Berlin. Der Wirecard-Skandal hat zig Kleinanleger um viel Geld gebracht. Sie wollen sich wehren. Ins Visier geraten dabei Wirtschaftsprüfer.

Der 18. Juni war der Tag, an dem Ingo H. um seine Altersvorsorge gebracht wurde. 140.000 Euro hatte der 45-jährige Familienvater aus Brandenburg in Aktien des Zahlungsdienstleisters Wirecard investiert. Ein langfristiges Investment sollte die Geldanlage darstellen, vom Wachstum des Zahlungsdienstleisters war Ingo H. überzeugt.

Der Brandenburger ist Unternehmer im Onlinehandel selbstständig, das Geschäftsmodell von Wirecard erschien ihm daher schlüssig. „Als Selbstständiger hat man heute kaum Möglichkeiten, um eine Altersvorsorge mit Rendite abzuschließen. Private Rentenversicherungen verbrennen nur Geld, und auf dem Sparbuch gibt es erst recht keine Zinsen mehr“, sagt der 45-Jährige.

Also investierte er in Wirecard-Aktien. „Wirecard passte einfach perfekt. Ich bin selbst technikaffin, zugleich war es mir wichtig, dass das Geld in Deutschland bleibt. Und ich wollte die Sicherheit, die der Dax generiert. Immerhin habe ich in die Regularien, die Schutzmechanismen und die Berichte der Wirtschaftsprüfer vertraut“, so der Brandenburger.

Wirecard-Skandal: Wirtschaftsprüfer geraten unter Druck

Doch genau diese Regularien und Schutzmechanismen haben versagt. Am 18. Juni verweigerte die Wirtschaftsprüfgesellschaft EY Wirecard das Testat für den Jahresabschluss. Es folgte ein historischer Börsenabsturz, der in der Insolvenz des Zahlungsdienstleisters und am vergangenen Freitag mit dem Ausscheiden aus dem Deutschen Aktienindex (Dax) endete.

Das Wertpapier kostet mittlerweile nur noch knapp über einen Euro, zu Hochzeiten war die Aktie fast 200 Euro wert. Aufsichtsbehörden wie die Bafin stehen unter massivem Druck.

Noch schlimmer aber könnte es die Wirtschaftsprüfer treffen. Ihre Aufgabe ist es, die Jahresergebnisse der Unternehmen auf deren Richtigkeit zu prüfen. Bei Wirecard gab es bereits erste Hinweise auf mögliche Manipulationen im Jahr 2008.

Seit 2009 testierte die Wirtschaftsprüfgesellschaft EY, die sich damals noch Ernst & Young nannte, die Jahresabschlüsse von Wirecard. Auch im vergangenen Jahr gab EY für den Wirecard-Jahresabschluss 2018 grünes Licht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Wirecard laut Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft schon seit mindestens drei Jahren Umsätze erfunden.

Auf EY rollt nach Wirecard-Skandal Klagewelle zu

Auf EY rollen nun Klagewellen zu – auch weil es bei Wirecard selbst wohl nicht mehr viel zu holen gibt. Die Insolvenzmasse dürfte nicht annähernd für eine Entschädigung reichen. „Es hat keinen Sinn, jemanden zu verklagen, der schon kaputt ist und bei dem nichts mehr zu holen ist“, sagt der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Schirp.

In Kooperation mit seinem Kollegen Marc Liebscher reicht Schirp stattdessen Sammelklagen von geschädigten Investoren gegen die Abschlussprüfer von EY ein. Schon jetzt hätten sich 4000 Kläger gemeldet, das erste Dutzend Klagen sei bereits beim Landgericht Stuttgart eingereicht. Weitere potenzielle Kläger würden noch auf eine Prozessfinanzierung warten.

Die Klagen richten sich gegen den deutschen Ableger von EY, die Ernst Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit Sitz in Stuttgart. Schirp erhofft sich, Ansprüche in Höhe von über 500 Millionen Euro geltend machen zu können.

Er setzt dabei auf die globale Größe von EY. Zwar ist der Haftungsanspruch auf die deutsche EY-Tochter und nicht den Gesamtkonzern beschränkt. „Dass EY aber seine wichtige deutsche Tochtergesellschaft insolvent gehen lässt, halte ich für undenkbar“, sagt Schirp. Ein solches Szenario, so der Berliner Rechtsanwalt, könnte das Ende des Gesamtverbundes von EY einläuten.

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    EY gehört zum Oligopol der „Big Four“

    Ob aber tatsächlich der globale Konzern seiner deutschen Tochter zur Seite springen würde, ist Spekulation. Zwar zählt die Wirtschaftsprüfgesellschaft mit einem Jahresumsatz von 36,4 Milliarden Dollar (umgerechnet 30,81 Milliarden Euro) und über 260.000 Mitarbeitern neben Deloitte, KPMG und PricewaterhouseCoopers (PwC) zum Oligopol der „Big Four“, der größten vier Wirtschaftsprüfgesellschaften der Welt.

    Doch schon einmal riss ein Bilanzskandal einen prominenten Wirtschaftsprüfer in den Abgrund: Nachdem der US-Energieriese Enron Anfang der 2000er seine Bilanzen aufgebläht hatte, musste im Zuge des Skandals auch die Prüfgesellschaft Arthur Andersen die Segel streichen, aus den „Big Five“ der Branche wurden die „Big Four“.

    Auch Anlegerschützer haben nach Wirecard-Skandal Klagen vorbereitet

    Die Anlegerschützer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) haben ebenfalls Klagen vorbereitet, diese aber noch nicht eingereicht. „Für die DSW ist entscheidend, den besten Weg für die geschädigten Anleger zu finden. Also den Weg, der den größten Mehrwert bringt“, sagt DSW-Sprecher Jürgen Kurz. Ob dieser Weg am Ende über eine Klage führt, sei noch unklar – auch weil man aktuell noch wenig wisse.

