Hamburg. Schüler entscheiden immer später, welchen Beruf sie ergreifen wollen. Hohe Abiturquote macht vielen Firmen zu schaffen.

Jörg Koch hat die Hoffnung schon aufgegeben. In diesem Jahr wird er den Ausbildungsplatz des Rollladen- und Sonnenschutzmechatronikers nicht mehr besetzen. Obwohl er seinen Betrieb Kohlermann & Koch gerne verjüngen und fit für die Übergabe machen möchte. Und der Beruf dieses Spezial-Mechatronikers habe durch den Einzug moderner Technik eigentlich gewonnen, findet Koch. Immer häufiger können Rollläden heutzutage von unterwegs mittels einer App auf dem Smartphone gesteuert werden – oder Markisen rollen sich bei Wind und Regen automatisch zusammen. „Der Beruf ist abwechslungsreich“, sagt Koch. „Man muss kein Top-Schüler sein, aber handwerkliches Geschick haben – und daran fehlt es häufig“, sagt Koch. Sein Lehrling lernt jetzt aus – und einen Nachfolger gibt es nicht.

Dieses Problem haben derzeit viele Betriebe in Hamburg. Über 2000 Lehrstellen für einen Ausbildungsbeginn im August 2017 sind noch unbesetzt, ergab eine Umfrage des Abendblatts bei Handwerks- und Handelskammer. Noch nie zuvor gab es vier Wochen vor Ausbildungsbeginn am 1. August eine so hohe Zahl an unbesetzten Ausbildungsplätzen. Bei der Handwerkskammer sind 935 Lehrstellen und bei der Handelskammer 1153 frei. Alleine in den Berufen mit den meisten freien Lehrstellen (Top Ten) gibt es noch 1230 Ausbildungsplätze. Darunter sind gefragte Berufe wie Fachinformatiker (84 freie Plätze), Kaufmann für Groß- und Außenhandel (76), Elektroniker (109) und Kfz-Mechatroniker (40).

62 Prozent der Schulabgänger haben Abitur gemacht

Doch Schulabgänger informieren sich immer später über Ausbildungsmöglichkeiten. Nach einer Umfrage der Handwerkskammer haben sich 2016 vierzig Prozent erst nach ihrem Schulabschluss um eine Lehrstelle gekümmert. 2013 lag diese Quote noch bei 33 Prozent. „Die Jugendlichen gehen nach dem Motto vor: eins nach dem anderen“, sagt Ute Kretschmann, Sprecherin der Handwerkskammer. Zudem wollen weniger Schüler sofort eine Ausbildung machen, sondern orientieren sich in der zehnten Klasse darauf, den Übergang in die Oberstufe zu schaffen. Ob dies aber tatsächlich funktioniert, erfahren die Schüler erst im Juni und Juli. „Wenn die Zensuren nicht für die Oberstufe reichen, rückt ein Ausbildungsplatz wieder stärker in das Interesse der Jugendlichen“, sagt Kretschmann.

Inzwischen haben 62 Prozent der Schulabgänger in der Hansestadt Abitur. „Damit gerät das System der dualen Berufsausbildung, auf das das Handwerk angewiesen ist, zunehmend unter Druck“, sagt Josef Katzer, Präsident der Handwerkskammer Hamburg. Er drängt daher auf eine verbesserte Berufsorientierung in den Schulen. Die Handwerkskammer will die Schüler nicht vom Abitur abhalten, aber die berufliche Bildung sollte ihrer Meinung nach gleichwertig zur akademischen Bildung vermittelt werden. Das sieht auch die Handelskammer so. „Schüler, Eltern und Lehrer müssen verstehen, dass die duale Berufsausbildung eine echte Alternative zum Studium ist“, sagt Fin Mohaupt.

Firmen unterstützen schwächere Schüler

Viele Lehrstellen bleiben jedes Jahr auch im Sanitärhandwerk unbesetzt. Olaf Rösler, Inhaber der Firma Heinrich Schaefer KG, hat einen Ausbildungsplatz für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik zu vergeben. Er hat es auch schon mit Abiturienten versucht. „Aber da fehlten die praktischen Fertigkeiten“, sagt er. In der praktischen Arbeit bewähren sich Hauptschüler meist besser, „aber die bisherigen zwei Bewerbungen konnten wir nicht berücksichtigen, der Zeugnisschnitt lag bei einer Vier“. Ein wenig Hoffnung hat Rösler noch. Ein Schüler absolviert gerade ein dreiwöchiges Praktikum, erst im Dachdeckerbereich und dann im Sanitärhandwerk. Bei vielen Betrieben ist der oft vorausgesagte Fachkräftemangel längst Realität. Es müssen große Anstrengungen unternommen werden, um auch schwächere Bewerber in eine Ausbildung zu bekommen. Für zahlreiche Betriebe ist die Zeit der freien Auswahl unter den Bewerbern vorbei.

„Viele Firmen sind heute bereit, bei fehlenden schulischen Basiskompetenzen eine Unterstützung während der Ausbildung anzubieten“, sagt Oliver Thieß, Leiter für Bildungspolitik bei der Handwerkskammer. Bewährt habe sich das Praktikum vor der Ausbildung. „Dort können die jungen Menschen ihre Stärken zeigen und fehlende schulische Kenntnisse ausgleichen“, sagt Thieß. Auch von der Arbeitsagentur gibt es eine umfangreiche Unterstützung .

Was der Schüler nicht kennt, lernt er nicht

Ein Großteil von insgesamt mehr als 300 Ausbildungsberufen in Deutschland ist zudem unbekannt – und daher unbeliebt. Diese Erfahrung macht auch Ingelore Wolff, Ausbildungsleiterin bei dem Hamburger Unternehmen Cargill in Rothenburgsort. Die Firma stellt Lecithin aus ölhaltigen Saaten her. Der Stoff wird zum Beispiel als Emulgator in der Lebensmittelherstellung benötigt, etwa um Wasser und Öl bei der Margarineproduktion zu verbinden. Das Unternehmen hat für 2017 noch zwei Ausbildungsplätze als Fachkraft für Lebensmitteltechnik zu vergeben. Sie hofft, die Stellen noch besetzen zu können, weil einige Bewerber weiter in der engeren Auswahl sind.

„Leider kennen die meisten Jugendlichen den Beruf nicht oder haben falsche Vorstellungen“, sagt Wolff. Während der dreijährigen Ausbildung lernen die Azubis bei Cargill die Steuerung verfahrenstechnischer Herstellungsprozesse an modernen Anlagen, mit denen Rohstoffe für die weiterverarbeitende Nahrungsmittelindustrie hergestellt werden. „Der Beruf bietet viele Entwicklungsperspektiven. Man kann sich zum Meister qualifizieren oder Lebensmitteltechnologie studieren“, sagt Wolff. Mit Sicherheit werde man nicht arbeitslos, weil Fachkräfte in der Branche sehr gesucht seien.

Viele kommen erst nach den Ferien

Die Hamburger Unternehmen hoffen, bis in den Herbst hinein noch offene Lehrstellen besetzen zu können. „Vielen Schülern wird erst in den Ferien klar, dass sie eine Perspektive brauchen“, sagt Mohaupt. Bisher hat die Handelskammer 5800 Ausbildungsverträge registriert. Das sind zwei Prozent weniger als vor einem Jahr.