Berlin. Psychische Probleme machen immer mehr Menschen arbeitsunfähig. Der wirtschaftliche Schaden geht in die Milliarden. Was läuft schief?

Arbeit kann krank machen – wenn der Druck zu groß ist, das Tempo zu hoch und keine Zeit mehr für Erholung bleibt. Doch auch das Gegenteil kommt vor: Wer sein Geld mit eintöniger, abwechslungsloser Arbeit verdienen muss, kann deswegen gesundheitlich genauso in die Knie gehen wie sein dauergestresster Nachbar.

Wie stark sich die Arbeitswelt in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren verändert hat und welche Folgen das für die Gesundheit der Beschäftigten hat – das zeigen neue Zahlen aus einer Antwort des Arbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion, die dieser Redaktion exklusiv vorliegt. Die Regierungsantwort zu arbeitsbezogenen psychischen Belastungen zeichnet das alarmierende Bild einer gestressten Nation.

• Krankmeldung oder Frühverrentung wegen psychischer Probleme – wie oft kommt das vor?
Zwischen 2007 und 2017 hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme mehr als verdoppelt: Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage stieg in diesem Zeitraum von rund 48 Millionen auf 107 Millionen.

Zwar gab es zwischen 2016 und 2017 einen leichten Rückgang bei den AU-Tagen, doch der Anteil der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme an der Gesamtzahl der Krankschreibungen blieb in beiden Jahren mit rund 16 Prozent nahezu stabil.

Männer kamen dabei auf eine deutlich höhere Zahl an psychisch bedingten Krankheitstagen als Frauen, ältere Beschäftigte meldeten sich häufiger krank als jüngere. Die meisten AU-Tage gab es demnach 2017 bei Männern zwischen 60 und 65 Jahren (434 Ausfalltage auf 100 Versicherte), die wenigsten bei Frauen zwischen 15 und 20 Jahren (21 Ausfalltage auf 100 Versicherte).

Zehn Jahre zuvor lag in beiden Gruppen die Zahl der Krankmeldungen wegen psychischer Probleme nur bei einem Bruchteil dieser Werte: Bei den älteren Männern waren es 126 AU-Tage, bei den jungen Frauen nur sieben Tage.

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    Nicht nur die Krankheitstage, auch die wachsende Zahl der Fälle, in denen Beschäftigte aus Gesundheitsgründen früher als geplant in Rente gehen, zeichnen ein besorgniserregendes Bild: Bei den Renteneintritten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Störungen stiegen die Zahlen von rund 54.000 (2007) auf mehr als 71.000 (2017).

    Auch hier gibt es mit Blick auf die gesamtdeutschen Daten einen leichten Rückgang zwischen 2016 und 2017 – doch betrachtet man einzelne Bundesländer, gibt es viele Regionen, in denen die Zahlen weiter stiegen, etwa in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein, Brandenburg, Thüringen und Hessen.

    Anders als bei den Krankschreibungen gilt bei den Frühverrentungen: Frauen sind hier deutlich öfter betroffen als Männer. 2017 gingen rund 41.000 Frauen vorzeitig wegen psychischer Diagnosen in Rente – bei den Männern waren es nur rund 30.000. Die Zahlen basieren auf Sozialversicherungsdaten und Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Angaben für das Jahr 2018 liegen noch nicht vor.

    • Wie groß ist der wirtschaftliche Schaden?

    Neben den unmittelbaren Kosten für die Kranken- und Rentenkassen sind auch die wirtschaftlichen Folgekosten von Arbeitsausfällen wegen psychischer Probleme deutlich gewachsen: Zwischen 2007 und 2017 haben sich diese Kosten laut Regierungsantwort nahezu verdreifacht.

    Fiel 2007 die Summe aus dem Produktionsausfall und dem Ausfall der Bruttowertschöpfung in diesem Bereich mit 12,4 Milliarden Euro noch vergleichsweise gering aus, so waren es 2017 bereits Ausfallkosten von 33,9 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Ausfallkosten mit Blick auf sämtliche Diagnosen lagen 2017 bei rund 212 Milliarden Euro.

    • Welche Branchen sind besonders betroffen?

