Hamburg. Kammann und seine Crew dürfen in Coronazeiten nicht von Bord der „Essen Express“. Das Abendblatt sprach mit dem Kapitän.
Tobias Kammann wirft einen Blick auf den Radarbildschirm. Freies Wasser. Volle Fahrt voraus, volle Fahrt ins Ungewisse. Die 366 Meter lange „Essen Express“ der Hamburger Reederei Hapag-Lloyd pflügt ihren Bug durch das Mittelmeer. Das Containerschiff mit einer Kapazität von 13.100 Standardcontainern ist auf dem Weg vom spanischen Hafen Valencia nach Tanger in Marokko.
Eigentlich eine ganz normale Überfahrt für Kapitän Kammann und seine 23 Mann Besatzung. Und doch ist etwas anders. Kammann ist seit vier Monaten an Bord. Er hätte vor einigen Tagen in Barcelona aussteigen und seinen Urlaub antreten sollen. Aber er durfte nicht, wegen der Coronapandemie und ihren Folgen konnte niemand das Schiff verlassen.
Tausend Seeleute können nicht an Land gehen
Kammann ist nicht allein. Viele Tausend Seeleute an Bord internationaler Handelsschiffe sind dort gefangen und können nicht an Land gehen. Und das Problem wird von Tag zu Tag größer. Um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, haben viele Häfen rund um den Globus Beschränkungen und Regeln erlassen, die eine Einreisesperre oder zumindest eine mehrwöchige Quarantäne für alle Einreisenden umfassen.
Für Seeleute, die nach einer Fahrt auf den Weltmeeren nach Hause wollen, fehlen zudem Flugverbindungen in ihre Heimat. Die Crews werden deshalb meist nicht mehr wie gewohnt getauscht, sondern bleiben an Bord. „Natürlich hatte ich mich darauf gefreut, meine Familie wiederzusehen“, sagt Kammann, der mit seiner Frau und der achtjährigen Tochter in Gevelsberg in Nordrhein-Westfalen wohnt. „Vor allem hatte ich mir vorgenommen, meine Frau, die im Homeoffice arbeitet, zu entlasten.“
Doch daraus wird nun nichts. Nach dem Stopp im Mittelmeer wird der Kapitän das Schiff wieder Richtung Asien steuern, um die Rundreise zu beenden. „Vielleicht hat sich die Lage dort wieder so weit beruhigt, dass wir den Crewwechsel in einem anderen Hafen vornehmen können.“
Als Kammann an Bord ging, war Corona nur in China Thema
Die „Essen Express“ sei wie alle Handelsschiffe auf den großen Seereisen in den Schlamassel so nach und nach hineingerutscht, erzählt Kammann dem Abendblatt über Satellitentelefon. Als er an Bord ging, sei Corona nur in China ein Thema gewesen. Die „Essen Express“ fährt im Hapag-Lloyd-Dienst MD1. Sie verbindet Busan in Südkorea und alle großen chinesischen Häfen mit Dschidda in Saudi-Arabien und dem Mittelmeer. Crewwechsel seien kein Problem gewesen. Aber mit der Ausbreitung des Virus habe sich das schnell geändert.
Kammann hat zwei philippinische Matrosen an Bord, die schon länger festsitzen. Deren Landurlaub hätte bereits am 22. Februar angestanden. Aber da war dieser bereits nicht mehr möglich. „Erschwerend kam hinzu, dass auf den Philippinen alle Flüge über die Hauptstadt Manila gehen. Doch da war schon alles zu.“ Wie bringt man diese Nachrichten als verantwortlicher Offizier seiner Besatzung bei? „Man spricht mit den Leuten. Sie sind natürlich – so wie jeder andere – in Sorge um ihre Familien“, sagt der 39-jährige.
„Seeleute lieben die Routine, und so machen wir unseren Dienst normal weiter.“ Hapag-Lloyd hat aber Maßnahmen ergriffen, um die Kommunikation mit zu Hause zu unterstützen. Dafür hat die Reederei die Internet-Kapazität für die Crew erhöht, und Kammann versucht in den Häfen zu ermöglichen, dass die Crew SIM-Karten kaufen kann, damit Gespräche über Videochat mit der Familie funktionieren.
