Hamburg. Schock bei der Auszahlung der Lebensversicherung: Fast 18 Prozent werden für Krankenkassen und Pflegeversicherung fällig.
Als der Ahrensburger Rentner Reinhard Günther beschloss, seine Krankenkasse zu verklagen, war er endgültig im Dschungel des Versicherungsrechts angekommen. Der 68-Jährige, vormals Wirtschafts-Ingenieur, kann mittlerweile mit Paragrafen jonglieren wie ein Jurist. Und sein Urteil über einen gut versteckten Trick bei der privaten Altersvorsorge in Deutschland ist vernichtend: „Wir werden für dumm verkauft und abgezockt.“
Damit meint Reinhard Günther nicht die Versicherungskonzerne oder die Anbieter von Riester-Verträgen, die möglicherweise nicht das halten, was sie versprechen. Es geht um eine Regelung in einer Gesundheitsreform von 2004, die Hunderttausende, wenn nicht Millionen Bürger um enorm viel Geld bringt. In Ulla Schmidts „Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“ (GMG) schlummert ein brisanter Passus. Dort steht, dass auf Lebensversicherungen mit Betriebsrenten-Charakter bei der Auszahlung auch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt werden müssen – und zwar sowohl der Arbeitnehmer- wie der Arbeitgeberanteil. Das gilt auch für Verträge, die vor 2004 abgeschlossen wurden.
Bei Vertragsabschluss waren die Sozialabgaben nicht klar
So kommt es, dass jetzt Neu-Rentner aus allen Wolken fallen, die brav in die gesetzliche Rente und noch in eine verlockende Direktversicherung eingezahlt haben. Wer sich beispielsweise auf 100.000 Euro Einmalzahlung einstellt, kann 17.850 Euro davon gleich als Zahlung an seine gesetzliche Krankenkasse (15,5 Prozent Krankenversicherung, 2,35 Prozent Pflegeversicherung) verbuchen. Das war bei Vertragsabschluss nicht klar und durfte doch entgegen dem „Vertrauensschutz“ politisch durchgesetzt werden. So zumindest hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden. Das GMG sollte dafür sorgen, dass auch Betriebsrentner einen weiteren Anteil an den hohen Kosten der Krankenkassen zahlen. Karlsruhe meinte, dass man den Rentnern mit Zusatzvorsorge durchaus zumuten könne, für die klammen Kassen auch mit Altverträgen zu zahlen.
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Doch Rentner Günther und seine über 700 Mitstreiter bei den „GMG-Geschädigten“ wie Herbert Heins aus Hollenstedt oder Donald Fazendin aus Elmshorn argumentieren mit dem Buchstaben ihrer Versicherungsverträge: „Unsere Kapitalzahlungen sind keine Versorgungsbezüge wie gewöhnliche Betriebsrenten, der Arbeitgeber hat nichts dazu gezahlt, und die Krankenkassen haben kein Recht auf Beiträge darauf.“ Acht Millionen Verträge soll es geben.
Wann ist die Betriebsrente beitragspflichtig?
So steht in Günthers Lebensversicherungsvertrag mit der Allianz von 1993, er erhalte bei Ablauf eine Kapitalzahlung. Im Laufe der Jahre stand aber plötzlich in seinen Informationen zur Überschussbeteiligung etwas von „Versorgungsbezügen“. Der Unterschied in Günthers Fall: Bei „Versorgung“, also wie bei einer Rente, müsste er Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Günthers Arbeitgeber war als Versicherungsnehmer eingetragen, obwohl nur Günther einzahlte.
Kaum sollte Günther das Geld ausbezahlt werden, meldete sich seine Krankenkasse und forderte Beiträge. „Plötzlich war ich mutiert“, sagt Günther, „vom privaten Versicherungsnehmer zum Bezieher einer Versorgung.“ Doch „Versorgung“ und damit eine beitragspflichtige Betriebsrente ist eine Versicherung erst, wenn sie unmittelbar mit dem Abschluss des Arbeitsverhältnisses in Zusammenhang steht. Günthers Vertrag war freiwillig, zusätzlich, vererbbar und deutlich nach seinem Jobantritt abgeschlossen worden. Außerdem: Eine eigentliche Betriebsrente hatte er bereits abgeschlossen. In einem weiteren Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BvR 1660/08) klar geregelt: Hat die Direktversicherung nichts mit dem Arbeitgeber und dem Sinn der Betriebsrente zu tun, fallen keine Beiträge an.
Klage gegen die Techniker Krankenkasse
Genauso klagt auch Herbert Heins gegen seine Krankenkasse. Er spricht sogar von „arglistiger Täuschung“ und führt ein Urteil des Dortmunder Sozialgerichtes an. Dort bekam eine Klägerin recht, weil die Techniker Krankenkasse unterstellt hatte, es läge eine Betriebsrente vor, obwohl sie das nicht ausreichend geprüft hatte. Das Gericht (Az. S 39 KR 1585/17) entschied: Einstweilen gibt es keine Rechtsgrundlage, hier Beiträge zu erheben.
