Im ältesten Plattenladen Hamburgs gibt es Musik auf Vinyl und CD sowie viele Hörtipps. Manche Stammkunden kommen seit 40 Jahren.
Der amerikanische Musiker Duane Eddy ist in Hamburg vor allen eingeschworenen Gitarren-Fans ein Begriff. Seine große Zeit hatte der Rock’n’Roller mit dem unverwechselbaren Sound in den 1960er-Jahren. Sein altersloses Konterfei ist allerdings nicht von den Straßen der Stadt wegzudenken. Seit mehr als 40 Jahren prangt es auf den Einkaufstüten des Plattenladens Michelle Records. Die orangefarbenen Tragetaschen mit den Maßen einer Langspielplatte sind für Generationen von Musikliebhabern Erkennungszeichen ausgefeilten Geschmacks – nur statt aus Plastik inzwischen aus Baumwolle. „Wir hatten kürzlich sogar einen Kunden aus England, der zehn Stück gekauft hat“, sagt Michelle-Inhaber Christof Jessen.
Er grinst zufrieden. Basecap, T-Shirt und ziemlich viele Geschichten. Klar, Michelle ist ja auch kein normales Geschäft. Wenn das so wäre, gäbe es den ältesten Plattenladen der Stadt, der ein bisschen versteckt am Gertrudenkirchhof in der Innenstadt liegt, schon längst nicht mehr. Hätte der britische Autor Nick Hornby in Hamburg ein Vorbild für seinen Bestseller High Fidelity gesucht, hätte er sich wohl bei Michelle inspirieren lassen. Schon morgens um zehn Uhr betrachtet ein älterer Mann konzentriert das Angebot in den Schaufenstern. Neil Young, Johnny Cash, Joy Division, Fettes Brot, solche Sachen – auf Vinyl und CD.
Die LP-Kisten stammen aus dem Jahr 1977
Michelle öffnet erst um elf Uhr. Jessen sitzt im hinteren Bereich des Ladens. Von hier hat er den Überblick über die Kisten mit LPs – dieselben wie bei der Eröffnung 1977 nur inzwischen weiß überstrichen – und CD-Regale aus den 1980ern. Andere nennen das Retro und geben dafür viel Geld aus. 14.000 Alben stehen hier, alle Musikrichtungen – außer Klassik. Bekannt ist Michelle vor allem für Indie-Rock. In einer Ecke hat Jessen seine Sammlung mit historischen Fender-Verstärkern aufgebaut.
Der Hamburger arbeitet seit 1986 im Laden. Hat nie etwas anderes gemacht. Er ist auch Musiker, hat eine eigene Band. 1999, als die Gründer keine Strategie gegen die Veränderungen in der Musikbranche fanden und Insolvenz anmelden mussten, übernahm er Michelle Records mit zwei Kollegen. Seitdem gibt es im Namen den Zusatz VEB. Das steht bekanntlich für Volkseigener Betrieb, eine ironische Anspielung auf die Übernahme durch die Belegschaft. Ein Wagnis in einer Zeit, als Ketten wie Media-Markt und Saturn das Land längst mit Mega-Märkten zugepflastert hatten und erste Anzeichen für die Digitalisierungswelle aufschimmerten. „Der Laden war uns wichtig. Wir waren überzeugt, dass unser Konzept tragfähig ist“, so der 55-Jährige. Das lautet: konsequente Musikauswahl abseits des Mainstreams, gute Beratung, enge Verzahnung mit der Musikszene.
Erfolg mit Tex-Mex-Band Calexico auf der Mini-Bühne
Von einer USA-Tournee mit seiner Band Das Weeth Experience brachte er die Idee der Schaufenster-Konzerte mit. Im Frühjahr 2000 standen zuerst die Musiker der bekannten amerikanischen Tex-Mex-Band Calexico auf der Mini-Bühne des Ladens. Ein voller Erfolg. Seitdem sind die Schaufenster-Konzerte das Markenzeichen von Michelle. Die Wände im Laden sind mit signierten Plakaten von Bands zugepflastert, die schon da waren. Bekannte Namen wie die Indie-Rocker Maximo Park, Tomte aus Hamburg und Newcomer wie Rocket Men. „Wir bekommen inzwischen Anfragen aus der ganzen Welt“, sagt André Frahm. Seit 2006 führt der 44-Jährige, der aus der Musikbranche kommt, den Laden mit Jessen. Wer den Chefs gefällt, darf kommen. „Es geht bei uns nicht um Werbung für ein neues Album, sondern um die Musik“, sagt Christof Jessen. Mal kommen mehrere hundert Besucher, manchmal auch nur ein gutes Dutzend. Am 6. August spielt ab 18 Uhr Interbellum aus Beirut, am 7. August gibt es eine exklusive Vorab-Vorstellung des neuen Albums von Bon Iver. 2014 wurde der kleine Plattenladen auch deshalb mit dem Musikpreis Echo als bester Handelspartner ausgezeichnet, der sonst an Konzerne der Kategorie Spotify oder Apple Music ging. Klar, dass sich die Michelle-Macher über die Anerkennung gefreut haben – und auch deshalb haben sie weitergemacht wie bisher.