    Um diese Frage zu beantworten, hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im vergangenen Jahr eine Erwerbstätigenbefragung durchgeführt – aufgeteilt nach 17 Wirtschaftszweigen. Das Fazit des Arbeitsministeriums: „Im Branchenvergleich lassen sich insbesondere zwei Wirtschaftszweige identifizieren, die überdurchschnittlich häufig von psychischen Anforderungen bei der Arbeit betroffen sind.“ Es sind die Erwerbstätigen im Gesundheits- und Sozialwesen und diejenigen im Gastgewerbe.

    Pfleger, Erzieher und Sozialarbeiter leiden demnach vor allem unter folgenden Stressfaktoren: „Verschiedene Arbeiten gleichzeitig betreuen“, „Bei der Arbeit gestört und unterbrochen werden“, „Starker Termin- und Leistungsdruck“, aber auch „Ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge“. Bei Beschäftigten im Gastgewerbe kommt zu diesen Belastungen auch noch der Faktor „Sehr schnell arbeiten“ hinzu.

    Hohe Belastungen gibt es allerdings auch in anderen Berufszweigen: Menschen, die ihr Geld mit freiberuflichen, wissenschaftlichen oder technischen Dienstleistungen verdienen, klagen besonders oft über starken Termin- oder Leistungsdruck. Beschäftigte in den Bereichen Handel, KFZ-Gewerbe, Verkehr und Lagerei, Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei dagegen leiden überdurchschnittlich stark unter ständig wiederkehrenden Arbeitsvorgängen.

    In Berufen, bei denen Information und Kommunikation im Mittelpunkt stehen, fühlen sich viele zu oft mit neuen Aufgaben konfrontiert. Bei Beschäftigten im Grundstücks- und Wohnungswesen, in der Finanz- und Versicherungsbranche sowie in der öffentlichen Verwaltung finden es viele belastend, dass sie so oft bei der Arbeit gestört und unterbrochen werden. Lehrer und andere Pädagogen beklagen dagegen vor allem, dass sie verschiedene Arbeiten gleichzeitig betreuen müssen.

    • Welche Ursachen sieht die Regierung?

    Die exakten Ursachen für die Entwicklung der arbeitsbezogenen Anforderungen seien nur schwer zu belegen, heißt es in der Regierungsantwort. Eine wichtige Rolle spielten aber die großen Trends der letzten Jahrzehnte: die Transformation von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft, die Durchdringung der Arbeitswelt mit modernen Kommunikationstechnologien, die zunehmende Eigenverantwortung für Ablauf und Erfolg von Arbeitsprozessen, die Beschleunigung sämtlicher Arbeitsprozesse bei steigender Komplexität der Aufgaben sowie die Ausbreitung beruflicher Unsicherheit angesichts zunehmend unplanbarer Berufsbiografien.

    • Was kann die Politik tun?

    Die Bundesregierung sieht in erster Linie die Arbeitgeber in der Pflicht: Gegen psychische Belastungen würden keine neuen Arbeitsschutzregeln helfen, zumal unklar sei, wie in diesem Bereich Grenzwerte festgelegt werden sollten, heißt es in der Regierungsantwort.

    Jutta Krellmann, arbeitspolitische Sprecherin der Linke-Fraktion im Bundestag.
    Jutta Krellmann, arbeitspolitische Sprecherin der Linke-Fraktion im Bundestag. © imago/photothek | Florian Gaertner/photothek.net

    „Ziel muss es vielmehr sein, Betriebe und Beschäftigte zu befähigen, das vorhandene Arbeitsschutzinstrumentarium (…) zu nutzen, um Gesundheitsrisiken durch psychische Belastungen frühzeitig erkennen und durch eine menschengerechte Arbeitsgestaltung verhindern zu können“, heißt es seitens der Regierung.

    Jutta Krellmann ist das deutlich zu wenig. Die arbeitspolitische Sprecherin der Fraktion der Linken im Bundestag wirft der Regierung „vorsätzliches Staatsversagen“ vor: „Viele Arbeitgeber fahren auf Verschleiß: starker Druck, hohe Flexibilität – immer schneller, immer mehr. Beschäftigte werden über ihre Belastungsgrenze getrieben. Auch der ökonomische Schaden wird größer und größer“, sagte Krellmann unserer Redaktion.

    Und sie kritisiert: „Die Bundesregierung jedoch schaut Däumchen drehend zu.“ Dabei sei es doch offensichtlich, dass die jetzigen Instrumente nicht ausreichten. Die Linke fordert stattdessen eine staatliche Anti-Stress-Verordnung und flächendeckende Arbeitsschutzkontrollen.