter Druck machen. Alle Beteiligten würden an dem Thema arbeiten, Airbus verkaufe sich vor allem besser. Der Weg zum „grünen Fliegen“ sei aber ein weiter, weil auf der technischen Seite viel passieren müsse, so Großbongardt. „Ein kleiner Regionalflieger mit Wasserstoffantrieb für etwa 80 Passagiere könnte aber bis 2035 zu schaffen sein.“