Hamburg. Nach Votum der Briten für den EU-Austritt sind Unternehmen verunsichert. Aber: Die Ansiedlung neuer Firmen könnte einen Schub erhalten.

Die Unsicherheit nach dem Brexit-Votum fünf Wochen nach der Volksabstimmung in Großbritannien über den Austritt aus der Europäischen Union, könnte die Wirtschaft aber mittel- und langfristig belasten, befürchten Ökonomen. Auch in Hamburg berichten Firmen von Verunsicherung, ergab eine Umfrage des Abendblatts. Zugleich liegen im Ausscheiden der Briten aus der EU auch Chancen für die Hansestadt. Großbritannien ist ihr viertwichtigster Handelspartner. Im Jahr 2015 betrug der importierte Warenwert 3,7 Milliarden Euro. Das Volumen der exportierten Waren erreichte 5,5 Milliarden Euro. Damit ging jedes zehnte Produkt, am Wert gemessen, nach Großbritannien. Wenn sich die Lage im Vereinigten Königreich verschlechtert – Ökonomen schätzen die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession auf 60 Prozent – dürfte die Nachfrage nach deutschen Waren sinken.

Wichtiger Partner für die Häfen im Norden

Die Bedeutung von Großbritannien als Handelspartner ist zuletzt noch stark gewachsen. Das Land hatte im Hamburger Hafen 2015 einen Anteil am Gesamtaufkommen von 2,48 Prozent, gemessen in TEU, das war eine Steigerung gegenüber 2014 von 20 Prozent. Nach Angaben des Verbandes der deutschen Automobilindustrie (VDA) ist Großbritannien der wichtigste Exportpartner für deutsche Neuwagen. Diese werden vor allem über die niedersächsischen Häfen umgeschlagen.

Enge Verflechtungen mit Hamburger Firmen

Derzeit pflegen mehr als 1000 Unternehmen in der Hansestadt Geschäftsbeziehungen zum Vereinigten Königreich. 199 Hamburger Betriebe haben dort Filialen. Etliche Unternehmen rechnen nun vor allem mit mehr Handelshemmnissen und Bürokratie.

Mehr Firmen aus Großbritannien mit Sitz in der Hansestadt

Großbritannien ist für Hamburg ein wichtiger Quellmarkt für Investitionen. Die Zahl der neuen britischen Niederlassungen an der Elbe nahm stetig zu: Siedelten sich hier im Jahr 2012 noch 20 Unternehmen von dort an, stieg diese Zahl 2013 auf 33 und 2014 auf 35 Betriebe. Die Zahlen für 2015 liegen noch nicht vor. Da Investitionen vielfach Handels- und Geschäftsbeziehungen folgen, hat Hamburg auch ein starkes Interesse daran, möglichst freie Handelsbeziehungen zu Großbritannien aufrechtzuerhalten.

Positive Brexit-Wirkung: Die Chancen auf Neuansiedlungen steigen

Zugleich ergeben sich durch den Brexit bei den Ansiedlungen auch Chancen für Hamburg: „Für Unternehmen, die in der EU Geschäfte machen wollen, wird es künftig noch wichtiger sein, dort auch den Unternehmenssitz zu haben. Für Europazentralen wird London als Standort an Bedeutung verlieren“, beschreibt ein Sprecher der Hamburgischen Wirtschaftsförderung (HWF) die Perspektiven. Besonders im Digital-/Tech-Bereich ergeben sich Chancen für die Hansestadt. Viele britische Start-ups sehen sich nach neuen Standorten um. Zudem gelte Hamburg für den Bereich Handels- und Schiffsfinanzierung als gute Alternative, heißt es von der HWF.

Neue Ansprechpartnerin für britische Firmen bei der Wirtschaftsförderung

Die Wirtschaftsförderung sieht sich bei dem Thema „Hamburg als Tor nach Großbritannien“ auf einem guten Weg. Am Montag hat eine neue Projekt-Managerin UK/USA ihre Arbeit aufgenommen. Hamburg muss auf sich aufmerksam machen, denn es steht im Wettbewerb mit Berlin als Anziehungspunkt für Firmen im Norden. Berlin verzeichnet bereits ein gesteigertes Interesse von britischen Firmen. Zehn Unternehmen hätten in den vergangenen Wochen angerufen und Fragen zu einem Umzug in die Hauptstadt gestellt, sagte der Sprecher der Fördergesellschaft Berlin Partner. Acht kämen aus der Londoner Finanzbranche.

Der Tourismus in der Hansestadt könnte leiden

Weil ihre Währung an Wert verloren hat, können sich weniger Briten eine Reise nach Deutschland leisten. 2015 wurden laut Statistischem Bundesamt 5,54 Millionen Übernachtungen britischer Touristen in Deutschland regis­triert. „Das bedeutet den vierten Platz im Ranking der Top-Quellmärkte“, sagt die Vorstandsvorsitzende der Deutschen Zentrale für Tourismus, Petra Hedorfer. Die meisten Briten in Deutschland zieht es nach Berlin, beliebt sind aber auch München, Frankfurt – und Hamburg.