Temperaturmessen fester Bestandteil der täglichen Bordroutine
Selbst von Bord zum Einkaufen darf aber niemand. „Sowohl in China als auch in Südkorea wurde nach dem Einlaufen von den Behörden bei allen Besatzungsmitgliedern die Temperatur gemessen“, berichtet der Kapitän, der zwischen Asien und Europa unterwegs ist. „Zusätzlich werden Fragen gestellt, wann man angemustert hat, ob man irgendwo an Land war und ob man Kontakt zu Infizierten hatte.“ Das Temperaturmessen sei schon fester Bestandteil der täglichen Bordroutine geworden. „Viele Häfen haben Checklisten vor dem Einlaufen eingefordert. Ebenso werden von den Häfen wesentlich mehr Formulare zum Gesundheitszustand der Crew verlangt als in normalen Zeiten.“
Besucher an Bord, etwa die Lascher zum Beladen und Entladen von Containern, dürfen nur mit Schutzmaske und Handschuhen arbeiten. Gleiches gelte für Lotsen oder Hafenagenten. Die Vorschriften seien insbesondere in China sehr rigide, sagt Kammann. „Da kam der Lotse mit Schutzanzug, Brille, Mundschutz und Handschuhen an Bord. Er vermied es, den engen Fahrstuhl zu betreten, sondern ging außen herum auf die Brücke. Die ist 50 Meter hoch. Wir hatten eine vierstündige Revierfahrt vor uns. Es war extrem heiß. Dem Lotsen lief das Wasser über den Körper, aber er lockerte seinen Schutz nicht. Als er von Bord ging, wurde seine Tasche eingesprüht und desinfiziert, seine Schutzkleidung in einen Müllsack gesteckt und dieser dann auch noch einmal eingesprüht“, erinnert sich Kammann an die gespenstische Situation.
Viele Seeleute müssen notgedrungen ihre Verträge verlängern
Für Hafenagenten, die beispielsweise zur Abwicklung der Zollformalitäten und Gebühren an Bord kommen, gelten klare Bestimmungen. Kammann lädt sie nicht in sein Büro ein, sondern in einen Konferenzraum. Dort wird ihnen immer der gleiche Stuhl zugewiesen, der leicht zu desinfizieren ist. Auf dem Tisch liegt eine Wachsdecke, die nach jedem Besuch abgewischt wird. „Sind wir auf See unterwegs, tragen wir aber keinen Mundschutz. Dafür leben und arbeiten wir zu eng zusammen“, sagt der Kapitän.
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Viele Seeleute müssen nun notgedrungen ihre Verträge verlängern, statt zur Familie heimzukehren“, sagt Robert Hengster, zuständig für die maritime Wirtschaft bei der Gewerkschaft Ver.di. In normalen Zeiten gehen rund 100 .000 Seeleute pro Monat für längere Seereisen an und von Bord von Handelsschiffen. Je länger das nicht möglich ist, desto größer wird die Zahl der Seeleute, die unfreiwillig an Bord sind. Kammann denkt aber auch an die unbeschäftigten Seeleute, die derzeit zu Hause herumsitzen, weil ihre Anmusterung verschoben wird. „Das sind ja auch viele, bei denen das Geld knapp wird, und die sich fragen, wann sie wieder Beschäftigung finden.“
Brandbrief an die Regierungen der G-20-Staaten
„Den Seeleuten gilt unsere Hauptsorge“, sagt auch Alfred Hartmann, Präsident des Verbandes Deutscher Reeder (VDR). „Die Männer und Frauen an Bord, denen es in dieser Zeit sicher besonders schwer fällt, fernab ihrer Familien zu sein, leisten gerade jetzt einen enorm wichtigen Dienst, für den wir alle sehr dankbar sein sollten.“ Hartmann fordert Ausnahmen von den Einreiserestriktionen für Seeleute. Bislang habe es noch keinen bestätigten Fall einer Coronainfektion an Bord eines Handelsschiffes in der deutschen Flotte gegeben. Damit ist die Lage anders als bei Kreuzfahrtschiffen.
Bislang hat die Politik auf das Problem reagiert, indem sie die maximal zulässige Beschäftigungsdauer an Bord von 12 auf möglichst nicht mehr als 14 Monate für Schiffe mit deutscher Flagge verlängert hat. Die Gewerkschaft und die Reeder fordern, dass Seeleuten ein besonderer Status zuerkannt wird. Grenzüberschreitungen müssten möglich sein, sodass Seeleute wieder weltweit abgelöst und in ihre Heimatländer reisen können.
Crewwechsel dürfen nicht auf lange Bank geschoben werden
Die Welt-Schifffahrtskammer und die internationalen Gewerkschaften der Seeleute haben sich in einem Brief an die Regierungen der G-20-Staaten gewandt, um das Problem auf die Tagesordnung zu setzen. „Die Crewwechsel können aus humanitären Gründen, aber auch aus Gründen der Sicherheit und des Arbeitsrechts, nicht auf die lange Bank geschoben werden“, heißt es dort.
Auch die ärztliche Versorgung in den Häfen müsse abgesichert sein; denn Handelsschiffe haben keinen Arzt an Bord. Zum Glück ist der Proviant gesichert. „Das bekommen wir in allen Häfen ohne Probleme“, sagt Kammann. Er habe sogar auf Anraten der Reederei mehr eingekauft als benötigt. „Für den Fall, dass wir mal irgendwo festhängen.“
Die Nacht ist sternenklar, als die „Essen Express“ gegen 23 Uhr in Tanger anlegt. Als Nächstes geht es für Kammann nach Genua, dann nach Damiette in Ägypten, durch den Sueskanal wieder nach Asien. Und dann, wenn alles klappt, nach Hause. Letzter Stopp Gevelsberg.