Hamburg. Es gibt Menschen, die sind anders – und trotzdem erfolgreich. Oder vielleicht gerade deswegen. Das Abendblatt stellt sie vor.
Sein Büro liegt direkt hinter dem Eingang, das erste Zimmer links. Vertrieb steht draußen dran. Die Tür steht offen, immer. Grauer Nadelfilzbelag, vier Schreibtische, Buchenfurnier. An jedem Arbeitsplatz steht ein Computer, ein Monitor, ein Telefon. Nur bei Ralph Raule nicht, er hat kein Telefon, nur ein Smartphone, ein Huawei MATE 10 Pro. Doch es klingelt nie. Den Ton hat er abgestellt. Manchmal, ganz selten, vibriert es mal. Dann drückt Ralph Raule das Gespräch weg. Er kann nicht telefonieren.
GL steht in seinem Ausweis. Es ist ein Schwerbehindertenausweis. GL bedeutet gehörlos. Ralph Raule war drei oder vier Jahre alt, als er sein Gehör verlor. Der Grund, so haben es später die Ärzte vermutet, muss eine Kinderkrankheit gewesen sein. Mumps oder Masern, vielleicht auch eine Meningitis. Er hat alles gehabt, war oft krank. Auch wenn er alles nur aus Erzählungen seiner Mutter weiß. Seine Mutter, die immer mehr Veränderungen an ihm bemerkte, sich irgendwann sorgte.
Warum er, der schon als Dreijähriger gut sprechen konnte, später kaum noch redete, so viele Fehler machte. Und warum er plötzlich nicht mehr reagierte, wenn die Oma zu Besuch kam. Früher war er als Erster zur Tür gerannt. Irgendwann machte er das nicht mehr. Er hörte ihr Auto nicht mehr.
Er sagt oft, dass er Glück gehabt hat
„Ihr Junge hört schlecht oder fast gar nichts.“ So stellt es schließlich ein Arzt, ein Professor der Uniklinik Frankfurt, fest. Ralph Raule ist damals vier Jahre alt. Der Arzt rät seiner Mutter, nichts von ihrem Sohn zu erwarten. Schulisch und beruflich und so. Sie solle sich keine Hoffnungen machen. Vielleicht werde es ihr Sohn mal zum Handwerker bringen. Vielleicht aber noch nicht einmal das.
Der Arzt hat sich geirrt. Raule hat eine Banklehre gemacht, BWL studiert, in einer Unternehmensberatung gearbeitet. Dann hat er sein eigenes Unternehmen gegründet. Nicht aus einer Not heraus. Nicht, weil er keinen Job gefunden hätte. Sondern weil er es wollte. Weil er sich von seiner Behinderung nicht behindern lassen wollte. Heute macht er 600.000 Euro Jahresumsatz.
Ralph Raule (52) sagt oft, dass er Glück gehabt hat. Glück, ja wirklich! Schließlich hat er sein Gehör erst verloren, als seine Sprache schon gut ausgebildet war. Daher kann er von den Lippen ablesen. Und sprechen. Manchmal verschluckt er ein paar Laute und redet etwas undeutlich. Er ist trotzdem zu verstehen. So gut, dass Fremde meistens nicht merken, dass er gehörlos ist. Dann sprechen sie so schnell oder mit abgewandtem Kopf, dass er nicht von den Lippen ablesen kann, nichts versteht. Trotzdem sagt er nichts. Er will nicht, dass die Leute ihn bemitleiden. Dass sie ihn nicht ernst nehmen.
Wie ein Übersetzer
Er ist so erzogen worden, so groß geworden. Aufgeben gibt es in seiner Familie nicht, nie. Das war schon früher so, als Kind. „Meine Eltern haben keine Rücksicht auf meine Gehörlosigkeit genommen und mich genauso erzogen wie meinen jüngeren Bruder“, sagt Ralph Raule. Manchmal, wenn er spricht, untermalt er Worte mit Gebärden. Er war 15 oder 16 Jahre alt, als er die Gebärdensprache gelernt hat. Seine Eltern haben sie nicht verwendet, nicht gelernt, nie geduldet. Sie hatten Angst, dass er dann das Sprechen verlernt. Dass er irgendwann nur noch Gebärden kann, nur noch mit anderen Betroffenen kommunizieren kann. Und dass sie selbst ihn dann nicht mehr verstehen.
