Jeden Sonnabend im Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute geht es um ein gesundes Verhältnis von Beruf und Freizeit

    Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit, die uns etwas gibt“, lautet ein Spruch des österreichischen Dichters Ernst Ferstl. Das klingt einleuchtend, nur: Wie viel Zeit sollten wir uns nehmen und wofür genau? Beruf, Familie, Freunde, Gesundheit, Spiritualität, Ehrenamt – es kann im Leben etliche Sphären geben, die miteinander in Einklang zu bringen sind. Eine Herausforderung gerade in Zeiten der Digitalisierung, die Arbeit und Freizeit zunehmend durchdringt.

    Lange Arbeitszeiten könnten die Gesundheit gefährden und den Stress erhöhen, heißt es von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Lange Arbeitszeiten seien aber nicht per se schlecht, sagen die Arbeits- und Organisationspsychologin Prof. Nale Lehmann-Willenbrock und die Gesundheitswissen-schaftlerin Prof. Bettina Wollesen von der Universität Hamburg. In welchem Verhältnis Arbeitstätigkeit und Freizeit zueinander stehen sollten, hänge auch von der Persönlichkeit jedes Einzelnen ab.

    Laut der OECD liegt Deutschland bei der sogenannten Work-Life-Balance lediglich auf Platz acht im Vergleich der 35 Mitgliedsländer. Spitzenreiter sind die Niederlande. Was machen unsere Nachbarn denn besser als wir?

    Nale Lehmann-Willenbrock: Sie machen auf jeden Fall einiges anders. In den Niederlanden gibt es die meisten Teilzeitarbeitenden im europäischen Vergleich. Arbeitnehmer haben einen Rechtsanspruch auf Homeoffice, und Arbeitgeber müssen Teilzeit- und Vollzeitarbeitnehmer gleichberechtigt behandeln. Womöglich führt diese Flexibilität zu mehr Zufriedenheit: Wer seine Arbeitszeit selbst gestalten kann, ist unter Umständen weniger gestresst. Selbstbestimmt arbeiten zu können ist eine ganz wichtige Bedingung dafür, ob Menschen ihren Job und ihr Privatleben in Einklang bringen können.

    Bettina Wollesen: Die Niederlande haben auch ein anderes Gesundheitssystem als wir. In einem EU-Projekt haben wir festgestellt, dass viele niederländische Betriebe dadurch eine größere Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter sehen als deutsche Firmen, was dazu führt, dass es dort weniger Arbeitszeitverdichtung, Entgrenzung und Fremdbestimmung der Arbeit gibt. Hierzulande kommt es etwa wegen des Fachkräftemangels in vielen Branchen immer öfter zu einer Arbeitszeitverdichtung. Weniger Menschen müssen mehr Arbeit und mehr unterschiedliche Aufgaben erledigen. So nehmen etliche Beschäftigte die Arbeit ein Stück weit mit nach Hause, weil sie das Gefühl haben, etliches nicht geschafft zu haben.

    Laut OECD-Bericht liegen die Niederlande deshalb vorne, weil dort nur sehr wenige Beschäftigte sehr lange Wochenarbeitszeiten haben. Arbeiten wir Deutschen zu viel?

    Wollesen: Wahrscheinlich muss man es differenzierter betrachten. Arbeite ich, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten? Wie belastend die Arbeit empfunden wird, hat auch mit der Persönlichkeit zu tun.

    Lehmann-Willenbrock: Die meisten Menschen arbeiten gerne und empfinden Arbeit als ganz wichtigen Teil ihrer Identität. Die Frage ist: Habe ich auch einen Ausgleich in meinem Privatleben und definiere mich als Mensch auch über andere Dinge, schaffe ich es, abzuschalten? Es kommt also nicht nur auf die Länge der Arbeitszeit an, sondern darauf, wie der Einzelne die Arbeit für sich definiert.

