Washington. Winterkorn drohen in den USA bis zu 25 Jahre Haft. Doch der Ex-VW-Chef muss nicht ins Gefängnis – sollte er nicht einen Fehler machen.

Auf der Auto-Show in New York kam Heinrich Woebcken neulich richtig in Fahrt. Zweieinhalb Jahre nach dem Dieselabgasskandal spüre VW in den Vereinigten Staaten wieder Rückenwind, sagte der US-Chef des Wolfsburger Konzerns mit leuchtenden Augen.

Steigende Verkaufszahlen, neue Modelle auf dem Fließband und das Gefühl, dass die Amerikaner „Comeback-Geschichten lieben“, seien positive Signale für die Zukunft. Mit der jetzt in Detroit veröffentlichten Anklage gegen Ex-Konzern-Chef Martin Winterkorn haben die Aufräumarbeiten von VW im schwierigen US-Markt jedoch wieder einen herben Dämpfer erfahren.

„Intrige bei Volkswagen“

Viele große US-Medien berichteten am Freitag von den ungewöhnlich harschen Worten, die US-Justizminister Jeff ­Sessions für den 70-jährigen Winterkorn fand, dem im Falle einer Verurteilung bis zu 25 Jahre Haft und eine Geldstrafe von bis zu 325.000 Dollar (271.000 Euro) drohen. „Wer versucht, die USA zu betrügen, wird einen hohen Preis bezahlen“, sagte der Republikaner.

Sessions macht sich zu eigen, was eine Bundesgerichtsjury zuvor für erwiesen hielt: dass die „Intrige bei Volkswagen“, „die gesetzlichen Vorschriften gezielt zu missachten, bis an die Spitze des Unternehmens reichte“. Konkret gemeint ist die Manipulation der Abgaswerte von rund 600.000 Dieselmodellen in den USA. Winterkorn werden Verschwörung, Betrug, Irreführung von Behörden und Kunden sowie Verstöße gegen Umweltgesetze vorgeworfen. Jetzt wurde Haftbefehl gegen den früheren Manager erlassen.

Winterkorn wurde über Stand der Dinge informiert

Aus der 43-seitigen Anklageschrift erschließt sich, dass Winterkorn Aktionäre, Behörden und Öffentlichkeit belogen haben soll, als er am 23. September 2015 von seinem Posten mit der Beteuerung zurücktrat, erst wenige Tage zuvor vom Einsatz illegaler Abschalteinrichtungen in der Dieselmotorensoftware erfahren zu haben.

Wahr sei im Gegenteil, dass der in München-Unterföhring lebende Pensionist zwischen Frühjahr 2014 und Sommer 2015 mehrfach detailliert von Mitarbeitern über den Betrug ins Bild gesetzt worden sei. Schlüsselmoment war demnach der 27. Juli 2015: Bei einer Sitzung in Wolfsburg sei Winterkorn mit einer Powerpoint-Präsentation der Stand der Dinge dargelegt worden.

Dem Vorschlag von ranghohen VW-Technikern, gegenüber den US-Aufsichtsbehörden EPA und Carb weiter mit verdeckten Karten zu spielen und die Existenz der Manipulationssoftware („defeat device“) zu leugnen, sei der Boss gefolgt. „Winterkorn stimmte dem Aktionsplan zu“, heißt es in der Anklage, die sich auch gegen die VW-Funktionäre Richard Dorenkamp, Heinz-Jakob Neusser, Jens Hadler, Bernd Gottweis und Jürgen Peter richtet.

US-Klage erhöht den Druck auf die deutschen Behörden

Dass die US-Justiz ausgerechnet an dem Tag, als der neue VW-Chef Herbert Diess bei der Hauptversammlung in Berlin davon sprach, dass Volkswagen „noch anständiger“ werden müsse, die Altlast Winterkorn ins Schweinwerferlicht zerrt, ist nach Einschätzung von US-Experten eine „demonstrative Erinnerung und viel Symbolik“.

Diesel-Fahrverbote – Darum besteht Handlungsbedarf

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    Denn so­lange Winterkorn, der in Deutschland gesetzlich vor Auslieferung an die USA geschützt ist, nicht den Fehler von ­Oliver Schmidt (48) wiederholt, droht ihm kein Prozess. Nach Amerika oder in Länder zu reisen, die Auslieferungsabkommen mit den USA haben, kann jedoch ein großes Risiko darstellen.

    Der VW-Abgasexperte Schmidt, der eng mit dem Dieselbetrug verwoben ist, wurde 2017 bei einer Urlaubsreise in Miami/Florida verhaftet. Er hat seine Mittäterschaft gestanden und wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. James Liang (63), ein anderer VW-Manager, sitzt für drei Jahre ein. Winterkorn ist nun der ­neunte ehemalige und aktuelle VW-Mitarbeiter, gegen den US-Behörden Strafanzeige gestellt haben.

    Druck auf deutsche Behörden soll erhöht werden

    Durch die spektakuläre Klage gegen Winterkorn – so heißt es inoffiziell in Justizkreisen in Washington – „soll der Druck auf die deutschen Behörden erhöht werden“. Dort wird bei mehreren Staatsanwaltschaften ebenfalls gegen Winterkorn und andere ehemalige VW-Topfunktionäre ermittelt.

    In Braunschweig laufen neben Winterkorn auch gegen den neuen VW-Konzernchef Herbert Diess und Aufsichtsrat Hans Dieter Pötsch Untersuchungen wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. Sie sollen Anleger zu spät über Finanzrisiken informiert haben. Einen Automatismus, dass aus der US-Anklage eine Anklage in Deutschland folgt, gebe es nicht.

    Darauf wies Klaus Ziehe, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, hin. Die Ermittlungen liefen dennoch nicht unabhängig voneinander. So stützten sich die Ermittler in den USA auf Erkenntnisse aus Braunschweig und umgekehrt.

    Winterkorns Anwalt äußerte sich am Freitag nicht zu den Vorwürfen: „Wir prüfen das und werden uns zu gegebener Zeit äußern.“ Volkswagen versicherte, „vollumfänglich mit dem US-Justizministerium in Bezug auf Handlungen von Individuen“ zu kooperieren.

    Bisher 25 Milliarden Euro Schaden für Volkswagen

    Was die Amerikaner, deren Präsident Donald Trump gerade im Zollstreit auch gegen deutsche Autobauer Front macht, dem Vernehmen nach besonders wurmt, ist die „Geheimiskrämerei“ bei Volkswagen. Der Konzern hatte für ­Millionensummen die Kanzlei Jones Day mit internen Ermittlungen im Diesel­skandal beauftragt, die Erkenntnisse aber bisher nicht einmal mit der Staatsanwaltschaft geteilt.

    Vermutet wird dahinter in Washington, dass „die deutsche Seite ein Szenario scheut“, in dem hohe Schadenersatzklagen gegen Winterkorn & Co. sowie gerichtsfeste Aktionärsproteste den bisherigen finanziellen Schaden von über 25 Milliarden Euro für Volkswagen allein in den USA „dramatisch in die Höhe treiben könnten“.