Hamburg. Asperger-Syndrom-Patient Aaron Wahl hat durch eine neue Behandlungsmethode wieder Freude am Leben gefunden.
„Mutter, Vater, Tochter und das behinderte Kind“, so beschreibt Aaron Wahl die Familienkonstellation in der er aufgewachsen ist. Der Leidensweg des heute 28-Jährigen beginnt schon direkt nach der Geburt. „Ich bin zehn Wochen zu früh geboren, was zu einer Reihe von Problemen führte“, sagt Wahl. Die ersten Jahre waren geprägt von Verhaltensauffälligkeiten, Sprachentwicklungsstörungen und motorischen Schwierigkeiten.
Was folgt ist eine 25 Jahre andauernde Suche nach den Gründen für weitere Eigenarten und Probleme. „Ich wurde gemobbt, verklagt, entmündigt, immer wieder fehldiagnostiziert und schließlich von einem Therapeuten achselzuckend zum hoffnungslosen Fall erklärt“, sagt Wahl. Bis 2016 eine Hamburger Autismus-Spezialistin die Diagnose Asperger-Syndrom stellt.
Lebensverändernder Durchbruch
Die Psychologin empfiehlt ihm, in einem Hamburger Privattheater an einem Emotionstraining teilzunehmen. Das wurde zwar als Schauspielkursus entwickelt, wird aber auch in der Persönlichkeitsentwicklung eingesetzt. Dort erfährt er, wie sich Angst, Freude und Trauer anfühlen. Für Wahl ein lebensverändernder Durchbruch – er schöpft Hoffnung. „Ich hatte vorher nicht daran geglaubt, jemals wieder glücklich sein zu können, einen Sinn im Leben zu sehen“, sagt Wahl. Diese Erfahrung möchte er weitergeben und anderen Menschen mit ähnlichem Leidensweg helfen.
Deshalb gründet er 2017 das Projekt „PEM Autismus“, das sich zum Ziel setzt, Stärken und Fähigkeiten von Autisten zu fördern und ihnen einen Weg in die Gesellschaft aufzuzeigen. Jetzt hat der Hamburger eine Autobiografie geschrieben, die beschreibt, wie er sich nach seiner Diagnose zurück ins Leben kämpft. Es wird am 1. April veröffentlicht – ein Tag vor dem Weltautismustag.
Zahlreiche Therapiesitzungen
„Durch meinen Autismus nehme ich viel mehr Eindrücke und Reize wahr, kann diese aber schlechter filtern, verarbeiten und kommunizieren“, sagt Wahl. Der groß gewachsene, kräftig gebaute Mann mit krausen Haaren sitzt in einem Theater am Billhafen in Rothenburgsort und erzählt von seinem Leben. Die Arme meist verschränkt und mit sichtlichen Problemen, während des Gesprächs Blickkontakt zu halten. „Autisten müssen sich oft schon nach kurzen Aufenthalten in der Öffentlichkeit viele Stunden davon erholen“, sagt Wahl. Bereits als Kind hat er lieber allein gespielt, hatte Probleme soziale Kontakte aufzubauen.
Seine Eltern schleppten ihn zu zahlreichen Therapiesitzungen, die aber nicht weiterhalfen. Mit 16 Jahren begann Wahl eine Ausbildung zum IT-Fachmann, die er aber wegen Problemen mit seinem Vorgesetzten schon bald wieder abbrach. „Ich konnte Hierarchien nicht wahrnehmen – behandelte meinen Chef auf dieselbe Art wie meine Kollegen“, sagt Wahl. Ein Jahr später folgte der Versuch einer Ausbildung zum Automobilkaufmann.
Wahl wollte arbeiten – durfte es aber nicht
Doch der dafür notwendige Kundenkontakt überforderte ihn. Als er bei einer Schicht an der Kasse mit besonders vielen Menschen zu tun hatte, brach Wahl zusammen und landete schließlich mit 17 Jahren in einer psychiatrischen Klinik. Die Ärzte behielten ihn ein halbes Jahr dort, verabreichten ihm zahlreiche Psychopharmaka und diagnostizierten schwere depressive Episoden. „Die hatte ich wirklich“, sagt Wahl. Im Nachhinein sei ihm aber klar, dass sie ein Symptom seines damals noch unerkannten und unbehandelten Autismus waren.
„Ich war depressiv, weil ich nicht wusste, was mit mir los ist“, sagt Wahl. Seine Denkstruktur würde sich von anderen unterscheiden. So führte es beispielsweise häufig zu Problemen, wenn er ein beiläufiges „Wie geht’s?“ wahrheitsgemäß und ausführlich beantworten wollte. „Ich konnte nicht verstehen, dass kaum einer eine ehrliche Antwort auf diese Frage erwartet“, sagt Wahl. Es folgen weitere Therapieversuche und Klinikaufenthalte, dann der Umzug in eine betreute Wohneinrichtung.
Am härtesten trifft es Wahl aber, als ein Psychologe ihm sagt, dass er ein hoffnungsloser Fall sei und es in seinem Leben nicht mehr um Verbesserung, sondern nur noch darum ginge, wie er damit leben kann – ihn für dauerhaft arbeitsunfähig erklärt. „Ich wollte arbeiten, etwas zur Gesellschaft beitragen – aber ich durfte nicht mehr“, sagt Wahl. Läge die Diagnose vor, werde es einem fast unmöglich gemacht, jemals wieder in der Arbeitswelt Fuß zu fassen.
Damit wollte sich Wahl aber nicht abfinden. Und als er durch den Befund der Hamburger Autismus-Expertin endlich wusste, was nicht stimmt, fand er auch seine Aufgabe. „Ich möchte Menschen mit ähnlichen Problemen helfen“, sagt Wahl. Ihm habe das eigentlich für Schauspieler entwickelte Emotionstraining nach der Perdekamp’schen Methode zum ersten Mal seinen Gefühlen nähergebracht.
Deshalb möchte er das Training möglichst vielen Autisten ermöglichen. Dafür gründete er einen Förderverein, der innerhalb kurzer Zeit internationale Anerkennung fand und dessen Angebote mittlerweile auch von der Bundesagentur für Arbeitgefördert werden. „Es hat mein Leben verändert, anderen helfen zu können und der Gesellschaft etwas zurückzugeben“, sagt Wahl, der nun wieder optimistisch in die Zukunft schaut.