Hamburg. Mehr Arbeitnehmer wollen zugunsten ihrer Work-Life-Balance weniger arbeiten. Wie verändert der Trend die Wirtschaft?

Als Hasina Lakdawala vor fünf Jahren beschloss, die Arbeitszeit in ihrem Job deutlich zu reduzieren, gab es nicht nur positive Reaktionen von Kollegen und Freunden. „Viele haben gesagt, du spinnst“, erinnert sie sich. Die Direktionssekretärin bei Otto hatte weder kleine Kinder, pflegebedürftige Eltern noch große Reisepläne. „Ich wollte mich einfach nicht mehr auf die abgezählten Urlaubswochen beschränken, sondern mehr Zeit am Stück für mich haben“, sagt die 53-Jährige.

Ihr Arbeitgeber Otto stimmte einem Jobsharing-Modell zu, inzwischen ist sie nach einem Arbeitsplatzwechsel neun Monate am Stück im Bereich Business Intelligence im Einsatz und analysiert Daten für die Prozessoptimierung. Von Juni bis September hat sie komplett frei. Sie kann einfach nichts tun, ein Buch lesen, im Garten sitzen, spontan wegfahren. Die Kehrseite: Am Monatsende ist ein Viertel weniger Geld auf dem Konto. „Ich habe mir das genau überlegt und entschieden, dass ich lieber mehr Zeit als mehr Geld habe“, sagt Lakdawala. Zumal sich aus ihrer Sicht noch etwas verändert hat. „Ich bin in der Zeit, in der ich arbeite, motivierter und habe mehr Energie.“ Auch im Kollegen- und Freundeskreis hat sich die Stimmung geändert. „Viele beneiden mich inzwischen.“

Studie: Mehrheit will lieber mehr Freizeit als mehr Geld

Die Hamburgerin ist Vorreiterin eines Trends, der die Arbeitswelt massiv verändern könnte. Immer mehr Menschen in der deutschen Wohlstandsgesellschaft im 21. Jahrhundert sind die durchschnittlich 250 Arbeitstage im Jahr und 39 Stunden in der Woche zu viel. Sie wollen weniger arbeiten und sind dafür häufig auch bereit, auf Geld zu verzichten.

Eine Erhebung der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di im vergangenen Jahr hat ergeben, dass die Mehrheit der 200.000 Befragten (57 Prozent) eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit gegen eine tarifliche Gehaltserhöhung eintauschen würden. Frauen waren laut der Studie offener für das Thema als Männer. Menschen in der Lebensmitte zeigen mehr Bereitschaft als sehr junge und ältere Arbeitnehmer. Und, kaum verwunderlich, Besserverdiener mehr als Einkommensschwache. Bei der Umsetzung favorisierte die Mehrheit eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit (57 Prozent) vor zusätzlichen freien Tagen (45 Prozent) und Arbeitszeitkonten (34 Prozent).

Mehr Arbeitnehmer entscheiden sich für ausgeglichene Work-Life-Balance

„Das ist eine Grundlage für die Tarifrunde in Hamburg Ende des Jahres“, sagt Sieglinde Frieß, stellvertretende Ver.di-Landesleiterin in Hamburg und verantwortlich für die Tarifkoordinierung. Die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten gehört seit dem 19. Jahrhundert, als noch Arbeitstage mit 16 Stunden üblich waren, zu den zentralen Zielen der Gewerkschaften. Angesichts des Fachkräftemangels stellen sich auch die Firmen inzwischen darauf ein. Bei der Deutschen Bahn etwa konnten die Beschäftigten erstmals 2017 zwischen mehr Zeit oder mehr Geld wählen. 59 Prozent entschieden sich für mehr Freizeit. Es gibt inzwischen zahlreiche Modelle. Technologie-Konzerne wie SAP oder Hewlett-Packard schenken ihren Mitarbeitern zum Beispiel bezahlte Familienzeit.

Bei der Deutschen Telekom haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im vergangenen Jahr auf eine verkürzte Arbeitszeit für die 55.000 tariflich Beschäftigten in Deutschland geeinigt. „Für uns gilt eine Wochenarbeitszeit von 36 Stunden“, sagt der Hamburger Telekom-Betriebsrat Manfred Becker. Vorher waren es 38 Stunden. Hintergrund war allerdings weniger das Freizeitbedürfnis der Mitarbeiter als der absehbare Abbau von Arbeitsplätzen in der Branche durch die Digitalisierung. Dafür verzichteten die Arbeitnehmer auf einen Teil der Lohnerhöhung.

