Berlin. Auch Menschen in glücklichen Beziehungen gehen fremd, sagt Paartherapeutin Esther Perel. Wir wollten wissen, wie man das verhindert.
Jeder Stuhl und jeder Hocker ist besetzt. „Esther Perel Live“ steht in großen, weißen Buchstaben auf einer Leinwand. Besagte Esther Perel trägt gedeckte Farben, Blazer und Hose – und ist der Popstar unter den Paartherapeuten. Die Lady Gaga für Paare, deren Beziehung durch Seitensprünge gefährdet sind. Eine junge Frau im Publikum meldet sich zu Wort: „Ich wollte nur sagen: Ich finde es großartig, was Sie machen, ich könnte Ihnen tagelang zuhören.“
Die 61-jährige Belgierin, die in New York eine Praxis betreibt, ist eine der erfolgreichsten Beziehungsexpertinnen der Welt. Mehr als 20 Millionen Menschen klicken ihre Videovorträge im Internet an. Ihr Buch, das gerade auf Deutsch mit dem Titel „Die Macht der Affäre – Warum wir betrügen und was wir daraus lernen können“ erschienen ist, ist in den USA bereits ein Bestseller.
Seitensprung: So können Paare Untreue verhindern
Ihr Podcast „Where should we begin?“ liegt auf Platz eins der englischsprachigen Audible-Podcasts in Deutschland. In der Sendung kann man ihr bei der Arbeit zuhören – sie ist die erste, die Paare öffentlich therapiert.
Frau Perel, eben haben Sie die Menschen hier im Publikum gefragt, ob ihr Leben schon einmal von Untreue betroffen war – fast alle Zuhörer haben die Hand gehoben. Warum hat schon fast jeder Erfahrungen mit Affären gemacht?
Esther Perel: Ich frage das fast immer und fast immer heben 90 Prozent der Zuschauer ihre Hand. Denn: Entweder du wurdest selbst betrogen, oder du warst das Kind, dessen Elternteil betrogen wurde, oder du bist das Kind einer Affäre, oder du bist der Freund, der eine Affäre decken musste… die Liste der Möglichkeiten ist lang. Was ich damit sagen will: Es gibt kein anderes Thema, bei dem so viele Menschen betroffen sind. Und dennoch ist es ein Tabu, über das wir nicht sprechen.
Wie sollten wir denn darüber sprechen?
Perel: Wir sollten Affären nicht so schwarz-weiß sehen, es geht nicht nur um Täter oder Opfer. Betrug muss man aus zwei Perspektiven betrachten: Paare sollten sich nicht nur damit beschäftigen, was dem Betrogenen angetan wurde – sondern auch, was die Affäre für den Betrüger bedeutet hat. Wir müssen hinterfragen, warum jemand fremdgegangen ist.
Warum gehen wir denn fremd?
Perel: Untreue ist weltweit verpönt, und wird dennoch weltweit praktiziert. Es muss also mehrere Gründe für Affären geben. Die meisten Therapeuten sagen, Menschen betrügen, weil mit der Beziehung etwas nicht stimmt. Zu mir in die Praxis kommen aber immer wieder Menschen, die sagen: Ich liebe meinen Partner, ich bin in einer glücklichen Beziehung, aber ich betrüge ihn.
Warum also die Affäre, wenn man doch glücklich in der Beziehung ist?
Perel: Es gibt viele Gründe, die nichts mit deinem Partner oder der Beziehung zu tun haben. Und auch nichts mit einer Midlife-Crisis oder einem Porsche - oder all diesen Klischees. Vielleicht hat sich die Person, die fremdgeht, die letzten 15 Jahren um ein behindertes Kind gekümmert, oder fünf Jahre lang dreimal die Woche ihre Mutter besucht, die Alzheimer hat – also war jahrelang die Pflegerin, hatte nur mit Sorgen und Ängsten zu kämpfen. Und durch die Affäre empfindet sie plötzlich ein Gefühl von Freiheit, Leichtigkeit und Verspieltheit, ein Gefühl, das Zuhause nicht möglich ist.
Dann ist die Affäre eine einfache Möglichkeit, sich lebendig zu fühlen und sich in eine neue Erfahrung zu flüchten?
Perel: Genau, wir wenden uns nicht vom Partner ab, sondern von der Person, die wir geworden sind, wir sind auf der Suche nach einem neuen Ich – oder nach unserem alten Ich, das wir über die Jahre verloren haben. Deshalb ist auch eine in sexueller Hinsicht gut laufende Beziehung kein Garant für Treue.
Das ist deprimierend, denn das bedeutet ja, dass wir uns nicht mal sicher vor Betrug fühlen können, wenn wir großartigen Sex haben. Gibt es denn keine Möglichkeit, seine Beziehung „betrugssicher“ zu machen?
Perel: Sie meinen, genauso wie man ein Haus kindersicher macht? Aber im Ernst, in meiner Erfahrung sind die Beziehungen am besten vor Affären geschützt, die noch lebendig sind, wo die Partner neugierig aufeinander sind, sich gegenseitig Aufmerksamkeit schenken, wo interagiert wird.
