Morgens Magenverkleinerung, mittags Schleudersitz, abends Geburtstagsparty: Einen Tag lang begleitete das Abendblatt Wirtschaftssenator Frank Horch. Eine Annäherung an den Politiker und Menschen.
Seine Armbanduhr trägt Frank Horch immer, sogar beim Segeln. Er hat sie vor Jahren zum Geburtstag von seinen Kindern geschenkt bekommen, kaum abgelegt. Wenn die Uhr kaputt ist, lässt er sich eine neue schenken. Immer die gleiche, das gleiche Modell. Für 155 Euro. Inzwischen hat er schon die vierte davon. Trotzdem schaut er selten auf die Uhr, auf die Zeit. Weil er keinen Zeitdruck mag. Weil er sich von der Zeit nicht stressen lassen will. Auch nicht in seinem Job als Wirtschaftssenator. Oder gerade dort nicht. „Je weniger Zeit man hat, um so besser muss man damit umgehen“, sagt Frank Horch, 66, und meint: die Zeit nutzen, sie planen. Auch wenn er selbst kaum Einfluss auf die Planung seines Tagesablaufs hat. Das machen andere für ihn. Sie organisieren Firmenbesuche und offizielle Auftritte, koordinieren seine Termine. Sie legen fest, wann er wo sein muss und wie lange er bleiben kann. Sie planen die Zeit.
Susanne Meinecke hat keine Armbanduhr. Aber ein Mobiltelefon. Von Zeit zu Zeit schaut sie auf das Display. Es ist 7.45 Uhr und Susanne Meinecke wartet in der HafenCity auf ihren Chef. Sie ist die Sprecherin von Frank Horch und begleitet ihn zu offiziellen Terminen. Der Wagen mit dem Fahrer ist schon da. Für heute stehen vier Firmenbesuche an, gemeinsam mit Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Reinhard Meyer. Außerdem zwei Gespräche mit Bürgermeister Olaf Scholz und dem Vorstandsvorsitzenden der Hamburger Hochbahn, Günter Elste. Der Tagesablauf steht in der weißen Mappe, die Susanne Meinecke für Frank Horch vorbereitet hat. Der Zeitplan ist eng, der Senator überpünktlich. Er muss vor der Abfahrt noch etwas erledigen, sagt er und geht in einen Kiosk in der Nachbarschaft. Er holt hier morgens seinen Kaffee. Schwarz mit Milch. Für 60 Cent, wenn man vor acht Uhr kommt. Doch Frank Horch will heute nichts bestellen. Der Besitzer des Kiosks ist gestorben, ganz plötzlich, mit 40 Jahren. Horch möchte den Angehörigen sein Beileid aussprechen. So viel Zeit muss sein.
Es ist kurz nach acht Uhr, als die schwarze Limousine in der HafenCity losfährt. Erstes Ziel an diesem Tag ist Johnson & Johnson in Norderstedt. Rund 45 Minuten hat der Fahrer für die Strecke eingeplant. Rund 45 Minuten hat Frank Horch Zeit, um wichtige Telefonate zu erledigen, Anliegen abzuarbeiten. Um sich mit Susanne Meinecke abzusprechen, die Zeitung zu überfliegen und sich in das Thema detaillierter einzuarbeiten. Den Ablauf zu verinnerlichen und die Namen seiner Gesprächspartner. Alles zu seiner Zeit. „Es ist nicht der Zeitdruck, der mich stresst. Sondern eine schlechte Vorbereitung“, sagt Frank Horch. Deswegen nimmt er die Arbeit abends mit nach Hause, liest sich dort in die Themen des nächsten Tages ein. Anders geht es nicht.
Wenn Zeit tatsächlich Geld wäre, so wie von Benjamin Franklin einst geschrieben, dann müsste Frank Horch ein armer Mann sein. Obwohl er sich selbst nie so bezeichnen würde. Höchstens als „ein bisschen einsam“, wie er sagt. Weil er so wenig Zeit für seine Hobbys hat. Für seine Freunde. Seine Familie. Seine Frau, die Kinder. Enkelkinder. Mit Mitte 20 ist er mit Margret zusammengezogen – zuerst ohne Trauschein, dafür aber mit ihren zwei Kindern aus einer früheren Beziehung. „War ein Skandal, damals“, sagt Horch und lacht. „Unser Nachbar hat immer dieses eine Lied gespielt, wenn er uns gesehen hat.“ Er hält inne. Überlegt. Wie hieß es doch gleich? „Das ehrenwerte Haus?“, fragt Horchs Fahrer und summt die Melodie. Ja, genau, das sei es gewesen, sagt Horch. Ein paar Jahre später haben sie geheiratet und „Ja“ gesagt. „Und wenn ich „Ja“ gesagt habe, dann bedeutet das für mich ein höchstes Maß an Verantwortung“, sagt Horch mit Nachdruck. Dann müsse man dazu stehen. Im Job und in der Ehe. In guten und in schlechten Tagen. Bei jedem anderen würde das abgedroschen klingen. Nicht bei Frank Horch. Bei dem Mann, dessen Frau schwer krank war. Im Koma lag. Doch er winkt ab, will nicht zu persönlich werden. Das ist Vergangenheit. Das ist vergangene Zeit.
