Hamburg. Alfred Hartmann, Präsident des Reederverbandes, spricht über dramatische Situationen im Mittelmeer und die Lage seiner Branche.

Seit Januar hat der Verband Deutscher Reeder (VDR) einen neuen Präsidenten. Alfred Hartmann, 67, ist Schifffahrtskaufmann und Kapitän. Er betreibt eine Reederei-Gruppe in Leer in Ostfriesland. Derzeit ist er oft in Berlin, um in Gesprächen mit dem Bund im Vorfeld der Nationalen Maritimen Konferenz im Oktober Probleme seiner Branche zu erörtern. Im Abendblatt- Interview erläutert Hartmann, was die Reeder vom Bund erwarten und berichtet eindrucksvoll von der Flüchtlingsproblematik.

Hamburger Abendblatt: Herr Hartmann, ein großes Problem im Mittelmeer sind derzeit die Flüchtlingsströme. Treffen auch Schiffe Ihrer Mitgliedsunternehmen auf Boote, die im Mittelmeer treiben?

Deutsche Soldaten retten Menschen in Seenot

Soldaten der Fregatte
Soldaten der Fregatte "Schleswig-Holstein" retten 90 Menschen, davon 84 Männer, 4 Frauen und 2 Kinder © Bundeswehr
Die  aus einem Schlauchboot Geretteten werden auf das luxemburgische Schiff
Die aus einem Schlauchboot Geretteten werden auf das luxemburgische Schiff "Bourbon Argos" © Bundeswehr
Die
Die "Bourbon Argos" nimmt die Geretteten auf © Bundeswehr
Deutsche Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer
Deutsche Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer © Bundeswehr
Deutsche Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer
Deutsche Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer © Bundeswehr
Die Flüchtinge sitzen mit Schwimmwesten in einem sicheren Boot
Die Flüchtinge sitzen mit Schwimmwesten in einem sicheren Boot © Bundeswehr
Die Besatzung der Fregatte Schleswig-Holstein nähert sich  74 Kilometer nordwestlich von Tripolis einem Holzboot
Die Besatzung der Fregatte Schleswig-Holstein nähert sich 74 Kilometer nordwestlich von Tripolis einem Holzboot © Bundeswehr
An Bord sind 471 Menschen. Davon sind 362 Männer, 88 Frauen und 21 Kinder
An Bord sind 471 Menschen. Davon sind 362 Männer, 88 Frauen und 21 Kinder © Bundeswehr
Deutsche Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer
Deutsche Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer © Bundeswehr
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Alfred Hartmann: Die Zahl der Flüchtlingsboote ist stark gestiegen. Im Grunde sind alle Schiffe, die in diesem Gebiet fahren, betroffen. Seit Jahresbeginn haben allein deutsche Schiffe mehr als 2300 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Eine Reederei, die mit zwei Schiffen vor Libyen Offshore-Plattformen versorgt, wurde sogar 14 Mal zu Rettungseinsätzen gerufen. Schiffe meiner eigenen Reederei zweimal. Zuletzt hat ein Schiff von uns Mitte April 88 Flüchtlinge gerettet. Das sind für die Besatzungen enorme Belastungen.

Inwiefern?

Hartmann: Man kann sich kaum ausmalen, wie bedrückend und herausfordernd diese Situationen sind. Es kommen keine normalen Passagiere an Bord, sondern auf den überfüllten Schlauchbooten befinden sich völlig erschöpfte und traumatisierte Menschen. Wenn ein überladenes Boot mit Hunderten Flüchtlingen kentert, können trotz des Einsatzes der Besatzung nicht alle Menschen gerettet werden – und ertrinken vor den Augen der Seeleute. Oder sie sterben an Bord an Unterkühlung. Viele sind krank, verletzt oder haben einen Schock. Seeleute sind keine Ärzte und können nicht angemessen helfen. Oftmals sind diese Menschen traumatisiert, weil sie auf der Flucht schon Verwandte verloren und Misshandlungen erfahren haben. Ein Kapitän berichtete mir, er hatte zwei schwangere Frauen an Bord, und er hatte die Sorge, dass diese Frauen dort niederkommen könnten. Das alles ist doch für die Besatzungen psychisch ungeheuer belastend.

Und wenn der Kapitän auf der Brücke einfach wegschaut und an den treibenden Flüchtlingen vorbeifährt?

Hartmann: Dann wird er hart bestraft. Menschen in Seenot muss geholfen werden, und wenn man ein treibendes Boot findet, dann ist das ein Seenotfall. Das Mittelmeer ist eng überwacht und die Handelsschiffe senden permanent Position und Kurs – keiner kann sich seiner Verantwortung entziehen. Die Seenotleitstelle in Rom koordiniert die Rettungseinsätze und kann Schiffe direkt auffordern, zu bestimmten Koordinaten zu fahren, um Flüchtlingen in Gefahr zu helfen.

Wie kann man das Problem lösen? Härter gegen die Schlepperbanden vorgehen?

Hartmann: Das ist Aufgabe der Politik. Für die Schifffahrt ist entscheidend, dass die hoheitliche Seenotrettung ausgeweitet wird. Das heißt mehr Schiffe, die auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereitet sind, mit Verpflegung, Ärzten und vorbereitetem Personal. Und das überwachte Gebiet muss dicht an die libyschen Gewässer heranreichen. Seitdem unter anderem die deutsche Marine dort im Einsatz ist, mussten Handelsschiffe nur noch selten unterstützen. Dafür sind wir sehr dankbar.

In der allgemeinen Vorstellung verdienen Reeder sehr viel Geld und flüchten unter irgendwelche Billigflaggen, um am Ende noch mehr Geld zu verdienen. Was sagen Sie dazu?

