Siemens hat in Rostock-Warnemünde das bislang leistungsstärkste Umspannwerk für Offshore-Windparks fertigstellen lassen. Es kann mehr Strom liefern als einst der Reaktor in Brunsbüttel.
Rostock-Warnemünde. Ein komplettes Kraftwerk auf dem Meer, massiv, kompakt, aus leuchtend gelb lackiertem Stahl. Auf der Werft von Nordic Yards in Rostock-Warnemünde ragt der Aufbau der Plattform SylWin alpha weithin sichtbar über das Gelände. Es ist das bislang größte und stärkste Umspannwerk für Offshore-Windparks, das Siemens hat bauen lassen. Bei voller Auslastung schickt SylWin alpha Strom mit einer Nennleistung von 864 Megawatt vom Meer an Land – das ist mehr, als das 2007 abgeschaltete Atomkraftwerk Brunsbüttel an der Unterelbe einst leistete und reicht rein rechnerisch aus, um 900.000 Haushalte mit Strom zu versorgen.
Tim Dawidowsky geht mit einer Gruppe von Ingenieuren, Technikern, Werftarbeitern über Treppen und weit verzweigte Gänge, durch hallenhohe Räume voller mysteriös wirkender Hochspannungselektronik auf das Oberdeck der Anlage. Von dort aus blickt man über den Hafen von Warnemünde auf die Ostsee. In wenigen Wochen wird SylWin alpha ausgedockt und um das norddänische Skagen herum an den Zielpunkt auf die Nordsee westlich von Sylt geschleppt. Dort verbindet die Anlage künftig bis zu drei Offshore-Windparks mit dem Landnetz.
„Wir haben bewiesen, dass wir eine derart komplexe Technologie beherrschen. Aber wir haben auch Lehrgeld gezahlt“, sagt Dawidowsky, 47, Chef der Sparte Stromübertragung beim größten deutschen Elektronikkonzern. „Heute wissen wir, dass eine solche Anlage in einem Zeitraum von 33 Monaten nicht fertigzustellen ist, wie wir es für unsere ersten Aufträge in diesem Marktsegment vereinbart hatten. Bei den künftigen Gleichstrom-Umspannwerken für Offshore-Windparks wird die Auftragszeit fünf Jahre umfassen.“ Verzögerungen von teils mehr als einem Jahr bei der Inbetriebnahme, aber auch Mehrkosten von insgesamt rund 800 Millionen Euro für seine vier ersten Gleichstrom-Plattformen sind das, was Dawidowsky als „Lehrgeld“ für den Konzern bezeichnet. Dagegen steht auf der Habenseite der Sprung in ein neues Energiezeitalter und speziell für Nordic Yards eine Reihe von Aufträgen und Top-Referenzen, die der Doppelwerft in Wismar und Rostock-Warnemünde mit ihren derzeit 1300 Mitarbeitern in den vergangenen vier Jahren vermutlich das Überleben sicherten.
Mit Plattformen wie SylWin alpha für den Netzbetreiber TenneT hat Siemens Industriegeschichte geschrieben. Die Anbindung von Offshore-Windparks an das Landnetz ist hoch kompliziert. Noch weitaus schwieriger wird es, wenn sich die Windturbinen besonders weit vor den Küsten drehen, so wie etwa im deutschen Teil der Nordsee. Entfernungen von mehr 60, 80 Kilometer zwischen Windpark und Küste lassen sich technologisch und wirtschaftlich nur dann sinnvoll überbrücken, wenn die Energie in Form von Gleichstrom transportiert wird. Liefe Wechselstrom durch das Seekabel, ginge zu viel Leistung verloren. So muss die Stromausbeute aus jeweils mehr als 150 großen Windturbinen auf See gebündelt, umgewandelt und auf 320.000 Volt heraufgespannt werden. An Land oder von Land zu Land – auch durch das Meer – ist die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) längst etabliert. Für die Verbindung von Offshore-Parks mit dem Landnetz aber zählt Marktführer Siemens neben seinen Konkurrenten ABB und Alstom zu den Pionieren.
