Hamburg. In Berlin gibt es bereits drei Sirplus-Läden. Zudem kann man die Ware online kaufen. 2020 wollen die Gründer an die Elbe kommen.

Die 400-Gramm Dose mit Kirschtomaten eines Markenherstellers kostet 85 Cent. Für einen Beutel M&Ms zahlt man 1,95 Euro und spart damit satte 35 Prozent. Vegane Sandwichcreme gibt es für 1,25 Euro statt für 1,99 Euro. Die Lebensmittel, die das Start-up Sirplus anbietet, sind deutlich günstiger als in normalen Supermärkten oder Discountern.

Dort würden sie allerdings auch gar nicht mehr im Regal stehen. Denn alle Produkte haben das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten oder sind kurz davor – trotzdem sind sie aber noch ohne Weiteres genießbar. Vor zwei Jahren haben Raphael Fellmer und Martin Schott mit einigen Gleichgesinnten in Berlin den ersten Rettermarkt mit Lebensmitteln eröffnet, die anderswo auf dem Müll landen. Inzwischen gibt es einen Online-Shop, demnächst wollen die Lebensmittelretter auch in andere Städte expandieren.

Eine Crowdfunding-Kampagne läuft

„Wir haben seit dem Start mehr als 2000 Anfragen bekommen, wann wir außerhalb Berlins Märkte eröffnen“, sagt Fellmer. Auch aus Hamburg hätten sich Interessenten gemeldet. Um die Expansion der Idee in andere Städte voranzutreiben, hat Sirplus im Mai eine neue Crowdfunding-Kampagne gestartet. Das Interesse ist groß. Mehr als 96.000 Euro sind inzwischen eingesammelt. Das Ziel von 100.000 Euro ist also so gut wie erreicht.

Der deutsche Franchise-Verband habe in den vergangenen Jahren immer mehr soziale und nachhaltige Konzepte aufgenommen und sei überzeugt von der Idee, Sirplus nach ganz Deutschland zu bringen, so Fellmer. Nach seinen Angaben gibt es bereits Gespräche mit vier Bewerbern aus Hamburg. „Wir peilen an, den ersten Rettermarkt an der Elbe in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres zu eröffnen“, sagt der Gründer.

Too good to go: 35.000 Menschen in Hamburg beteiligen sich

In Hamburg betreibt bislang die Bäckerei Junge einen sogenannten Brotretter-Laden in Lohbrügge, in dem Brot vom Vortag günstiger verkauft wird. Auch die Bäckerei Rohlfs hat in Bramfeld eine Filiale, in der „Gutes von Gestern“ verkauft wird. Über die Smartphone-App Too good to go können sich seit 2016 registrierte Nutzer Tüten mit vorgepackten Waren vom Tag, die nicht mehr verkauft werden, in Bäckereien, Lebensmittelgeschäften, Cafés und Restaurants kaufen und direkt abholen.

Aktuell beteiligen sich mehr als 300 Betriebe und 35.000 Menschen in Hamburg an dem Konzept. 200.000 Mahlzeiten wurden auf diesem Weg vor dem Abfall gerettet. Auch manche Supermärkte haben eine Resterampe, auf der sie – meist verschämt in einer Ecke – abgelaufene Waren anbieten und trotz niedrigerer Preise nur schwer unter den Leute bringen.

Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen jährlich im Müll

Laut einer Studie für das Bundesernährungsministerium landen in Deutschland jährlich etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Davon stammen 6,7 Millionen Tonnen von Privathaushalten – der Rest kommt von der Lebensmittelindustrie, dem Handel, Großkunden sowie der Gastronomie. Statistisch gesehen, das hat unlängst Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert, wirft jeder Bundesbürger pro Jahr 55 Kilogramm Lebensmittel weg, ein Drittel davon sind Obst und Gemüse.

"Wir wollen etwas gegen die Verschwendung tun“, sagt Aktivist Raphael Fellmer, der sich eine Zeit lang ausschließlich von „geretteten Lebensmittel“ ernährt hat, wie er es nennt. Auch in der Hansestadt sind zahlreiche Food-Saver, wie sie sich nennen, aktiv. Weil das viele nicht können und wollen, haben er und seine Mitstreiter die Idee für Sirplus entwickelt. Der Name ist ein Wortspiel und leitet sich vom englischen „surplus“ ab, was Überschuss bedeutet.

