Lütau. Die Geschichte der Lütauer Schorle. Zu Besuch in einer der letzten großen Süßmostereien der Metropolregion Hamburg.
Kürzlich hat er zum ersten Mal ein paar Äpfel von zu Hause mitgenommen. Aus seinem Garten mit zur Arbeit. Bevor er losgegangen ist, hat Bernd Velke schnell die heruntergefallenen Äpfel vom Rasen aufgesammelt und ist mit ihnen in der Hand losmarschiert. Weit hat er es nicht, ein paar Meter sind es bis zur Mosterei. Um 7 Uhr fängt er immer an, in diesen Tagen aber oft auch ein bisschen früher, so gegen 6.45 Uhr. Denn in der Mosterei Lütau ist jetzt Hochsaison. Seit Anfang September werden fast täglich Äpfel angeliefert. Bis zu 40 Tonnen sind es pro Tag, die von Obstbauern und Privatpersonen stammen. Und aus dem Garten des Chefs.
Die Süßmosterei im Kreis Herzogtum Lauenburg ist eine der letzten großen im Umkreis von Hamburg. Velke hat die Mosterei vor 34 Jahren von seinem Vater übernommen – obwohl er das zuvor nie wollte. „Meine Schwester und ich hatten jahrelang miterlebt, wie sich unsere Eltern für das Unternehmen abrackern mussten. Wie groß ihre Sorgen waren. Wie Lebensmittel immer billiger wurden und die Verbraucher weniger zahlen wollten. Und wie knapp das Geld bei uns war“, sagt Velke und schüttelt den Kopf. Für ihn als jungen Mann sei das damals undenkbar gewesen. Aus diesem Grund habe er eine Ausbildung als Fotograf gemacht und in der Werbung gearbeitet. Bis er Axel Otolski kennenlernte – einen Freund seiner Schwester, der von der Mosterei fasziniert war und sie übernehmen wollte.
870.000 Liter Apfelsaft
„Eigentlich wollte ich ihm damals nur ein paar Tipps geben …“, erinnert sich Velke und lacht, wenn er an die Nacht denkt, die alles veränderte. Eine Nacht, in der die beiden redeten und Velke zu Otolski sagte: „Wenn du den Laden übernehmen willst, dann musst du …“ Bis irgendwann aus dem Du ein Wir wurde. 1984 war das. Damals wurden hier jährlich rund 400.000 Liter Saft gepresst – heute sind es allein 870.000 Liter Apfelsaft. Hinzu kommen noch einmal 540.000 Liter Rhabarber, Traube, Kirsche oder Multivitamin. Ganz neu im Sortiment: Apfel-Ingwer-Saft. Eine Idee von Velkes Tochter Isabel, die Getränketechnologie studiert.
Neulich hat Velke sie mal gefragt, ob er eine Schaufel mit einem Stiel aus Edelstahl oder aus Holz kaufen soll? Eine Metapher, ob es sich lohnt, in die Zukunft zu investieren. Schließlich ist er schon 62. Isabel hat gesagt, dass er auf jeden Fall eine Schaufel aus Edelstahl kaufen soll. Seitdem weiß Velke, dass seine Tochter eine Vision hat. Er sitzt in der Küche der Mosterei und nippt an einem Glas mit Apfel-Mango-Saft. Morgens zu Hause trinkt er Kaffee, bei der Arbeit Saft oder noch lieber Schorle.
Gesunde Alternative zu Fanta
Das mag am Geschmack liegen. Vielleicht aber auch ein bisschen an der Geschichte. Denn mit ihrer Apfelsaftschorle hatte die Lütauer Süßmosterei in den 1990er-Jahre ihren großen Durchbruch. „Wir sollten damals für das Kultusministerium in Schleswig-Holstein eine gesunde Alternative zu Fanta entwickeln“, sagt Velke. Der Grund dafür war der sogenannte Müsli-Erlass, wonach aus Schulen alles verbannt werden sollte, was süß, zuckrig und ungesund war. „Also haben wir eine Schorle aus naturtrübem Apfelsaft entwickelt und abfüllen lassen …“, sagt Velke, macht eine kleine Pause und fügt dann hinzu: „... die aber überhaupt nicht gelaufen ist.“
Dass aus dem vermeintlichen Flop dann doch noch ein Bestseller wurde, verdankt die Lütauer Schorle einem Zufall – und Bionade, glaubt Bernd Velke. „Der Zufall wollte es, dass unser Abfüller die Schorle irgendwann nur noch in sogenannten Long-Neck-Flaschen abgefüllt hat, die die gleiche Form wie eine klassische Bierflasche haben“, so Velke. Da zur gleichen Zeit Bionade mit seinen ungewöhnlichen Biolimonadensorten in der gleichen Flaschenform sich zu einem Szenegetränk entwickelte, stieg plötzlich auch die Nachfrage nach der naturtrüben Apfelschorle von Lütauer.
