Hamburg. Firmen in der Region überraschen mit neuen Produkten. Heute: Innovationen von Frau Frucht und Herrn Gemüse.
Meistens wird sie Frau Frucht genannt. Wenn Ulrike Rothenberg auf dem Markt einen Stand aufbaut und ihre Fruchtaufstriche verkauft, wird sie von der Mehrzahl der Kunden mit „Frau Frucht“ angesprochen. Ihren richtigen Namen kennen die wenigsten. Sie mag es, für Frau Frucht gehalten zu werden, Frau Frucht zu sein. Weil ihr Unternehmen nicht irgendeine Firma, irgendein Projekt ist. Sondern ein Teil von ihr. „Ich wollte immer etwas machen, mit dem ich mich identifizieren kann, das mir wichtig ist“, sagt Ulrike Rothenberg. So wie ihre Fruchtaufstriche, die sie aus dem herstellt, was sie in der Natur findet.
Aus wilden Früchten, Kräutern und Blüten wie Quitten, Löwenzahn, Holunderblüten, Hagebutten, Schlehen, Weiß- und Sanddorn, Waldmeister, Mirabellen oder Kornelkirschen kreiert sie ungewöhnliche Fruchtaufstriche, Gelees und Chutneys. Quitte-Ingwer zum Beispiel – oder Löwen- zahnmarmelade oder Rosenblütengelee. Ganz neu im Sortiment, pünktlich zur Weihnachtszeit: die Bratapfelmarmelade. „In norddeutschen Knicks, Streuobstwiesen und Weiden wachsen jede Menge wilde Früchte, Kräuter und Blüten, die kaum genutzt werden“, sagt Ulrike Rothenberg.
Idee ist vor vier Jahren entstanden
Die Idee zu dem Start-up ist vor vier Jahren entstanden. Damals, nach einer schweren Krankheit, fragte sich Ulrike Rothenberg, wie es weitergehen sollte. Eine Rückkehr in ihren alten Job bei Panasonic konnte sich die Kauffrau nicht vorstellen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich in meinem Leben was ändern muss – um nicht wieder krank zu werden“, erinnert sich die 48-Jährige, die damals mit ihrem Mann Hanno noch in Eppendorf wohnte. Um den Kopf freizubekommen, fuhren die beiden oft aufs Land und streiften stundenlang durch Wiesen und Wälder.
Um wieder eine Beschäftigung zu haben und sich nicht nutzlos zu fühlen, begann Ulrike Rothenberg irgendwann damit, die auf diesen Spaziergängen geernteten Beeren, Wildpflaumen und Kräuter einzukochen. Zuerst nur für sich selbst, dann auch wegen der großen Menge für Freunde und Bekannte. Als diese sie ermutigten, ihre Aufstriche zu verkaufen, baute sie einen Stand auf dem Flohmarkt auf. „Nur zum Spaß und zur Beschäftigung“, wie sie sagt. Dass daraus mal ein Unternehmen wird, hätte sie sich damals nicht vorstellen können.
Acht Kilo in fünf Minuten
Wurde es aber. Frau Frucht und Herr Gemüse. Den Firmennamen hat sich eine Nachbarin aus der Werbebranche einfallen lassen. Auf einem Spaziergang. Herr Gemüse ist Ulrikes Mann Hanno Rothenberg. Nachdem der Grundschullehrer seine Frau in der Anfangszeit neben seiner Arbeit unterstützt hat, ist er ebenfalls schwer krank geworden und jetzt Frührentner. Gemeinsam haben die Rothenbergs den Sprung vom Flohmarkt auf den Wochenmarkt geschafft, und vom Wochenmarkt in das Onlinegeschäft und den Einzelhandel. Gemeinsam haben sie einen Kredit über 80.000 Euro aufgenommen und in eine moderne Küchenausstattung investiert.
„Anders waren die Massen einfach nicht mehr zu bewältigen“, sagt Hanno Rothenberg. Wenn er früher Zwiebelmarmelade eingekocht hat, brauchte er Stunden für das Schälen und Schneiden. Heute schafft er acht Kilo in fünf Minuten. „Wenn man richtig reinhauen würde, könnten wir am Tag 1000 Gläser produzieren“, sagt Herr Gemüse alias Hanno Rothenberg. Er ist fürs Kochen zuständig, Ulrike für den Vertrieb. 2015 haben sie 5000 Gläser verkauft, zwei Jahre später schon viermal so viele. In diesem Jahr sind es schon 35.000 Stück. Und die verkaufsstarke Weihnachtszeit fängt gerade erst an. 4000 Gläser haben sie dafür auf Vorrat produziert.
Zutaten direkt aus der Natur
Der Preis: Zwischen zwei Euro für ein kleines Glas (50 Milliliter) und 5,90 Euro für 230 Milliliter. Jedes Glas wird von Ulrike Rothenberg selbst etikettiert, jede Frucht und jede Pflanze per Hand geerntet. Inzwischen sind die Rothenbergs nach Kayhude gezogen, knapp zehn Kilometer nördlich von Hamburg. Direkt an ihren Garten grenzt eine Löwenzahnwiese, im nahegelegenen Knick finden sie Schlehen und Kornelkirschen. Heidelbeeren pflücken sie in einem Moor, Bärlauch an einer geheimen Stelle. Inzwischen ernten sie jedoch nicht nur selbst, sondern bekommen vieles auch von Gartenbesitzern geschenkt. „Der Kreis der Menschen, die uns Obst zur Verfügung stellen, wird immer größer“, freut sich Ulrike Rothenberg. Rund 50 Unterstützer haben sie bereits.
„Dadurch werden unsere Aufstriche noch persönlicher! Bei vielen Sorten kann man genau nachlesen, woher die Zutaten stammen“, sagt Ulrike Rothenberg. Rund 80 Prozent der Zutaten beziehen sie direkt aus der Natur, 20 Prozent kaufen sie zu. Derzeit lagern in ihrem Carport noch Quitten und Kürbisse; 2019, so ihr Traum, wollen sie einen Lagerraum bauen. Aber alles zu seiner Zeit. Das ist ihr Motto, auch beim Einkochen. Oder gerade dort. „Gute Aufstriche sind wie Wein oder Sauerteig. Die brauchen Zeit“, sagt Hanno Rothenberg, der seine Zutaten oft über Nacht ziehen lässt. Meistens wird er übrigens Herr Gemüse genannt.
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