Hamburg . Bis 1919 konnte ein Mitglied der Hamburger Regierung nicht abgewählt und entlassen werden. Die Wahl war eine Farce.

Was am Donnerstag nur ein paar Minuten dauerte – die Ernennung und Bestätigung eines neuen Senators – wäre im „alten Hamburg“ undenkbar gewesen. Bis 1918 wurden uralte Traditionen gepflegt, auch wenn sie schon damals längst anachronistisch waren. Eine davon besagte, dass ein neuer Senator erst einmal unter „Hausarrest“ steht. Die Zeit zwischen der Wahl und der Amtseinführung hatte der neue Mann – Frauen waren ohnehin ausgeschlossen – acht bis zehn Tage zu Hause zu verbringen. Um sich innerlich auf sein Amt vorzubereiten.

Zunächst aber wurde dem Gewählten gratuliert: Vor seinem Haus zog ein militärischer Posten auf, dann kamen die Senatskutschen mit Erstem und Zweitem Bürgermeister, anderen ­Senatoren, Bürgerschaftsabgeordneten, Haupt­pastoren und sonstigen Honoratioren. Das Musikkorps des Hamburger Regiments gab am Morgen nach der Wahl ein Ständchen vor dem Domizil. Selbst der sonntägliche Kirchgang war Teil des Rituals.

Kniehosen und Schnallenschuhe

Einer der jüngeren Senatoren hatte den Neugewählten zum Gottesdienst abzuholen und zurückzubegleiten. Beide trugen die uralte Amtstracht: Kniehosen und Schnallenschuhe, langes schwarzes Ornat und einen weißen „Mühlsteinkragen“, wie man ihn von Gemälden im Rathaus kennt. Das war noch Anfang des 20. Jahrhunderts so.

Die Wahl selbst war eine Farce. Die ohnehin nicht demokratisch gewählte Bürgerschaft hatte Senatoren zwar zu wählen, konnte aber keinen Kandidaten gegen den Senatswillen durchsetzen. Das Prozedere konnte viele Stunden dauern, Bürgerschaft und Senat hatten bei diesem Staatstheater auszuharren. Wobei auch hier die Tradition Details ­regelte: Im Senatsgehege wurde heiße Schokolade serviert. Die Abgeordneten durften auch zu Wein und Cognac greifen. Carl Mönckeberg, Sohn des Bürgermeisters Johann Georg und seit 1910 Abgeordneter der Liberalen, nannte das Ganze eine „Zeitverschwendung“.

Wer das Amt ablehnte, verlor sein Bürgerrecht

Das Senatorenamt galt als höchste Ehre, die einem Hamburger zuteilwerden kann. Ablehnen durfte man sie nicht – das hatte die Aberkennung des Bürgerrechts und den Verlust aller Ämter zur Folge. Auch zurücktreten war nicht erlaubt, das hätte die gleichen Folgen gehabt. Mindestens sechs Jahre musste man im Amt sein (oder älter als 60 sein), bevor ein Amtsverzicht möglich wurde.

Die meisten Senatoren waren Juristen oder Kaufleute, selbst das war in der Verfassung geregelt. Von den 18 Amtsträgern mussten neun Juristen sein oder „Cameralwissenschaften“ studiert haben. Weitere sieben hatten dem „Kaufmannsstande anzugehören“, wozu keine „Krämer“, also kleine Einzelhändler gehörten. Lediglich zwei Senatoren durften einen anderen Beruf ausüben.

Die beiden Bürgermeister waren natürlich am angesehensten, in der Regel waren es die Dienstältesten. Ihr Amt hatte viel Prestige, aber wenig Macht. So etwas wie eine Richtlinienkompetenz war unbekannt, niemand durfte einem Senator in seine Zuständigkeit hineinregieren. Abwählen oder entlassen konnte ihn auch niemand, solange er sich an die Gesetze hielt. All das endete 1919, als die erste demokratische Bürgerschaft gewählt wurde. Jetzt war der Senat dem Parlament verantwortlich und seine Amtszeit endlich, jetzt wurden die meisten alten Zöpfe abgeschnitten. Vor Michael Westhagemanns Haus wird heute keine Kapelle aufmarschieren ...