Eine Beziehung, in der man sich nicht einsam fühlt, oder nur so fühlt, als ob man bloß eine Funktion erfüllt – also eine Küche oder ein Portemonnaie ist. Wer eine solche Beziehung führt, verringert die Chancen, dass er betrogen wird – denn dann ist der Partner weniger anfällig für die Freundlichkeiten von Fremden.
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Welche Rolle spielt die Technologie? Ist dank Apps wie Tinder und auch Social Media die Gefahr heute wirklich größer, betrogen zu werden?
Perel: Natürlich, heutzutage kannst du eine Affäre mit jemanden haben, während du neben deinem Partner im Bett liegst. Es war noch nie so einfach, zu betrügen wie heute – aber gleichzeitig war es noch nie so schwer, es geheim zu halten. Früher war es doch so: Die Großmutter starb und plötzlich fand man Liebesbriefe auf dem Dachboden. Heute findet man nicht nur ein bisschen Lippenstift auf dem Kragen, sondern ein ganzes digitales Archiv auf dem Handy, mit tausenden Liebesnachrichten und Fotos. Diese ganzen Details kann man dann nicht mehr aus seiner Erinnerung löschen.
Was machen Paare denn richtig, die solche traumatischen Untreue-Erfahrungen trotzdem überstehen?
Perel: Viele unterschiedliche Dinge. Aber vor allem sprechen sie darüber, warum der Partner fremdgegangen ist. Wenn ich aber zum Beispiel darauf beharre, dass es nichts bedeutet hat und sage „Du machst eine große Sache aus nichts“, dann wird das nicht lange gut gehen.
Gibt es bestimmte Arten von Betrug, die wir leichter verzeihen können als andere?
Perel: Nein, es kommt nicht darauf an, wie schlimm der Betrug war. Ich habe Menschen gesehen, die ihrem Partner verzeihen konnten, dass er 15 Jahre eine Parallelleben mit einer andere Frau und Familie geführt hat. Und eine andere Patientin konnte nicht darüber hinwegkommen, dass ihr Partner ein einziges Mal einen erotischen Massagesalon besucht hat.
Und was war der Unterschied zwischen diese beiden Menschen?
Perel: Ihre Vorgeschichte. Wenn jemand zum Beispiel schon in der Kindheit verlassen wurden, also eine Vorerfahrung mit dem Thema hat, fällt es viel schwerer, über eine Affäre hinwegzukommen.
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In Ihrem Buch schreiben Sie auch davon, dass Fremdgehen eine Beziehung stärken kann. Das klingt so positiv.
Perel: Ich sage nicht, dass Affären eine gute Sache sind. Ich sage nur, dass es durch traumatische Erfahrungen einen Entwicklungsschub geben kann. Und dass es in einer Beziehung viele Arten von Betrug gibt, die genauso schlimm sein können wie eine Affäre.
Wie meinen Sie das?
Perel: Wenn ein Partner mit jemand anderem schläft, ist das für uns heute ein Riesenproblem. Wenn aber jemand neun Jahre lang jeden Abend erst um 23 Uhr nach Hause kommt oder jeden Abend fünf Whiskys trinkt, dann zählt das nicht als Betrug. Der hat sich damit doch auch längst aus der Beziehung verabschiedet. Es gibt viele Formen des Betrugs. Aber heutzutage entscheiden wir, dass der eine Betrug – die Affäre – wichtiger ist als die anderen Betrügereien.
Millionen Menschen hören Ihren Podcast, in dem Sie genau diese Probleme mit echten Paaren besprechen. Warum wollen so vielen Menschen fremden Paare dabei zuhören, wie sie von Ihnen therapiert werden?
Perel: Paare haben heutzutage sehr hohe Erwartungen an ihre Beziehungen. Früher hat man jeden Beziehungsstreit der Nachbarn mitgehört, heutzutage kriegen wir viel weniger von unseren Mitmenschen mit. Wir sehen nur die „Fake News“ in Social Media, wo die Menschen ihre Leben so schön gefiltert präsentieren, dass jede Beziehung toll aussieht.
Die Menschen sind hungrig nach der Wahrheit, hungrig nach Unterstützung. Man hört, wie andere Menschen mit ihren Problemen, ihren Hoffnungen, ihren Ängsten umgehen. Und die Zuhörer hören das in Echtzeit, unbearbeitet – sie dürfen sozusagen einen „Behind-the-scenes“-Blick in die Beziehung anderer Menschen werfen.
Das klingt auch ein bisschen voyeuristisch.
Perel: Am Anfang ist es vielleicht ein wenig voyeuristisch. Aber dann merkt man, dass man beim Zuhören gar nicht so sehr an dieses eine Paar denkt, sondern viel mehr über sich selbst nachdenkt – über sein Leben, seine Beziehung, seine Schmerzen.