1800 Tonnen Lebensmittel wurden schon gerettet

Das Konzept: Das Start-up kauft abgelaufene und aussortierte Lebensmittel bei Herstellern und großen Händlern günstig ein und verkauft sie mit einem Aufschlag, aber zu einem geringeren Preis als mit normalen Handel weiter. In Berlin gibt es drei Läden in Steglitz, Friedrichshain und Neukölln. Seit der Gründung seien schon mehr als 1800 Tonnen Lebensmittel zurück in den Kreislauf gebracht worden. Die Kunden kämen aus allen Schichten. Das ökologisches Bewusstsein spiele dabei eine Rolle, andere kämen wegen der günstigen Preise. Angeboten werden einzelne Lebensmittel oder im Abo auch sogenannte Retterboxen, in denen die Produkte nach unterschiedlichen Schwerpunkten zusammengestellt sind. „Nach Trends wie Bio, Vegan und Fairtrade muss das Lebensmittelretten jetzt in der Mitte der Gesellschaft ankommen“, erklärt Raphael Fellmer seine Mission.

Sirplus hat inzwischen 85 Mitarbeiter. Die Lebensmittel werden in ganz Deutschland mit Hilfe von Speditionen abgeholt, in ein 1000 Quadratmeter großes Lager gebracht und von dort in die Läden weiterverteilt oder über den Online-Shop verschickt. In Berlin fährt Sirplus mit eigenen Wagen fünf Mal in der Woche auf den Großmarkt und holt zudem Kühlware in Metro-Filialen ab. Bundesweit hat das Start-up 600 Partner, darunter auch Unternehmen aus Hamburg wie den Getränkehersteller Lemonaid, die Müslimacher Seedheart und Heimatgut, die auf natürliche Snacks spezialisiert sind. Das Sortiment reicht von Gemüse und Obst über Trockenwaren, Getränken, Konserven bis zu Kosmetik und Dingen des täglichen Bedarfs – in Bio- und konventioneller Produktion. Viele Partner sind selbst auch Start-ups.

Sirplus sieht sich als soziales Unternehmen

Die Gründe, aus denen es die Waren nicht in den Handel schaffen, sind Überproduktion, Auslistungen, Schönheitsfehler und die Überschreitung oder die Nähe des Mindesthaltbarkeitsdatums. Weil manche Händler eine Spanne bis zu mehreren Monaten bis zu dem ausgedruckten Datum fordern, landen teilweise auch Produkte lange vorher bei Sirplus. Dabei sagt dieses Datum nur begrenzt etwas darüber aus, wann Lebensmittel wirklich verdorben und ungenießbar sind.

Anfang 2019 hatten die Marktwächter der Verbraucherzentrale Hamburg, die sich besonders intensiv mit den Themen Lebensmittel und Ernährung beschäftigen, gemeinsam mit den Tafeln eine Übersicht zusammengestellt, die auf die Haltbarkeit über die Datumsanzeige hinaus hinweist. Honig, Nudeln, Reis oder Konserven sind demnach ein Jahr nach Ablauf noch gut, Marmelade sechs Monate, Butter und Frischkäse immerhin noch 21 Tage.

Das Thema hat eine politische Dimension

Das Thema hat eine politische Dimension. „Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Wegwerfdatum“, betont das Bundesernährungsministerium, das seit 2017 eine Kampagne mit dem Titel „Zu gut für die Tonne“ betreibt. Erklärtes Ziel nach einem Kabinettsbeschluss im März ist, die Lebensmittelabfälle in Deutschland bis 2030 zu halbieren. Erst vor wenigen Wochen hatte Hamburgs Justizsenator Till Steffen eine Initiative losgetreten, das sogenannte Containern, also das Einsammeln brauchbarer weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern vor Supermärkten, zu legalisieren. Aktuell gilt es als Diebstahl und Hausfriedensbruch, wenn die Behälter auf dem Firmengelände stehen. Er war mit seinem Vorstoß allerdings in der Justizministerkonferenz gescheitert. Stattdessen wurde ein Beschluss gegen Lebensmittelverschwendung gefasst, der das Problem des Containerns ausklammert. Jetzt setzt der grüne Politiker auf Gespräche mit der Staatsanwaltschaft mit dem Ziel, solche Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen.

Sirplus sieht sich als Vermittler und soziales Unternehmen. Profit machen die Lebensmittelretter derzeit nicht. Aber sie sind auch kein gemeinnütziger Verein wie die Tafeln, deren System auf Spenden und ehrenamtlichem Engagement beruht. In Hamburg etwa holt die Hamburger Tafel 40 Tonnen Lebensmittel bei Supermärkten und Herstellern ab und gibt sie kostenfrei an 27 Ausgabestellen sowie 70 soziale Einrichtungen weiter. „Wir sind keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung. Die Tafeln haben immer Vorrang“, sagt Fellmer. Teilweise würden auch Lebensmittel an soziale Projekte gespendet „Wir wollen das Lebensmittelretten weiter professionalisieren und mehr Menschen Zugang zu überschüssigen Lebensmitteln geben.“