Berlin. Die App Pickable will Tinder Konkurrenz machen, in dem sie Frauen vor Slut-Shaming schützt. Doch der Online-Dating-Markt ist umkämpft.
Julian ist Softwareingenieur, wohnt drei Kilometer entfernt, mag Basketball und „freundliche Menschen“. Auf seinem Foto trägt er Kapuzenpulli und ein nettes Lächeln. Über die Frauen, die in der Dating-App Pickable sein Foto liken, weiß Julian nichts. Kein Name, kein Profilfoto, kein Beruf – erst wenn sie ihm eine Nachricht mit Foto schicken, erfährt er, wer sich hinter dem Klick aufs Herz verbirgt.
DieDating-App Pickable garantiert Frauen völlige Anonymität: „Bei mir haben endlich die Frauen die ganze Macht“, sagt die Erfinderin Clementine Lalande. Die App sieht aus wie Tinder, will aber der beliebten und weltbekannten Dating-App ernsthaft Konkurrenz machen – weil sie ihre weiblichen Nutzer besser schützt.
Tatsächlich ist der Online-Dating-Markt hart umkämpft: Laut der Studie „Der Online-Dating-Markt 2017-2018“ haben die deutschen Dating-Börsen 2017 mehr als 210 Millionen Euro umgesetzt, der Markt wächst seit 2014 jedes Jahr um fünf Prozent. Laut einer Studie des Digitalverbands Bitkom daten drei von zehn Internetnutzern bereits online.
Dabei liegen kostenpflichtige Angebote immer noch vorne: Parship, eDarling oder ElitePartner haben 49 Prozent aller Nutzer schon mal in Anspruch genommen, weitere 28 Prozent können sich dies vorstellen. Aber auch teilweise kostenlose Flirt-Apps wie Tinder oder Lovoo werden immer beliebter: 35 Prozent haben 2018 eine solche App genutzt. Das sind sieben Prozent mehr als 2017.
Dabei ist die Qualität nicht immer überzeugend, wie die Stiftung Warentest 2018 herausfand. So beurteilt die Stiftung Warentest aktuelle Dating- Apps: Nur fünf der 44 getesteten Apps schnitten mit der Bewertung „akzeptabel“ ab. Kritisiert wurde vor allem , dass die Apps Daten ihrer Nutzer mit Dritten teilen.
Dating-App „Pickable“: Mehr Privatsphäre, weniger Anmache
Clementine Lalande kennt sich aus in diesem Markt: Die Französin war CEO der Dating-App „Once“, die Mitgliedern ein Date pro Tag vorschlägt. Jetzt hat sie „eine App für die „MeToo“-Ära“ entwickelt, wie sie es nennt. „Ich habe in den vergangenen Jahren mit Tausenden Frauen gesprochen, und sie alle wollen zwei Dinge: mehr Privatsphäre beim Online-Dating und weniger aggressive Anmache“, sagt Lalande.
Bei Tinder muss jeder ein Profil anlegen
Während bei Tinder die Nutzerinnen ein Profil mit Foto, Namen und Alter hochladen müssen und ihren Account mit Facebook verknüpfen, können sie bei Pickable völlig anonym auf Männersuche gehen – nur die Männer müssen ein Profil mit Foto erstellen. Ja, natürlich sei das diskriminierend den Männern gegenüber, sagt Lalande. „Und das ist auch gut so. Klar, ich hätte auch eine App entwickeln können, in der ich geschrieben hätte „seid nett“ – aber was hätte das gebracht? Nichts!“
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Sind Männer wirklich so schlimm? Wer sich mit Frauen, die Dating-Apps nutzen, unterhält, der kommt schnell zu dem Schluss: ja, die meisten offenbar schon.
Beispiele gibt es viele: Der eigentlich zwanzig Jahre ältere Chef, der einer jungen Kollegin als Match vorgeschlagen wird – weil er sich für die App kurzerhand jünger gerechnet hat. Und der ihr im Büro nun immer vielsagende Blicke zu wirft. Auch, weil sie dank des Profiltexts jetzt bestens über seine sexuellen Vorlieben informiert ist. Oder die Kollegin, bei der viele Männer schon in der ersten Chat-Nachricht schrieben: „Ich weiß übrigens, wo du arbeitest“ – nur, weil diese Info leicht im Netz zu finden war.
Wenn Frauen unerwünschte „Dick-Pics“ bekommen
Oder die Masse an unerwünschten Fotos: „Ich habe aus meiner eigenen Dating-Zeit noch eine ganze Kollektion von Dick Pics auf meinem Handy“, sagt Clementine Lalande. Diese „Dick Pics“, also Penis-Bilder, wurden ihr unaufgefordert zugeschickt. Jetzt will sie deshalb den Frauen mehr Sicherheit geben – und mit ihrer App den Markt der der Dating-Apps revolutionieren: „Tinder ist jetzt hoffentlich bald Geschichte“, sagt sie.