Heute verdient Ralph Raule sein Geld mit Gebärdensprache. Seine Firma Gebärdenwerk produziert für Behörden, Unternehmen und Museen Filme in Gebärdensprache. Manchmal vergleicht Raule seine Arbeit mit der eines Übersetzers, der Informationen aus schriftlichen Texten in Gebärdensprache übersetzt. Er weiß, dass das für Außenstehende schwer zu verstehen ist. Weil die meisten gar nicht wissen, welche Probleme Gehörlose beim Lesen und Schreiben haben. Bei der Aufnahme von Informationen aus Texten. „Hörgeschädigte können keine Lautsprache über die Ohren erfahren. Das heißt: Sie können beim Lesen und Schreiben nicht auf die Lautsprache zurückgreifen, sodass Schriftsprache für sie eine völlig fremde Sprache darstellt.“
Ohne Hörgeräte hört Raule nichts
Raule ist nahezu taub. Ohne Hörgeräte hört er nichts. Ein vorbeifahrendes Auto bemerkt er nicht am Geräusch, sondern am Luftzug. Wenn er morgens zur Arbeit fährt, von Schnelsen nach Hammerbrook, erst mit der Bahn und dann das letzte Stück mit einem Scooter, einem Tretroller, stellt er sein Hörgerät immer aus. Die vielen Geräusche, verstärkt und verzerrt, stören ihn. Geräusche, die er wahrnimmt, aber nicht zuordnen kann. Die für ihn wie aus dem Nichts auftauchen, ohne dass er die Richtung erfassen kann, die Quelle. Das, sagt er, sei kaum auszuhalten. Deswegen macht er das Hörgerät draußen, im Straßenverkehr, immer aus. Er mag die Stille.
Im Büro trägt er eine FM-Anlage um den Hals. FM steht für frequenzmodulierten Funksignale. Die Anlage überträgt Tonsignale wie Sprache oder Musik drahtlos mittels Funkwellen. Sprache wird verstärkt, Hintergrundgeräusche werden reduziert. Für Raule ist die FM-Anlage mehr als ein Hilfsmittel. Sie ist eine Brücke zwischen der Welt der Gehörlosen und der der Hörenden. Mit ihr kann er Stimmen wahrnehmen, Vokale hören. Konsonanten aber nicht und Zischlaute schon gar nicht.
Er ist gewohnt, für seine Interessen einzutreten
Aber immerhin Vokale. Das hilft ihm. Zu verstehen, zu kommunizieren. Doch es ist schwer. Jeder Satz eine Herausforderung, voller Missverständnisse. Mutter oder Butter? Senf oder Genf? Laut oder klaut? Den Unterschied kann er weder verstehen noch von den Lippen ablesen. Er muss ihn sich aus dem Zusammenhang erschließen. Permanent kombinieren, unablässig aufpassen. Manchmal, wenn die Leute zu schnell reden und seine Gedanken den Worten des anderen hinterherjagen müssen, kneift er die Augen zu oder runzelt die Stirn. Aber er bittet nie darum, langsamer zu sprechen.
Filme von Ralph Raule für gehörlose Touristen
Er könnte auch einen Mitarbeiter, der hören kann, zu den Kunden schicken. Wäre vielleicht einfacher. Macht er aber nicht. Weil er es gewohnt ist, für seine Interessen einzutreten. Weil er weiß, wie überzeugend er ist. Mitreißend. Das war schon so, als er die Firma Gebärdenwerk mit zwei Freunden gegründet hat und er überallhin gefahren ist, um ihr Unternehmenskonzept vorzustellen. Um Menschen von etwas zu überzeugen, das sie nicht kannten, das es so zuvor nicht gab.
Erst ein Jahr zuvor, 2002, war das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft getreten, das die Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannte, und Behörden und Ämter zu sogenannter barrierefreier Kommunikation verpflichtete. „Das bedeutete, dass Gehörlose ein Recht auf Verwendung der Gebärdensprache haben“, sagt Ralph Raule. Er hat damals erkannt, was für ein riesiger Markt das ist. Wie viele Internetseiten und Informationen in Gebärdensprache übersetzt werden müssen.
Vorbehalte gegenüber Behinderten
Trotzdem: „Die Vorbehalte in der Gesellschaft gegenüber Behinderten sind eben groß“, sagt Ralph Raule. Er kennt das. Von seiner Ausbildung in der Bank, die er nur unter der Voraussetzung bekommen hat, dass er danach nicht übernommen werden muss. Von der Unternehmensberatung, bei der er nie zu einem Kunden durfte. Und er kennt es von seinem Vater.
Ralph Raule spricht nicht gerne über die Geschichte, ist schließlich seine Familie. Aber andererseits ist die Sache so bezeichnend, so bitter, dass er sie irgendwie erzählen muss. Weil sie ihn verändert hat. Sein Vater hat damals eine Autovermietung, größer als Sixt zu der Zeit. Mit 250 Angestellten, 30.000 Autos. Am Wochenende muss Ralph Raule, 14 Jahre, in der Firma helfen. Einmal soll er Bewerbungen sortieren. Auf den Stapel mit möglichen Kandidaten legt er die Bewerbung eines Mannes. Hoch qualifiziert. „Spinnst du?“, fragt sein Vater ihn. Der Mann hat nur einen Arm. „Der ist ja behindert“, sagt sein Vater und schmeißt die Bewerbung in den Papierkorb.