Rentner Fazendin klagt sogar gegen seinen Versicherer, weil der an seine Krankenkasse gemeldet hatte, dass es in dem Vertrag um Altersvorsorge gehe und nicht um eine Einmalzahlung. „Der Plan fürs Alter wird einem zunichte gemacht“, schimpft Fazendin. „Und man erfährt erst davon, wenn das Geld ausbezahlt wird!“
Copy and paste: Politiker reagieren mit Textbausteinen
Er hat mit anderen Betroffenen eine Demonstration in Berlin organisiert, hat sich bei Politikern aller Parteien beschwert. „Als Antwort kommen immer dieselben Phrasen, ob CDU, SPD oder Grüne, die verstehen nicht, worum es geht und antworten mit Textbausteinen, die per Copy-and-paste eingefügt sind.“ Damit wollen sich die aufgeklärten und aufgebrachten Rentner nicht zufrieden geben. Sie haben eine Bundestags-Petition gestartet, eine Facebook-Gruppe und eben den Verein mit über 700 Mitgliedern. Der Sozialverband VdK hat sogar eine Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Die Betroffenen sprechen von „Lügen“ der Politik
Rentenexperten bestätigen, dass in das Ulla-Schmidt-Gesetz in einer „Nacht- und Nebelaktion“ der Passus hineingeschrieben wurde. Zur Begründung hieß es: Bis 1973 hätten die Beitragszahlungen der Rentner zu 70 Prozent deren Leistungsaufwendungen gedeckt. 2004 seien es nur noch 43 Prozent. Heißt: Die Rentner müssen stärker für ihre Gesundheit zur Kasse gebeten werden. Diese Formulierung findet sich auch in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
Nur: 1973 haben die Rentner gar keine Beiträge zur Krankenversicherung gezahlt. Das wurde erst 1983 eingeführt. Die GMG-Betroffenen sind erbost wegen dieser Irreführung. Sie sprechen von „Lügen“ der Politik. Experten erklärten dem Abendblatt jedoch, dass diese „unglücklichen Formulierungen“ die Beiträge meinen, die verschiedene Rentenkassen für die Rentner damals geleistet haben.
Privat Krankenversicherte müssen nicht zahlen
Privat Krankenversicherte sind von doppelten Extra-Beiträgen ausgenommen. Unter den Betroffenen kursieren Tipps für den Umgang mit Versicherern und Krankenkassen. Offenbar handeln die Versicherungskonzerne unterschiedlich. Rentner Günther ruft die Betroffenen zu Verweigerung auf: Weil die Verzinsung der Lebensversicherungen niedrig sei und man am Ende noch auf 17,85 Prozent verzichten müsse, „sollte jeder Versicherte für sich überlegen, ob er nicht umgehend die Direktversicherung zumindest verlustbegrenzend beitragsfrei stellen sollte“.
Die Rente im Überblick
Die Rente basiert auf drei sogenannten Säulen: gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge. Wegen des schrumpfenden gesetzlichen Rentenniveaus raten Experten zu privater und/oder betrieblicher Vorsorge. Die Politik hat dafür Fördermöglichkeiten geschaffen, unter anderem die Riester-Rente und die sogenannte Entgeltumwandlung, wenn also Teile des Lohns direkt in eine Altersvorsorge fließen. Hier gibt es unterschiedliche Modelle, an denen auch die Arbeitgeber beteiligt sein können. So kann man auch Lohnsteuer sparen. Betriebsrenten, die nach 2004 abgeschlossen wurden, werden nachgelagert besteuert, also erst, wenn sie ausgezahlt werden. Das kann günstiger sein, wenn man als Rentner einen günstigeren Steuersatz hat.
Direktversicherung und Sozialbeiträge
Für Renten und Einmalzahlungen aus Betriebsrenten sind volle Kranken- (15,5 Prozent) und Pflegeversicherungsbeiträge (2,35 Prozent) zu zahlen. Wird das Geld auf einen Schlag ausgezahlt, wird die Summe auf zehn Jahre à zwölf Monate gestreckt. Als monatlicher Betrag wird also ein Hundertzwanzigstel angenommen.
Keine Beiträge werden fällig, wenn die Rente unter 141,75 Euro im Monat liegt oder unter 17.010 Euro als Einmalzahlung.
Wer eine über den Arbeitgeber abgeschlossene Direktversicherung privat weiterführt, zahlt nur anteilig die Krankenversicherungsbeiträge. Die GMG-Geschädigten raten deshalb, eine Versicherung sofort auf den Arbeitnehmer umzuschreiben.