    „EY ist nach wie vor zur Verschwiegenheit verpflichtet. Davon müssten sie schnellstmöglich befreit werden. Man darf schließlich nicht vergessen, dass der Insolvenzverwalter, der im Gegensatz zu den Anlegern, die Möglichkeit hat, die vollständigen Testate anzufordern, nicht die gleichen Ziele verfolgt, wie die betroffenen Wirecard-Aktionäre. Deshalb muss die zurzeit herrschende Informationsasymmetrie endlich beendet werden“, sagt Kurz.

    Dürfte EY die kompletten Bewertungen und erweiterten Testate vorlegen, die bisher nur dem Wirecard-Aufsichtsrat und der Geschäftsführung bekannt sind, ließe sich deutlich besser beurteilen, welche Fehler tatsächlich bei EY lagen.

    Grundsätzlich hält Kurz EY für den einzig wirklich solventen Gegner möglicher Klagen. Bei der Wirecard AG und den federführenden Personen sei wohl kaum genug zu holen. Bei einer Klage gegen die BaFin rechnet der Anlegerschützer mit eher geringen Erfolgsaussichten. Bei der DSW sorgt das Wirecard-Thema jedenfalls für viel Arbeit – über 6000 geschädigte Anleger hätten sich bereits für einen extra geschaffenen Informationsdienst registriert.

    Bericht: Schauspieler sollen Bankmitarbeiter gemimt haben

    Um EY aber überhaupt belasten zu können, müssen die Anwälte dem Unternehmen vorsätzliches, zumindest aber leichtfertiges und gewissenloses Handeln nachweisen. EY selbst spricht von einem „umfassenden Betrug“. Selbst mit erweiterten Prüfungshandlungen sei es „unter Umständen nicht möglich“, einen „konspirativen Betrug“ aufzudecken, so EY. Viel mehr darf das Unternehmen aktuell nicht sagen – es unterliegt einer Verschwiegenheitsverpflichtung.

    Die Wirecard-Spitze jedenfalls schien sich ins Zeug gelegt zu haben, um den mutmaßlichen Betrug zu vertuschen. Laut Recherchen des „Manager Magazins“ gehe die EY mittlerweile davon aus, dass der flüchtige Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek Schauspieler engagiert haben soll, die Bankmitarbeiter spielten.

    Ganze Kulissen sollen demnach errichtet worden sein, um vorzutäuschen, dass es sich um echte Bankfilialen handelte. EY wollte die Aussagen auf Anfrage unserer Redaktion nicht bestätigen. Allerdings habe man im Rahmen der Abschlussprüfung für 2019 entdeckt, dass gefälschte Saldenbestätigungen und weitere gefälschte Unterlagen vorgelegt worden seien, teilte EY mit.

    Hat EY Saldenbestätigungen von Banken angefordert?

    Kann man bei solchen Umsätzen wirklich von Vorsatz sprechen? Rechtsanwalt Schirp findet das schon. Er zielt auf die vorherigen Geschäftsberichte ab, bei denen „die Prüfer noch nicht einmal eine Saldenbestätigung von der Bank angefordert haben“, wie Schirp sagt.

    Nur: Bevor Wirecard seine fehlenden 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen geparkt haben wollte, sollte das Geld in Singapur liegen. Singapur ist für sein strenges Bankgeheimnis bekannt. EY musste zwar Wirecards Treuhänder prüfen, ob es aber zusätzlich von den Banken Saldenbestätigungen erhielt, sagt EY nicht. Auch hier sei man zur Verschwiegenheit verpflichtet. Doch selbst wenn die Wirtschaftsprüfer keine Saldenbestätigungen angefordert hätten, so ist offen, ob sie das überhaupt gemusst hätten. Denn die Prüfung eines Jahresabschlusses ist keine forensische Untersuchung.

    Verbraucherschützer rät zur Abwägung

    Ob geschädigte Anleger sich nun zeitnah einer Klage anschließen, sollten sie sich vorher genau überlegen, rät Verbraucherschützer Ronny Jahn, Jurist beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). „Momentan ist noch vieles unklar“, sagt Jahn. „Die Hektik und der Zeitdruck mancher Kanzleien ist aber unangemessen.“ Eine Verjährung des Falls droht laut dem Verbraucherschützer erst Ende 2023. Wer jetzt im „Windhundverfahren“ darauf setze, als Erstes eine Klage einzureichen, um auch als Erstes Ansprüche durchzusetzen, könnte am Ende enttäuscht werden, warnt Jahn.

    „Sollte EY beispielsweise Insolvenz anmelden müssen, dann nützt auch ein Windhundverfahren nichts.“ Die Risiken seien derzeit noch nicht abschätzbar. „Wo eine Klage außer dem Versprechen einer Erfolgsprovision für die Verbraucher noch Geld kostet, muss man das sehr genau abwägen“, sagt Verbraucherschützer Jahn. Ansonsten drohe die Gefahr, dass man „gutes Geld schlechtem hinterherwirft“, so Jahn. Planungssicherheit werde erst ein Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) bringen. Wann das aber erfolgt, ist unklar.

    Ingo H. hingegen geht das Risiko ein, er hat sich einer selbst finanzierten Sammelklage angeschlossen. „Wäre es um einen kleinen Betrag gegangen, hätte ich es vielleicht unter Lehrgeld verbuchen können“, sagt der Unternehmer. „Aber bei der Summe als entscheidendem Baustein meiner Altersvorsorge möchte ich nicht kampflos aufgeben.“

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