Vier HGÜ-Plattformen ließ Siemens bislang bauen. SylWin alpha ist die größte und stärkste von ihnen. Die 15.000 Tonnen schwere Installation, deren Grundabmessungen 83 mal 56 Meter sowie 26 Meter Höhe umfassen, wurde direkt auf ihre eigene Transportbarge aufgebaut. In dieser Verbindung geht es im Sommer auf die mehrtägige Reise Richtung Sylt. Dort wird SylWin alpha auf das bereits montierte, 10.000 Tonnen schwere Fundament abgesenkt und betriebsbereit gemacht. 2015 fließt der erste Strom etwa aus dem Vattenfall-Offshore-Windpark Dan Tysk vor Sylt an Land. „Jede unserer bisherigen HGÜ-Plattformen ist eine Einzelanfertigung, mit verschiedenen Spannungsebenen, Spezifikationen, Konstruktionsmerkmalen“, sagt Dawidowsky. „Wenn Strom aus Offshore-Windparks in den kommenden Jahren und Jahrzehnten deutlich billiger erzeugt werden soll, müssen wir auch bei den Landanbindungen ansetzen und Plattformen viel stärker standardisieren.“
Speziell in Europa gibt es einen großen Markt für die Offshore-Windkraft, für die Windturbinen auf See und ihre Fundamente, für Seekabel und die nötigen Plattformen für die Landanbindungen. Mehrere Dutzend der besonders großen und teuren Gleichstrom-Plattformen werden in den kommenden Jahrzehnten gebraucht, und vermutlich eine noch größere Zahl von Wechselstrom-Anlagen auf See, die in Offshore-Parks näher an der Küste zum Einsatz kommen, etwa im deutschen Teil der Ostsee. „Wir arbeiten an dem Ziel, die Erzeugungskosten für Strom aus Offshore-Windparks bis zum Jahr 2020 um 30 bis 40 Prozent auf gut zehn Cent je Kilowattstunde zu senken“, sagt Michael Hannibal, Europachef der Offshore-Windkraftsparte bei Siemens. „Dafür müssen alle technischen Bestandteile, von der Windturbine und deren Fundament bis zur Landstation, künftig günstiger und rationeller gefertigt und installiert werden.“ Auch im Geschäft mit Offshore-Windturbinen, das Siemens weltweit von Hamburg aus koordiniert, ist der Konzern nach eigenen Anlagen mit bislang gut 1250 auf See installierten Anlagen Marktführer.
Rund eine Milliarde Euro kostet allein eine Gleichstrom-Plattform für den Einsatz auf See mit ihrer dazu gehörenden Station an Land. Hinzu kommen Kosten für das Seekabel von mehreren Hundert Millionen Euro. Landanschlüsse für die Offshore-Windkraft zählen zu den komplexesten Aufgaben, die es im Anlagenbau gibt. Doch ausgerechnet die Offshore-Branche in Norddeutschland, die technologisch weltweit zu den Vorreitern zählt, könnte durch die Fortschritte der kommenden Jahre ins Hintertreffen geraten. Siemens etwa richtet sein Geschäft mit Offshore-Landanschlüssen nun völlig neu aus. Die Aufträge für die kommenden Jahre akquiriert der Konzern in einem neuen Konsortium gemeinsam mit dem britischen Unternehmen Petrofac, einem Spezialisten mit mehreren Jahrzehnten Erfahrung beim Bau von Offshore-Anlagen für die Öl- und Gaswirtschaft. Petrofac werde für die nächsten Plattform-Aufträge weltweit die jeweils geeigneten Bauwerften suchen, sagt Dawidowsky: „Es geht bei der Vergabe solcher Großaufträge nicht nur um den Preis, sondern auch um die Erfahrung und um den finanziellen Hintergrund der ausführenden Werft.“
Für Nordic Yards, das wichtigste Industrieunternehmen in Mecklenburg-Vorpommern, sind das schlechte Nachrichten. Die Doppelwerft hat den Stahlbau für die bislang komplexesten Anlagen der Offshore-Windkraft-Branche weltweit erstellt. Einen neuen Plattform-Auftrag bekam Nordic Yards jüngst von Alstom. Doch das mittelständische Unternehmen besitzt nicht annähernd die Kapitalkraft, die Werftkonzerne etwa in Asien aufweisen. „Aufträge wie solche Plattform-Großprojekte müssten von der bundeseigenen KfW-Bank finanziell abgesichert werden“, sagt Marketing-Manager Andreas Amelang von Nordic Yards. „Doch die KfW sieht sich mit ihren Kreditprogrammen nicht zuständig. Und das Land Mecklenburg-Vorpommern will solche Bürgschaften ebenfalls nicht schultern.“
Bei der Siemens-Netzsparte in Hamburg werden bereits Arbeitsplätze reduziert. In der Spitze arbeiteten in der Hansestadt bis zu 350 feste und freie Mitarbeiter an Entwürfen und der Bauüberwachung für die ersten HGÜ-Plattformen des Konzerns. Derzeit sind es noch rund 300, je zur Hälfte Zeitarbeiter und fest angestellte Siemensianer, die gemeinsam mit rund 600 Ingenieuren bei Siemens in Erlangen die Abwicklung der ersten HGÜ-Projekte betreiben. Da Petrofac künftig als Generalunternehmer für den Bau der Plattformen fungiere, werde man die Präsenz am Standort Hamburg schrittweise auf die „Kernmannschaft“ von 150 eigenen Mitarbeitern reduzieren, sagt Dawidowsky: „Wir konzentrieren uns in den kommenden Jahren ganz auf die Starkstromelektronik in den Offshore-Umspannwerken. Es war von Anfang an klar, dass wir nach der Pionierphase nicht mehr zugleich an vier solch komplexen Projekten arbeiten würden.“