Berlin. Die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme hat in den vergangenen 20 Jahren stark zugenommen. Das sind mögliche Gründe.

Eine Krankschreibung wegen psychischer Probleme? Noch vor zwanzig Jahren lag die Hemmschwelle hoch, sich dem Arzt anzuvertrauen – zu groß war die Angst davor, stigmatisiert zu werden. Inzwischen wagen es jedoch mehr Menschen, wegen seelischer Erkrankungen Hilfe zu suchen, und sie nehmen sich eher die nötige Zeit, um wieder gesund zu werden. Das ist das Ergebnis des „Psychoreport 2019“ der Krankenkasse DAK Gesundheit.

„Vor allem beim Arzt-Patienten-Gespräch sind psychische Probleme heutzutage kein Tabu mehr“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm am Donnerstag. „Deshalb wird auch bei Krankschreibungen offener damit umgegangen.“

Storm kritisierte, dass auch heute nicht alle Betriebe verständnisvoll genug auf diese äußerlich nicht direkt erkennbaren Krankheiten reagierten: „Arbeitgeber müssen psychische Belastungen und Probleme aus der Tabuzone holen und ihren Mitarbeitern Hilfe anbieten.“

Psychische Erkrankungen dritthäufigste Ursache für Krankschreibungen

Der offenere Umgang mit psychischen Erkrankungen hat jedoch auch drastische Effekte: Offenbar lassen sich immer mehr Arbeitnehmer deswegen krankschreiben. Die Zahl der dadurch verursachten Fehltage ist der DAK zufolge allein in den vergangenen zehn Jahren um 150 Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr hieß es noch: Krankentage wegen psychischer Probleme seit 2007 verdoppelt.

Seit den 1990-Jahren hat sich die Zahl der psychisch verursachten Krankschreibungen mehr als verdoppelt, während die Zahl aller Erkrankungen nur um ein knappes Drittel angewachsen ist. Psychische Erkrankungen sind jetzt die dritthäufigste Ursache für Ausfälle nach orthopädischen Problemen und Atemwegserkrankungen.

Rückkehr an Arbeitsplatz langwieriger als bei anderen Erkrankungen

Die Untersuchung bestätigt einen langfristigen Trend: Während vor 40 Jahren nur eine von fünfzig Krankschreibungen auf mentale Probleme entfiel, ist es heute jede sechste. Auch ein zuletzt veröffentlichter Gesundheitsreport der BKK kam zu diesem Ergebnis.

Angststörungen, Depression und ähnliche Erkrankungen sind nun die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit in Deutschland. Zudem fällt die Dauer psychischer Krankheiten bis zur Rückkehr an den Arbeitsplatz rund dreimal länger aus als die anderer Erkrankungen. Das bedeutet: Die Zahl der Fehltage ist besonders stark hochgegangen.

In diesen Branchen gibt es die meisten Fehltage

Die Rentenversicherung des Bundes hatte deswegen guten Grund, die Lage ihrerseits zu analysieren. Die Fachleute dort vermuten ebenfalls, dass die psychischen Leiden heute einfach häufiger erkannt werden – und nicht, dass eine Epidemie von Depression und Burn-out grassiert. Manch ein Experte vermutet zudem, dass Mitarbeiter, die versuchen, Krankschreibungen zu missbrauchen, dazu eher eine psychische Erkrankung heranziehen.

Die meisten Fehltage wegen psychischer Erkrankungen verzeichnet die DAK bei Mitarbeitern der Verwaltung – unklar ist jedoch, ob hier die Belastung besonders hoch ist oder die Bereitschaft, mit den Problemen offen umzugehen. Am niedrigsten liegt sie in Restaurants, Supermärkten und Lebensmittelfirmen sowie in der IT-Branche.

Fehltage wegen Burn-out wieder leicht angestiegen

Generell sind Frauen stärker betroffen als Männer. Im Alter nimmt die Zahl der psychisch bedingten Krankschreibungen zu: Bei den über Sechzigjährigen liegt sie dreimal so hoch wie in der Altersgruppe Anfang zwanzig.

So ist das etwa bei der Diagnose „Burn-out“. Nach einem Tief der Burn-out-bedingten Fehltage im Jahr 2016 ist deren Zahl 2018 wieder leicht angestiegen. Es sind hier vor allem Arbeitnehmerinnen über 60 Jahre, bei denen Probleme mit der Lebensbewältigung und Depressionen aufgrund langfristiger Erschöpfung festgestellt werden.

Auch die sozialen Medien spielen eine Rolle

Zugleich verzeichnen Psychologen einen alarmierenden Trend bei der nachwachsenden Generation, die demnächst auf den Arbeitsmarkt strömt. Ziemlich genau mit dem verstärkten Aufkommen von Sozialmedien um das Jahr 2011 herum hat unter Jugendlichen die Zahl der Fälle von Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen und Selbstmordgedanken stark zugenommen.

Eine Untersuchung der Kaufmännischen Krankenkasse belegt, dass die Zahl solcher Fälle unter Schülern in Deutschland deutlich ansteigt. In den USA ist derweil die Zahl der Jugendlichen, die sich depressiv fühlen, zwischen 2009 und 2017 um 52 Prozent angestiegen. Das berichtet der US-Psychologenverband.

„Kulturelle Trends haben in den vergangenen zehn Jahren einen stärkeren Einfluss auf Stimmungsstörungen entfaltet als bei den älteren Generationen“, schreibt Psychologieprofessorin Jean Twenge, die Leiterin der Studie.

Einen weiteren Grund für die Zunahme sehen die Forscher darin, dass Schulkinder immer weniger Schlaf bekommen – das bringt die Glückszentren im Gehirn durcheinander.