Gastronomie und Hotellerie
„Ging durch die Decke wie nichts anderes“, sagt Velke. Der Umsatz habe sich Jahr für Jahr verdoppelt. Fünf Jahre lang. Inzwischen werden in Lütau jährlich etwa 870.000 Liter Schorle in verschiedenen Sorten wie Apfel, Himbeere, Maracuja und Rhabarber produziert. Ihren Saft füllen die Lütauer selbst ab – bis zu 5000 Flaschen (0,7 Liter) schaffen sie in einer Stunde. Aber bei den Schorlen geht das wegen des hohen Drucks in der Flasche nicht – daher erledigt das ein Abfüller aus der Region.
Der Großteil der Schorlen wird in der Gastronomie und Hotellerie verkauft, der Rest über den Einzelhandel vertrieben. Famila war der erste Supermarkt, der Lütau gelistet hat, dann folgte Edeka, aktuell laufen Gespräche mit Rewe. Rund 120 Einzelhändler im Großraum Hamburg führen die Säfte und Schorlen inzwischen. Tendenz steigend. Doch die Kapazitäten sind begrenzt. „Eigentlich können wir kaum noch mehr produzieren“, sagt Velke. 800 bis 1000 Tonnen Äpfel, davon etwa 120 Tonnen aus Bioanbau, brauchen sie jährlich, um die Nachfrage zu decken. Zu viel, um alles in der Hauptsaison im September, Oktober und November zu pressen und zu verarbeiten. Etwa 700 Tonnen schaffen sie in diesen drei Monaten.
Im Januar muss nachgepresst und von den Obstbauern nachgeliefert werden. Denn ein eigenes Apfellager gibt es in Lütau nicht. Kein Platz. „Jeden Apfel, den wir bekommen, verarbeiten wir am selben oder am nächsten Tag“, sagt Velke. Etwa die Hälfte der Früchte stammt von Bauern aus dem Alten Land, der andere Teil von Privathaushalten, die die Äpfel gegen Saft eintauschen. „Für 50 Kilo Äpfel bekommen sie entweder neun Flaschen kostenlos – oder bis zu 40 Flaschen vergünstigt“, so Velke. Früher hat er bis zu 700 Tonnen Äpfel von Privatleuten bekommen. Heute ist es nur noch etwa die Hälfte.
Der frische Saft wird in mehr als 50 Tanks gelagert
„Genug geredet“, sagt Velke und steht auf. Der Apfelsaft werde schließlich nicht am Küchentisch gemacht – sondern in der Mosterei. Das Gebäude wurde einst von Velkes Großvater gebaut – als Molkerei. 1911 war das. Im Zuge der Zentralisierung von Molkereien in den 1950er-Jahren wurde die Produktion zunächst auf Zuckerrübensirup und dann auf Säfte umgestellt. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist das her, doch die Abläufe heute ähneln den damaligen immer noch. Vom Apfelsilo – einer etwa 20 Meter langen und 3,50 Meter breiten Wanne mit einer Wasserrinne in der Mitte – werden die Äpfel schwimmend in den Maischekeller transportiert, in dem sie gewaschen werden und dann durch eine Förderschnecke zur Mühle im ersten Stock gelangen.
„Hier werden die Äpfel zur Maische zerrissen oder zermahlen – als Maische bezeichnet man das nicht ausgepresste Mus“, erklärt Velke und zeigt auf die Masse, die zwischen zwei Tüchern durch die Presse rollt. Der so gewonnene Saft wird durch Rohre zur Zentrifuge gepumpt, der Rest der ausgepressten Masse – der Trester – sammelt sich in einem großen Behälter. Etwa zwölf Tonnen kommen täglich zusammen. Es ist kein Abfall, sondern wertvoller Rohstoff für eine nahe gelegene Biogasanlage. Velke läuft weiter. Er steigt über Rohre, stiefelt durch Pfützen, zeigt hierhin und dorthin. „Nach dem Zentrifugieren wird der Saft bei 92 Grad rund sechs Sekunden pasteurisiert“, sagt er, während er die Stufen zum Tankraum emporsteigt.
Hier wird der Saft in mehr als 50 Tanks gelagert. „In der Hauptsaison produzieren wir bis zu 50.000 Liter Saft am Tag“, sagt Velke. Bis Anfang November wird es fast eine Million Liter Apfelsaft sein. Velke zieht den Kopf ein, als er durch die nächste Tür geht. Früher war hier der Schweinestall, inzwischen wird hier der Saft in Flaschen abgefüllt. In der angeschlossenen Lagerhalle stapeln sich die Getränkekisten fünf bis sechs Meter hoch. Von hier sind es nur ein paar Meter bis zu Velkes Garten. Auf dem Rasen liegen schon wieder ein paar Äpfel.