Und: Sie will auch Frauen erreichen, die normalerweise keine Dating-Apps nutzen, weil sie Angst vor „Slut-Shaming“ haben. Also vor jenem gesellschaftlichen Phänomen, bei dem Frauen für ihr sexuelles Verhalten angegriffen und ihnen Schamgefühle eingeredet werden.
Darum geht es beim „Slut-Shaming“
Denn für viele sei eben ein Mann, der sich bei einer Dating-App anmeldet, immer noch der tolle Hengst, und die Frau, die dasselbe tut, eine „Schlampe“. „So lange es diese Doppelmoral noch gibt, müssen wir die Frauen schützen. Und das geht nicht, wenn sie mit einem öffentlichen Dating-Profil online sind“, sagt Lalande.
Sie möchte also Dating für Frauen angenehmer machen. Ganz neu ist das nicht, schließlich hat auch die ehemalige Tinder-Mitbegründerin Whitney Wolfe mit der App „Bumble“ eine Tinder-Alternative erfunden, die Frauen bevorzugt: Hier müssen zwar Mann und Frau ein Profil anlegen, beide dürfen swipen – aber nur die Frau kann den Mann anschreiben.
Doch warum eigentlich sollten sich Männer bei einer App anmelden, die klar auf Frauen ausgerichtet ist? „Ganz einfach, wenn viele Frauen angemeldet sind kommen, auch die Männer“, sagt Lalande. Außerdem sei es auch für die Männer angenehmer, wenn sie nicht immer den ersten Schritt machen müssten. „Sie können sich einfach zurücklehnen und auf Nachrichten warten.“
Parship setzt schon länger auf Anonymität beim Dating
Die kostenpflichtige Konkurrenz sieht die neue „Frauen-First“-Apps eher gelassen. „Anonymes Dating ist ein alter Hut, das gibt es bei uns schon seit zwanzig Jahren“, sagt Parship-Sprecherin Jana Bogatz. Singles, die bei Parship ein Profil anlegen, müssen zwar ein Foto einstellen und einen Fragebogen ausfüllen. Doch bei einem Treffer sieht das Gegenüber erst mal nur ein gepixeltes Foto, dazu Alter und Beruf. „Das Foto kann der Nutzer – egal ob Mann oder Frau – dann selbst freischalten“, erklärt Bogatz.
Parship darf sich seit November zwar nicht mehr „Deutschlands größte Partnervermittlung“ nennen. Der Konkurrent Lovescout24 hatte wegen des Parship-Werbespruchs auf Unterlassung geklagt und Recht bekommen. Der Streitpunkt: Beide haben mehr als zehn Millionen Profile, Parship allerdings mehr zahlende Mitglieder. Was bleibt, ist der Werbespruch „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship“, der derzeit wieder an zahlreichen Plakatwänden prangt. Pünktlich zum Frühling, der Jahreszeit, in der die Hormone verrückt spielen.
Das Anonymitäts-Prinzip der Partnervermittlungen galt bei vielen Tinder-Nutzern aber als überholt. Das Neue und Besondere an Tinder war 2012, als die App sich auf dem Campus einer kalifornischen Uni ausbreitete, dass man sich möglichst schnell durch möglichst viele Nutzer „durchswipen“ konnte. Und später auch gleich noch auf deren Instagram-Profil klicken konnte, wenn es mit dem Account verbunden war. Möglichst unkompliziert konsumieren, und wenige Stunden später schon treffen – das ist der Erfolgsfaktor der App.
Wer viel bei Social Media postet, muss aufpassen beim Online-Dating
Und plötzlich sollen die Nutzer wieder schüchtern und weniger zeigefreudig sein? Das scheint erst mal ein Widerspruch in Zeiten, in den scheinbar jeder alles auf Social Media postet. Ist es aber nicht, sagt Clementine Lalande. „Gerade die jüngeren Frauen sind vorsichtiger geworden. Weil von ihnen schon so viele Fotos und Informationen via Social Media zu finden sind, wollen sie beim Dating diskreter sein“. Das ergibt Sinn, denn wer viel postet, ist schneller zu finden – auch für ein potenzielles Date. Oder einen potenziellen Stalker.
Wenn man den Zahlen glaubt, die Lalande präsentiert, scheint das Konzept von Pickable schon jetzt aufzugehen: In Frankreich, Großbritannien und Italien hat die App schon mehr als 200.000 aktive, monatliche Nutzer. Und in der Schweiz liegt sie im Download-Ranking der Dating-Apps auf Platz eins.