Telekom-Mitarbeiter haben zusätzlich 14 Tage frei

„Statt jeden Tag einige Minuten früher Feierabend zu machen, gibt es umgerechnet 14 Tage mehr Urlaub im Jahr“, so Becker. Angesichts des Arbeitsdrucks seien viele Kollegen anfangs skeptisch gewesen und hätten gar nicht gewusst, was sie mit der zusätzlichen Freizeit machen sollten. Tatsächlich haben aber laut einer Auswertung nach einem Jahr nur drei der 2500 Mitarbeiter in Hamburg die freien Tagen gar nicht in Anspruch genommen, etwa 50 ließen sie auf ihr Lebensarbeitszeitkonto schreiben.

„Zeit könnte die Währung der Zukunft sein“, sagt Professor Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. „Gerade die jüngere Generation will Ernst machen mit einer ausgewogenen Lebensbalance, identifiziert sich nicht mehr über den Beruf, sondern zunehmend auch über die Tätigkeiten in der Freizeit“, so der Wissenschaftler, der zurzeit in den USA ist und an einer Universität in North Carolina lehrt und forscht. Das könne mehr Zeit für sich sein, für Familie und Freunde, fürs Nichtstun, für Hobbys – vielleicht sogar für ein Ehrenamt.

Allerdings gelte das nicht für jeden. Viele schrecke der geringere Verdienst, die Sorge vor der Altersarmut und die noch immer starren Strukturen vieler Arbeitgeber ab. Eine wichtige Rolle für die Veränderungen spiele, dass die Arbeitswelt der Zukunft deutlich weiblicher geprägt sein werde. „Damit steht auch eine neue Verteilung der familiären Rollen bevor.“ Die Vorstellung, dass den Männern eine naturgegebene Rolle des Hauptverdieners und Familienversorgers und den Frauen – über den Haushalt und die Kindererziehung hinaus – allenfalls die Rolle einer teilzeitbeschäftigten Zuverdienerin zukommt, werde zukünftig an Bedeutung verlieren.

Otto-Mitarbeiterin hat neben dem Job ein Café mitgegründet

Hasina Lakdawala, Kristin Jordan und Susann Hinz arbeiten beim Online-Händler Otto in verschiedenen Teilzeit-Modellen.
Hasina Lakdawala, Kristin Jordan und Susann Hinz arbeiten beim Online-Händler Otto in verschiedenen Teilzeit-Modellen. © Roland Magunia

Beim Online-Händler Otto gibt es inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher Teilzeitmodelle. „Aus meiner Beobachtung lässt sich ein klarer Trend erkennen, dass Menschen neben dem Job noch etwas anders machen wollen“, sagt Ulrike Andraschak, die in der Personalabteilung des Unternehmens für Diversity-Management und Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Teilzeit für Führungskräfte zuständig ist. Insgesamt arbeite bei Otto heute fast jeder Zweite nicht Vollzeit. „Teilzeitjobs sind stärker individualisiert“, so die Personalmanagerin.

Früher seien es vor allem Mütter gewesen, die halbe Tage gearbeitet hätten. Jetzt gebe es viele unterschiedliche, teils temporäre Bedürfnisse, zunehmend auch bei Männern. Dazu gehören ein berufsbegleitendes Studium, eine Promotion, Selbstständigkeit, Profisport oder die Pflege von Angehörigen. Besonders auffällig ist, so Andraschak, dass der Anteil der Führungskräfte in Teilzeit wächst, von 9,5 Prozent 2018 auf 14,2 Prozent in diesem Jahr. So arbeitet auch Personalvorständin Katy Roewer 80 Prozent, um unter anderem Zeit für ihren Sohn zu haben.

Auch Kristin Jordan, die als interner Coach arbeitet, hat ihre Arbeitszeit bei Otto auf vier Tage reduziert. Die 33-Jährige hat in Lüneburg das nachhaltige Café Avenir mitgegründet, das sie gemeinsam mit Freunden betreibt. „Freitag ist mein Café-Tag“, sagt sie. Auf die Woche gerechnet arbeite sie jetzt wahrscheinlich mehr als früher. „Aber für mich ist das Leidenschaft und Freizeitgestaltung.“ Negative Folgen für ihre Karriere bei Otto habe das eigene Geschäft nicht, betont Jordan. „Es hat sich positiv ausgewirkt, auch weil ich meine Erfahrungen aus der Selbstständigkeit einbringen kann.“ Ganz ähnlich ist es bei Marketing-Fachfrau Susann Hinz, die montags bis donnerstags knapp fünf Stunden arbeitet, um Zeit für ihre zweijährige Tochter zu haben. „Davor hatte mein Mann reduziert“, sagt die 37-Jährige, die parallel zwei Online-Shops aufbaut, in denen sie faire Mode verkauft. „Es ist toll, dass das möglich ist“, sagt sie. Denn für sie ist diese Freiheit wichtiger als ein volles Gehalt.