    Wollesen: Es gibt allerdings deutsche Betriebe, die sich über die Länge der Arbeitszeit Gedanken machen. In einem IT-Betrieb in Bielefeld arbeiten die Mitarbeiter 25 statt 40 Stunden pro Woche für das gleiche Geld, weil der Betriebsleiter festgestellt hat: Seine Mitarbeiter schaffen in 25 Stunden so viel wie in einer 40-Stunden-Woche. Durch die neu geschaffene Freiheit sind sie motivierter und leistungsfähiger.

    Wenn die meisten von uns grundsätzlich gerne arbeiten – wie kommt es dann, dass in Deutschland und gerade in Großstädten wie Hamburg zunehmend psychische Erkrankungen für Fehlzeiten sorgen?

    Lehmann-Willenbrock: Das könnte daran liegen, dass psychische Erkrankungen heute eher bemerkt und diagnostiziert werden als früher und die Hemmschwelle gesunken ist, dass Betroffene sich helfen lassen. Aber wir wissen auch, dass die Belastungen in der Arbeitswelt zugenommen haben.

    Wollesen: Dafür sorgt neben dem Fachkräftemangel die Digitalisierung. Durch digitale Medien kann man immer erreichbar sein – und damit auch immer verfügbar für den Arbeitgeber. So kommt es oft zu einer Vermischung von Arbeit und Privatleben.

    Lehmann-Willenbrock: Wenn ich meine Studierenden frage, wann sie eigentlich mal offline sind, sagen viele: gar nicht. Das ist erschreckend – und auch ein Generationenproblem. Ständig verfügbar zu sein, ständig auf Facebook zu verfolgen, was Freunde tun, stresst ungemein und kann das Gehirn überfordern. Die Digitalisierung hat allerdings auch immense Vorteile: Sie kann zur Flexibilisierung beitragen, etwa weil sie Heimarbeit ermöglicht und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht. Man kann sich auch in einem Café oder an einem schönen Strand an den Computer setzen, wenn das die Kreativität befördert.

    Lassen sich durch die Digitalisierung denn Beruf und Arbeit überhaupt noch trennen?

    Wollesen: Auch hier spielt die Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Wer in den Urlaub fährt und dort zwar offline ist, aber trotzdem ständig daran denkt, was ihn bei seiner Rückkehr erwartet, ist womöglich ähnlich gestresst wie jemand, der im Urlaub ständig seine E-Mails checkt. Man kann aber nicht pauschal sagen, dass die Digitalisierung eines der Hauptprobleme bei der Vermischung von Beruf und Privatleben ist. Es kommt letztlich darauf an, wie der Einzelne mit der Entgrenzung umgeht und wie das Unternehmen handelt.

    Lehmann-Willenbrock: Eine maßgebliche Funktion können direkte Vorgesetzte haben. Sie müssen Sorge tragen, dass die Ressourcen ihrer Mitarbeiter geschont werden. Das können sie tun, indem sie eine bestimmte Balance vorleben. Wer um 21.30 Uhr noch E-Mails an seine Mitarbeiter schickt, sendet damit unwillkürlich ein Signal, auch wenn keine unmittelbare Antwort erwartet wird. Wenn ein Mitarbeiter dann morgens ins Büro kommt und sieht, dass die Chefin um 21.30 Uhr noch gearbeitet hat, fühlt sich der Mitarbeiter möglicherweise schuldig. Das heißt nicht, dass Führungskräfte abends keine E-Mails mehr verschicken dürfen. Aber sie können und sollten klarstellen, wie wichtig es ist, dass nach Feierabend nicht mehr permanent alle am Rechner hängen. Daran sollten sich die Mitarbeiter halten – sie tragen ebenfalls eine Verantwortung für eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben und sollten trotz der digitalen Möglichkeiten darauf achten, auch mal abzuschalten.

    Abschalten – kann und muss unser Gehirn das überhaupt, arbeitet es nicht ständig?