117 Flüge von Hamburg nach Großbritannien pro Woche

Großbritannien ist ein wichtiger Markt für den Hamburger Airport. „Aktuell stehen in unserem Flugplan Direktverbindungen zu acht Flughäfen in Großbritannien mit 117 Flügen pro Woche“, sagte Michael Eggenschwiler, Vorsitzender der Geschäftsführung am Hamburg Airport, dem Abendblatt. Ebenso bedeutend sei der Luftverkehr für die Volkswirtschaften von Großbritannien und der EU-Länder. Er schaffe und sichere Wirtschaftskraft, Wertschöpfung und Arbeitsplätze. „Daher gehe ich davon aus, dass bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen mittel- bis langfristig gute Lösungen für den Luftverkehr gefunden werden, wie derzeit zum Beispiel in der Schweiz oder in Norwegen“, ergänzte Eggenschwiler. Die Fluggesellschaften sind mit Prognosen zurückhaltend: So wagt die britische Billigfluglinie Easyjet angesichts wachsender Sicherheitsbedenken und dem Brexit-Votum gar keinen Ausblick für das Jahr. Chefin Carolyn McCall sagte, Easyjet agiere in dem schwierigsten Umfeld, seit sie 2010 die Konzernspitze übernommen habe. Easyjet startet von Hamburg aus zu rund 30 Zielen.

Geringe Risiken für die Industrie

Für den Gabelstapleranbieter Jungheinrich ergeben sich zunächst „keine gravierenden Einschnitte, da wir zum einen Währung für das Jahr 2016 gesichert haben und es zum anderen in Großbritannien keine nennenswerten Produktionsstandorte gibt“, sagte Hans-Georg Frey, Vorstandsvorsitzender der Jungheinrich AG in Hamburg. „Insgesamt schätzen wir das Risiko für uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt als gering ein“, resümierte Frey. Ähnlich wie für Jungheinrich gestaltet sich die neue Situation für die Hamburger Firma Still, die ebenfalls international agierender Logistikanbieter ist. Der Anteil Großbritanniens am Umsatz des Still-Mutterkonzerns Kion ist mit neun Prozent eher gering. „Wir produzieren dort nicht mehr und sind als Importeur zwangsläufig einem natürlichen Währungsrisiko ausgesetzt. Entsprechend sichern wir uns über einen Zeitraum von ungefähr zwölf Monaten gegen Transaktionseffekte ab“, sagte Frank Brandmaier von der Kion Group.

Fragezeichen bei den Anbietern von Konsumgütern

Die Schwankungen in vielen Märkten und der Brexit hätten deutliche Spuren in der gesamten Konsumgüterindustrie hinterlassen, sagte eine Sprecherin des Hamburger Pflegeproduktekonzerns Beiersdorf. „Die mittel- bis langfristigen Auswirkungen des Brexit-Votums auf unser Geschäft sind bislang schwer einzuschätzen. Großbritannien ist und bleibt für Beiersdorf ein wichtiger Markt.“ Ein Sprecher von British American Tobacco in Hamburg sieht die Lage gelassen: „Wir haben immer gesagt, dass wir nicht glauben, dass ein Brexit einen signifikanten Einfluss auf unser Geschäft haben wird.“ Die europäischen Tochtergesellschaften des Zigarettenherstellers mit Hauptsitz in London würden von Fabriken in Kontinentaleuropa beliefert. „Das Vereinigte Königreich macht nur einen kleinen Teil unseres EU-Geschäftes aus.“

Werbehochburg Hamburg abhängig von der Konjunktur

Hamburg gilt als die Werbehauptstadt Deutschlands. Würde sich ein Austritt Großbritanniens aus der EU auch auf die Hamburger Kreativbranche auswirken? „Hamburg ist nicht nur als deutsche Werbehauptstadt, sondern auch als britischste Stadt Deutschlands bekannt. Dennoch hätte der Brexit nur dann negative Auswirkungen, wenn er die deutsche Konjunktur nach unten reißen würde“, sagt Frank-Michael Schmidt, Chef der Scholz & Friends Group in Hamburg. Seit 2011 gehört die Agenturgruppe zur britischen Holding WPP. Schmidt befürchtet jedoch nicht, dass Scholz & Friends deshalb konkrete Auswirkungen im operativen Geschäft spüren wird. „Unser Fokus liegt auf deutschen Kunden, die wir in Deutschland und von Hamburg aus weltweit betreuen.“ Durch den Brexit werde die relative Rolle Deutschlands in Europa stärker.