Hamburger Kanzlei bietet Vier-Tage-Woche – ohne Lohnabzug

Inzwischen reagieren immer mehr Arbeitgeber auf den Trend. In Skandinavien wird schon länger mit dem Sechs-Stunden-Tag experimentiert. In Österreich hat das Online-Marketing-Unternehmen eMagnetix die Wochenarbeitszeit vor zwei Jahren auf 30 Stunden reduziert – bei vollem Lohnausgleich. In Deutschland sorgt der Chef der Bielefelder Agentur Digital Enabler, Lasse Rheingans, immer wieder für Schlagzeilen, nachdem er einen Fünf-Stunden-Arbeitstag für seine 16 Mitarbeiter einführte. Auch in Hamburg gibt es erste Vorreiter.

Die Wirtschafts- und Steuerkanzlei Rose & Partner am Jungfernstieg hat im Mai 2019 die 36-Stunden-Woche für alle bei vollem Gehalt eingeführt. In der Regel arbeiten Rechtsanwälte 53 Stunden in der Woche. Bei den Hamburger Fachanwälten ist die Arbeitswoche nach vier Tagen vorbei. Die erste Bilanz ist positiv. „Es kostet ein bisschen mehr Geld, aber wir haben zufriedenere Mitarbeiter und mehr Stabilität im Team. Und das Arbeitspensum schaffen wir trotzdem, da weitere Mitarbeiter eingestellt wurden und insgesamt produktiver gearbeitet wird“, sagt Bernfried Rose.

Der Familienvater hat seine Arbeitswoche schon seit der Geburt seines ersten Kindes vor gut neun Jahren auf vier Tage reduziert. Und er ist damit sehr zufrieden. Die sechs Partner der Kanzlei sind seinem Vorbild inzwischen gefolgt. Seit Mai 2019 gilt das Arbeitszeitmodell für alle 40 Mitarbeiter. Dabei legt Jurist Rose Wert darauf, „dass es keine Mogelpackung wird“. Beschäftigte mit weniger Stunden haben als Ausgleich eine Gehaltserhöhung bekommen. „Wir können uns das leisten“, sagt der 48-Jährige angesichts von Anwaltsgehältern zwischen 65.000 und 160.000 Euro. Die Gefahr, dass Kollegen zu Hause weitermachen, sieht er nicht. Und wenn doch, gleichen sie es an anderen Tagen aus. „Das Modell funktioniert nur, wenn es von allen gelebt wird, also Teil der Kanzleikultur wird.“ In der Branche kommt es offenbar gut an. „Wir haben einen guten Zugang zu jungen Talenten“, sagt Rose. „Auch Leute, die woanders mehr verdienen könnten, bleiben lieber bei uns.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Fünf-Stunden-Tage bei Steuerberater in Schenefeld

Im Steuerberatungsbüro von Erich Erichsen in Schenefeld wird seit Jahresbeginn nur noch von 8 bis 13 Uhr gearbeitet – 25 Stunden in der Woche. „Niemand kann acht Stunden Vollgas geben“, sagt er und zitiert Studien, nach denen eine Vollzeit-Arbeitskraft nur 60 bis 65 Prozent Effektivität hat. Er ist zuversichtlich, dass seine fünf Beschäftigten die gleiche Anzahl an Mandaten in fünf Stunden am Tag schaffen. „Wir sind eine digitale Kanzlei und arbeiten sehr effektiv“, sagt der 45-Jährige.

Bedenken, dass die Arbeitsverdichtung und Produktivitätserhöhung auf die Dauer an die Substanz gehen, hat Erichsen dabei nicht. „Es sind ja immer die gleichen Prozesse von der monatlichen Buchhaltung bis zum Jahresabschluss.“ Zudem gilt: kein Smartphone und private Gespräche mehr während der Arbeitszeit. Dafür ist ja dann am Nachmittag ausreichend Zeit. Schon nach den ersten Wochen zeige sich, dass die Mitarbeiter fokussiert sind, und zufriedener. „Sie haben nicht nur mehr Familienzeit, sondern sparen auch noch Geld, weil die Kosten für die Kinderbetreuung am Nachmittag wegfallen.“