Das, sagt Raule heute, sei ein Schlüsselerlebnis gewesen. Plötzlich war klar: „Selbst wenn es mich nicht stört – andere stört es.“ Sogar seinen Vater. Es gibt Menschen, die lernen, mit diesem Stigma zu leben. Sie finden sich damit ab, resignieren vielleicht. Und dann gibt es Menschen wie Ralph Raule. Die dagegen aufbegehren, kämpfen. Die erkennen, dass man als Behinderter nicht so gut wie die anderen sein muss. Sondern besser. Herausragend. Und Raule ragt heraus. In der Schule, im Studium. Im Job. Gebärdenwerk ist einer der bundesweit größten Anbieter von Übersetzungsfilmen.
Er hört gerne Musik
Seit ein paar Jahren hat Raule einen Vertrag mit dem Bundesministerium des Inneren, für das er wichtige Informationen von der Internetseite in Gebärden übersetzt. 95 Prozent der Kunden sind Behörden. Sie sind verpflichtet, das Gleichstellungsgesetz umzusetzen. Die private Wirtschaft ist es nicht. Absurd, findet Raule das. „Gleichstellung kann man doch nicht auf einzelne Lebensbereiche reduzieren“, sagt er und schüttelt den Kopf. Himmel! Wenn er nur mehr mitreden könnte, mehr ändern könnte.
Er tut, was er kann. Aber manchmal hat er das Gefühl, es reicht nicht. Er holt sein Tablet, ruft seinen Kalender auf. Die Termine sind in drei Farben markiert. Blau für den Job. Braun privat. Rot Ehrenamt. Raule ist Vorsitzender des Gehörlosenverbands Hamburg, Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung gehörloser Menschen in Hamburg und Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen. Im Moment sind die meisten Termine rot.
Im Zimmer blitzt es auf. Die Klingel. Einen Ton würden viele von ihnen nicht hören, ein Lichtsignal aber sieht jeder. 17 Mitarbeiter hat Gebärdenwerk, neun sind gehörlos. Am Anfang hat er sich manchmal gefragt, ob sie das wirklich schaffen. Sie, die drei Gehörlosen, die ein Integrationsunternehmen gründen wollten und erfahren mussten, dass sie die Quote nicht erfüllen. Dass bei ihnen zu viele Behinderte arbeiten, dass es aber höchstens 50 Prozent sein dürften, damit es finanzielle Unterstützung gibt.
Skypen, mailen, Nachrichten verschicken
Die Finanzen! Eins der großen Thema in all den Jahren, bis heute. Bis heute, wo die Wertschätzung und das Entgelt für Leistungen im sozialen Bereich gering sind. Wo er immer wieder seine Preise rechtfertigen und den Aufwand erklären muss. Denn jeder Film, jede Minute, die gedreht wird, entspricht der Norm DIN EN ISO 17100, mit der in Europa die Qualität von Übersetzungsleistungen gesichert wird. Bei Gebärdenwerk wird ein Text von einem gehörlosen Gebärdensprachdolmetscher aufgearbeitet, von einem hörenden Gebärdensprachdolmetscher kontrolliert und dann von einem Mitarbeiter kontrolliert, der den Ausgangstext nicht kennt.
Dann wird der Film geschnitten und bearbeitet. Eine Filmminute kostet zwischen 150 und 200 Euro. Eine DIN-A4-Seite ergibt rund acht Filmminuten. Dafür arbeiten vier bis fünf Mitarbeiter zwei Tage lang. Es läuft, sagt er. Beruflich, privat. Er ist verheiratet, hat drei Kinder. Seine Frau ist schwerhörig, seine Kinder nicht. Er hört gerne Musik – oder das, was er davon wahrnimmt. Am liebsten mag er die Rockband Marillion. Die Bässe gehen ihm durch und durch.
Irgendwie ist es leichter geworden. Die Kommunikation, das Miteinander. Früher, als es nur Telefone gab, war es schwieriger. Heute kann er skypen, mailen, Nachrichten verschicken. Seit sein Sohn Fußball spielt, ist er in einer WhatsApp-Gruppe mit anderen Eltern. Die meisten wissen, dass er gehörlos ist. Manchmal vergessen sie es aber. Dann schicken sie ihm eine Sprachnachricht.
Nächsten Sonnabend: Bestatterin mit Kopftuch