Hamburg. Andreas Schildt ist einer der 840 Mitarbeiter im Hermes-Retourenbetrieb in Hamburg. 2021 wird der Standort geschlossen.

36 Jahre lang hat Andreas Schildt für Otto in Bramfeld Lkw ausgeladen und schwere Pakete geschleppt. Eine körperlich anstrengende Schufterei. Jetzt soll er seinen Job verlieren. Es wird schwierig für ihn sein, noch etwas Neues zu finden, denn er geht auf die 60 Jahre zu.

Drei seiner Kinder leben mit einer Behinderung zu Hause, er muss sich kümmern und sein Leben lang Verantwortung für sie übernehmen. Doch trotz all dieser persönlichen Probleme weiß der Hamburger genau, was ihn am meisten trifft: Er verliert nicht nur seine Arbeit, sondern seine zweite Familie.

Retourenbetrieb-Schließung: 840 Beschäftigte betroffen

Vor wenigen Tagen war bekannt geworden, dass der Retourenbetrieb der Otto-Tochter Hermes Fulfilment geschlossen wird. 840 Beschäftigte müssen gehen – und für sie gibt es wohl keine Chancen, im Konzern unterzukommen. Es sind Mitarbeiter aus 69 Nationen. Frauen und Männer, die sich im Norden der Hansestadt Tag für Tag um Tausende Pakete kümmern.

Um Schuhe, die den Kunden von Otto oder Bonprix zu klein waren und die sie deshalb zurückgeschickt haben. Um Schränke oder Lautsprecher, die nicht in die Wohnzimmerecke passten und daher als Retoure wieder bei dem Versandhändler landeten. „Das Miteinander, das wir hier hatten, wird nie mehr zurückkommen“, beschreibt Schildt das traurige Ende für ihn und seine Kollegen.

Die Integration hat funktioniert

Der kräftige Mann mit dem grauen, langen Bart ist mehr als enttäuscht, dass sein Betrieb in Hamburg vor dem Aus steht. Denn eigentlich hatte er immer allen Grund, auf seinen Arbeitgeber stolz zu sein: „Wenn Angela Merkel uns besucht hätte, mit dem Gedanken im Kopf, was sie 2015 gesagt hat, dieses ,Wir schaffen das‘, dann hätte sie erlebt, dass es tatsächlich geht“, erzählt der Hamburger. „Denn bei uns hat die Integration funktioniert.“

Wenn Schildt morgens die Halle aufschließt, eilt mitunter ein ehemaliger Lehrer aus Ghana vom Bus zum Otto-Gelände. Es gibt Kollegen wie den Mann aus Venezuela, der in seiner Heimat als Lkw-Fahrer überfallen worden und gerade so mit dem Leben davongekommen war. Viele Frauen aus Asien sind dabei, etliche Mitarbeiterinnen aus muslimischen Ländern packen mit an. „Und wir haben uns alle immer gegenseitig geholfen“, sagt Schildt, „ganz selbstverständlich“.

Als ein Schwarzafrikaner Probleme hatte, seine Familie in Hamburg unterzubringen, habe Schildt mit seiner Frau überlegt, mit etwas Platz in der oberen Etage auszuhelfen. „Im Sommer haben wir hier im Garten Grillfeste gefeiert, und es waren Leute aus sieben Ländern bei uns“, zeigt er auf sein kleines Reich in Allermöhe, auf die mit Bambus und Holz eingerichtete Sitzecke vor seinem Reihenhaus in einer Wohnsiedlung.

Schildt denkt viel an seine Kollegen

Schildt, der nach der Lehre als Maler und Lackierer bei Otto angefangen hat und nun seinen Job als Lagerarbeiter verliert, denkt viel an seine Kollegen. Er weiß, dass er sie vermissen wird. Und er bangt um die Zukunft etwa der Flüchtlinge, die hier ein Zuhause gefunden haben und nun bald auf der Straße stehen – beruflich gesehen. Diese Gedanken bewegen ihn fast noch mehr als die Sorge um seine eigene Existenz.

Dabei muss er das Haus, für das er sich mit 280.000 Euro verschuldet hat, noch einige Jahre lang abbezahlen. Und die Söhne Aaron, Amos und Noah sind zwar erwachsen, haben aber das Asperger-Syndrom und können nur schwer für sich selber sorgen. Seine Frau Birgit, die ebenfalls lange bei Otto gearbeitet hat, kümmert sich jetzt komplett um Familie und Haushalt.

„Ob ich überhaupt noch etwas Neues bekomme, ist ungewiss“, sagt der 57-Jährige. Nach mehreren Bandscheibenvorfällen mache der Rücken Probleme. „Und die Knie fangen auch an“, zählt der Familienvater seine Malaisen auf. Der erste Urlaub ihres Lebens, den sich die Familie in diesem Jahr leisten wollte, eine Reise nach Dänemark, ist wegen Corona ausgefallen. Schildt ist dennoch kein Jammerer. „Anderen geht es noch viel schlechter“, sagt er munter, dennoch empfindet er beim Gedanken an das Aus für seine Firma große Enttäuschung.

Tradition steht vor dem Aus

„Früher wenn Werner Otto durch die Hallen ging, schüttelte er den Leuten die Hand“, sagt Schildt über alte Zeiten, in denen der Firmengründer das Unternehmen prägte. Damals habe der Mensch im Vordergrund gestanden, die Philosophie, dass man teilen müsse. Sonnabends gab es Brötchen für alle, und auch die nächsten Generationen, Michael Otto und seine Kinder, hätten sich zumindest zum Jahresende bei allen sehen lassen. „Wir fühlten uns als Familienunternehmen“, sagt Schildt über das Selbstverständnis in der Otto Gruppe.

Wenn sein Bereich nun in der zweiten Jahreshälfte 2021 geschlossen und die Arbeit nach Polen und Tschechien verlagert wird, sieht er auch diese bisher gelebte Tradition vor dem Aus. „Wir haben seit 2006 auf zwölf Prozent unseres Gehaltes verzichtet, um die Kosten zu senken“, erzählt Schildt. Gleichzeitig seien schon Kollegen nach Osteuropa gefahren, um die Polen und Tschechen anzulernen. „Und jetzt gibt es für uns gar keine Aussichten mehr.“

Das Management nennt den Standort unrentabel

Zwar haben die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und der Betriebsrat schon angekündigt, für den Retourenbetrieb in Hamburg zu kämpfen. Doch bisher ist nichts Konkretes geplant. Und außerdem, teilte das Management mit, sei die Entscheidung für das Ende des Bereichs besiegelt. Der Standort sei wirtschaftlich nicht mehr rentabel und könne deshalb leider nicht länger aufrechterhalten werden, hieß es vom Konzern.

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Derweil treibt die Mitarbeiter auch die Frage um, ob die Verlagerung des Logistikzentrums, das seit den 1960er-Jahren in Hamburg betrieben wird, überhaupt sinnvoll ist: „Jetzt sollen die Pakete aus ganz Deutschland mehrere Hundert Kilometer in den Osten gefahren werden“, beklagt Schildt.

Auch mit Blick auf die Umweltverträglichkeit der Strategie fragt sich der Hamburger: „Wo führt das noch hin?“ Und schließlich kämpften auch die Polen um weiter steigende Löhne. „Vielleicht“, sagt Schildt, „geht dann irgendwann alles nach Marokko – wie bereits beim Krabbenpulen.“