Inzwischen ist es elf Uhr und vor der Tür wartet der erste Kunde. Frahm, der auch als DJ auflegt und Schlagzeug in Jessens Band spielt, öffnet das Geschäft. Er macht eine CD an, das „Weiße Album“ von den Beatles. In kurzer Zeit kommen diverse Menschen durch das Drehkreuz am Eingang, dass noch aus der Gründungszeit stammt. Jüngere, wie der Tourist aus England, aber vor allem ältere, meistens Männer. Viele sind seit Jahrzehnten Stammkunden. Ingo Harste aus Harburg zum Beispiel. Der Musikfan, der eine Sammlung mit 3500 LPs plus CDs zu Hause hat, schaut einmal im Monat bei Michelle vorbei. „Die Atmosphäre ist einzigartig, die Beratung ist gut“, sagt er. Er stöbert gerne, jetzt hat er einige LPs in der Hand. „Ihr müsst von mir auch noch was im Bestellregal haben“, sagt er auf dem Weg zur Kasse.
Plattenverkäufer werden zu Hochzeiten einladen – und zu Beerdigungen
Man kennt sich, man duzt sich. Über die Jahrzehnte seien Freundschaften im Laden entstanden, sagt Christof Jessen. Er und Frahm waren schon auf Hochzeiten von Kunden – und auf Beerdigungen. Über Musik zu reden, ist eben was anderes als Kleidung oder Fisch zu verkaufen. „Wir handeln mit Kunst“, sagt Jessen. „Es geht nicht nur um Ware gegen Geld.“ Gut gelaufen ist es, wenn das, was die Kunden gekauft haben, innere Welten öffnet. Das lasse sich zu Hause vor dem PC beim Shoppen im Netz so nicht vermitteln. Einen Online-Shop hat Michelle gar nicht. Viele, sagt André Frahm, kämen gerade deshalb in den Läden, weil sie in der Fülle des Angebots der digitalen Streamingdienste einen Gegentrend suchten. „Sie wollen es selektives, haptisches Erlebnis und schätzen es auch, wenn sie nach einem Gespräch mit einem anderen Album als geplant den Laden verlassen.“
Große Wachstumssprünge gibt es nicht bei Michelle, aber der Laden läuft. Gegen den Trend. In den vergangenen Jahren habe sich ihr Geschäft stabilisiert, sagen die Michelle-Macher. Die Möglichkeit, immer und überall für kleines Geld Musik im Internet runterzuladen, hat die Branche massiv verändert. 2018 wurde mit Musikstreaming mehr Umsatz erzielt als mit CD-Verkäufen. Insgesamt blieb der deutsche Markt nach Angaben des Bundesverbands Musikindustrie mit einem leichten Erlösrückgang von 0,4 Prozent auf 1,58 Milliarden Euro stabil. Mit einem Minus von 19 Prozent gegenüber 2017 setzte sich bei physischen Tonträgern allerdings der Trend der Vorjahre fort. Im Vergleich zu den 2009 verkauften Einheiten (121 Millionen) haben sich die Verkäufe innerhalb eines Jahrzehnts auf 57 Millionen mehr als halbiert. Auch der Vinyl-Boom, der in den vergangenen Jahren konstante Zuwächse gebrachte hatte, scheint vorerst gebremst: Die Schallplatten-Umsätze sanken 2018 um 5,2 Prozent auf 70 Millionen Euro.
Schmelztiegel der musikalischen Kultur
„Streaming ist das neue Radio, wo auch Neues ausprobiert wird“, sagt Christof Jessen. Er beobachtet, dass zunehmend Kunden kämen, die das auf Tonträgern kauften, was sie im Netz gestreamt hätten und richtig gut fänden. Während große Ketten massive Probleme mit der rasanten Entwicklung des digitalen Musikangebots haben, besetzt Michelle eine feste Nische. Insgesamt gibt es noch etwa zwei Dutzend kleinere Plattenläden in der Stadt. Jessen und Frahm verkaufen fast ausschließlich Neuware. Man könne mit Second Hand und mit dem Angebot von raren Aufnahmen und Sammlerstücken zwar mehr Geld verdienen. „Aber“, sagt Jessen, der Musikverkäufer mit dem Herzen eines Musikers, „nur mit Neuware wird letztlich neue Musik finanziert.“ Das gehört auch zum Anspruch, mehr zu sein als ein Plattenladen. „Wir sind ein Schmelztiegel der musikalischen Kultur.“
Übrigens: Der Mann, der die zehn Michelle-Tragetaschen gekauft hatte, war auf dem Weg zur Abschiedstournee von Duane Eddy, der im vergangenen Jahr 80 Jahre alt wurde. Danach hat er ein Foto nach Hamburg geschickt. Es zeigt den rüstigen Rocker mit Michelle-Büddel in London.