Hartmann: Ich kann mir kaum vorstellen, dass es noch Reeder gibt, die wirklich viel Geld in der Tasche haben. Man denkt immer, den Reedern gehören die Schiffe, die bis zu 200 Millionen Euro kosten. Das ist falsch. Die Schiffe sind fremdfinanziert. Außerdem sind die Einnahmen bei vielen Reedern seit Jahren so niedrig, dass Betriebskosten und Kapitaldienst kaum geleistet werden können. Wenn also ein Reeder die deutsche Flagge verlässt, dann nicht um sich die Taschen vollzumachen, sondern um die Existenz des Unternehmens zu sichern. Bei der Qualität, zum Beispiel den Umwelt- und Sicherheitsstandards, sind andere Flaggen mit der deutschen im Übrigen auf Augenhöhe.

Aber Sie können doch schon 40 Prozent der Lohnsteuer für die Besatzung auf Schiffen unter deutscher Flagge einbehalten. Reicht das nicht?

Hartmann: Unser Ziel ist es, die deutsche Flagge wieder attraktiv zu machen. Derzeit ist es aber so, dass wir im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn erhebliche Nachteile haben durch die Sozialabgaben und die hohen Lohnnebenkosten. Den von der EU vorgesehenen Beihilferahmen nutzt Deutschland im Gegensatz zu den anderen Staaten der EU nicht voll aus. Deshalb brauchen wir auch den vollständigen Lohnsteuereinbehalt für die Besatzung auf Schiffen unter deutscher Flagge und eine Entlastung beim Arbeitgeberanteil für die Sozialversicherung.

Der Hamburger Senat will nun einen befristeten Lohnsteuereinbehalt von 100 Prozent erreichen . Was heißt befristet?

Hartmann: Das frage ich mich auch. Eine befristete Regelung ist wenig hilfreich. Wir brauchen einen verlässlichen Rahmen, der den Reedereien Planungssicherheit für einen längeren Zeitraum gibt, damit wieder mehr deutsche Seeleute eingestellt werden können.

Sie kennen die maritime Wirtschaft gut. Was sind die größten Probleme?

Hartmann: Wenn wir es von der Seite der Schiffseigner betrachten, dann ist sicherlich die Finanzierung der Schiffe das größte Problem. Nicht so sehr bei Neubauten, sondern insbesondere in der Bestandsflotte. Das hat auch damit zu tun, dass die Banken aufgrund ihrer inzwischen engen Regularien nicht mehr flexibel auf Engpässe bei Zins- und Tilgungsraten reagieren können. Dabei ist die Marktentwicklung sehr unterschiedlich. Teilweise erholt sich der Markt trotz Krise sogar.

Wo das denn?

Hartmann: In der Containerschifffahrt sind die Charterraten im Vergleich zum Vorjahr wieder gestiegen, vor allem bei kleineren Schiffen. Schwierig ist die Situation in der Massengutfahrt.

Massengutfrachter waren doch am Anfang von der Krise kaum berührt.

Hartmann: Ja, genau. Diese hatten nach Ausbruch der Krise immer noch gute Einnahmen. Und da angesichts der historisch niedrigen Zinsen viel Kapital nach guten Anlagemöglichkeiten suchte, sind viele neue Massengutfrachter bestellt wurden. Insbesondere in den mittleren Größen standen zwischenzeitlich 800 neue Schiffe in den Orderbüchern der Werften. Ein Großteil kam dann in einen Markt, der ohnehin schon übersättigt war. Der Massengutmarkt fährt jetzt in schwerem Wetter.

Wird Deutschland seine Bedeutung als Schifffahrtsstandort verlieren?

Hartmann: Wir sind ja schon von Platz drei auf vier der größten Handelsflotten gerutscht. Andere Nationen überholen uns. Ich glaube aber schon, dass die deutschen Reeder so viel Innovationskraft und Kapitalzugang haben, um die Flotte zu erneuern und wieder aufzubauen. Es stehen wieder deutsche Schiffe in den Auftragsbüchern der Werften. Aber die Eigentümerstruktur ändert sich. Da muss man aufpassen.

Inwiefern?

Hartmann: Die kleinen und mittelständischen Betriebe werden es schwer haben zu überleben, was ich bedauerlich finde, weil dabei eine Menge Erfahrung verloren gehen könnte. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass die großen Reedereien ihre Schiffe wirtschaftlicher betreiben als die kleinen. Im Gegenteil, die kleinen sind viel näher an ihren Schiffen und Besatzungen dran. Wir müssen also Wege finden, dass auch kleine Reedereien überleben können.

Und wie?

Hartmann: In Kooperationen, wie wir sie von den großen Container-Linienreedereien kennen. Im Ansatz erleben wir das schon bei der gemeinsamen Befrachtung oder in Einkaufsgemeinschaften für Ersatzteile und Schmieröl.

Außer Dienst gestellte Schiffe werden unter unmenschlichen Bedingungen an den Stränden irgendwelcher Drittstaaten abgewrackt. Sollten die Reeder nicht eine Initiative starten, damit sich das ändert?

Hartmann: Dafür setzen wir uns ein. Es gibt seit dem Jahr 2009 die sogenannte Hongkong-Konvention. Die verlangt bessere Arbeits- und Umweltschutzbedingungen sowie ein unabhängiges Zertifikat für die Abwrackbetriebe, die sich an diese Standards halten. Diese Konvention muss von insgesamt 15 Staaten, sowie von wichtigen Abwrackstaaten wie Indien und China ratifiziert werden. Deutschland hat noch nicht unterschrieben. Wir Reeder erhöhen jetzt den Druck in Berlin.