    Lehmann-Willenbrock: Abzuschalten heißt nicht, dass man gar nichts mehr denkt. Das schaffen nur ganz wenige Menschen nach jahrelangem Meditationstraining. Mir gelingt es nicht. Es geht um etwas anderes: Für die Erholung ist es nicht entscheidend, wie viele Stunden Freizeit man hat, sondern wie man sie verbringt. Wenn ich etwas tue, was mich überhaupt nicht fordert, also etwa auf der Couch zu liegen und Filme zu gucken, dann ist das erwiesenermaßen nicht so erholsam wie etwas, was mich fordert, aber inhaltlich etwas ganz anderes ist als das, was ich bei der Arbeit tue. Zum Beispiel: sich eine Kunstausstellung anzuschauen, mit den eigenen Kindern herumzutoben oder Sport zu treiben. Wenn ich auf der Couch liege und mich berieseln lasse, ist es wahrscheinlicher, dass ich über die Arbeit nachdenke, weil ich noch relativ viele kognitive Ressourcen frei habe.

    Manche Menschen sagen, sie hätten die besten Einfälle unter der Dusche – also bei einer nicht gerade fordernden Tätigkeit ...

    Lehmann-Willenbrock: Dieser sogenannte Inkubationseffekt tritt üblicherweise dann auf, wenn man längere Zeit mal nicht über ein bestimmtes Problem nachgedacht und vielleicht einen netten Abend mit Freunden verbracht hat. Die Dusche hat damit wenig zu tun.

    Wollesen: Egal, ob wir einen wissensgenerierenden Beruf ausüben und viel Zeit damit verbringen, Lösungen für bestimmte Probleme zu suchen oder ob wir einen körperlich anstrengenden, monotonen Arbeitsalltag haben, der uns kognitiv wenig fordert – unser Gehirn braucht zwischendurch so etwas wie einen Neustart, idealerweise übrigens auch während der Arbeit. Das kann zum Beispiel durch eine bewegte Pause am Arbeitsplatz geschehen, wenn man etwa durch langsame Bewegungen und Atmung eine ganz andere Konzentrationsphase erzeugt. Das führt dazu, dass man anschließend wieder kreativ sein kann oder auch bereit ist für die Monotonie.

    Monotonie um jeden Preis vermeiden wollen etliche Menschen in ihrer Freizeit. Sie buchen dann etwa neben dem Chinesisch-Kurs noch Malseminare und trainieren Badminton. Kann es auch ein Zuviel an Abwechslung geben?

    Wollesen: Wer sich auch in seiner Freizeit gestresst fühlt, sollte seine Tages- und Wochenplanung unter die Lupe nehmen und sich fragen, welche Dinge man wirklich als freudvoll empfindet und was man zwar tun könnte, aber nicht unbedingt tun muss. Auf Letzteres könnte man dann mal eine Zeit lang verzichten. Wir müssen nicht immer alles schaffen, was in unserem Wochenplan steht. Man sollte sich Freiräume im Tagesablauf lassen.

    Lehmann-Willenbrock: Es läuft etwas schief, wenn auch in der Freizeit alles so durchgetaktet ist, dass man nicht mehr spontan entscheiden kann, dass man jetzt gerade lieber zum Sport gehen würde oder doch mal einfach die Füße hochlegt. Sich im Sinne der perfekten Freizeitplanung nur noch solche Aktivitäten herauszusuchen, von denen man meint, dass sie die eigene Leistung steigern, ist auch nicht der Sinn der Sache. Freizeit soll schließlich mindestens genauso viel Spaß machen wie Arbeit.

    Wollesen: Ein sehr wichtiger Faktor sind soziale Kontakte. In unseren Forschungen mit Pflegekräften und Rettungskräften haben wir festgestellt, dass Menschen, die über ein gut funktionierendes soziales Netzwerk verfügen und dieses auch pflegen, gut mit Stress am Arbeitsplatz umgehen konnten.