Es ist 8.49 Uhr, als der Wagen des Senators die Grenze zwischen Hamburg und Norderstedt überquert und kurz darauf an der Zieladresse hält. Johnson & Johnson Medical in Norderstedt. Hier werden keine Cremes hergestellt, sondern Medizinprodukte. Chirurgische Nahtmaterialien zum Beispiel. Die Zeit läuft. Begrüßung, Hände schütteln, Vorstellung. Small Talk, Rundgang, Gespräche im Gehen. Besichtigung der Schulungsräume und der Operationssäle, in denen Ärzte aus aller Welt minimal-invasive Verfahren üben können. Horch hört zu, fragt nach, greift selbst zum Endoskop. Führt eine Magenverkleinerung durch. An einem Schaumstoffmodell. Zum Glück. Die richtigen Ärzte üben an Organen und Organsystemen von Tieren. Es geht weiter, die Uhr tickt. Vortrag im Konferenzraum. Kaffee, Kekse. Draußen auf dem Parkplatz läuft Horchs Fahrer auf und ab. Drinnen wird besprochen, wie Unternehmen aus der Branche Medizintechnik, Biotechnologie und Pharma im Rahmen eines „Clusters Life Science Nord“ noch besser zusammenarbeiten können. Das Problem: Die Unternehmen haben dafür oft zu wenig Zeit. Stichwort Zeit. „Hat eigentlich jemand die Zeit im Auge“, fragt Horch und blickt auf die Uhr. Die Zeit ist um.
Fahrt nach Rellingen, zu Autoflug. Lieferant für die internationale Luftfahrtindustrie und Wehrtechnik. Nächster Termin, neues Thema. Neue Bereiche. Neue Herausforderungen. Darauf muss er sich vorbereiten, gut. Nicht so wie bei seinem Lieblingsthema Hafen, über das er stundenlang frei sprechen könnte. Für das er sich begeistert. Einbringt, engagiert, kämpft. „Hafensenator“ wird er deshalb manchmal genannt. Als versteckte Kritik. Weil er sich zu viel um den Hafen kümmere – und zu wenig um andere Branchen, bemängeln seine Kritiker.
Frank Horch mag den Begriff „Hafensenator“. Weil er ausdrückt, wie verbunden er sich dem Hafen fühlt, dem Wasser, der Elbe. Auch wenn zu seinem Job natürlich viel mehr gehört. Aber das würden die Leute oft vergessen. Keine Lösungen sehen, sondern nur Probleme. Baustellen. Wie die Elbvertiefung, zum Beispiel. „So weit wie jetzt war vor uns noch kein Senat bei diesem Thema“, sagt er. Doch das Thema ist eben noch nicht durch. Nicht die Politik hält derzeit das Heft des Handelns in der Hand. Sondern Richter müssen darüber entscheiden, ob auch künftig die immer größer werdenden Containerriesen ihre Fracht nach Hamburg bringen können. Frank Horch gibt sich zuversichtlich. Aber was soll er auch anderes tun? „Wir haben nach wie vor großes Vertrauen in unsere gute Vorbereitung und hoffen, dass die Klage im Juli endgültig zu unseren Gunsten entschieden wird.“
Früher, in einer anderen Zeit, wollte Frank Horch Kapitän werden. Vielleicht, weil sein Opa Kapitän war. Oder weil er in Geversdorf an der Oste geboren ist und zwischen „Fischern und Kapitänen“ aufwuchs. Als kleiner Junge hat er sein erstes Boot bekommen, eine Jolle. Eine schöne Zeit. „Aber meine Eltern wollten, dass ich was „Ordentliches“ mache.“ Er studierte Schiffbau, wurde Konstrukteur auf der Mützelfeld-Werft Cuxhaven und HDW-Hamburg. Er war bei Phoenix, ThyssenKrupp Elastomertechnik, Blohm + Voss und er war auch Präses der Handelskammer Hamburg. Vieles davon ist bekannt, anderes nicht. Seine Kindheit in einfachen Verhältnissen, in der er „nur“ Fußball spielen konnte, weil für alles andere das Geld fehlte. Sport war lange Zeit sein Leben, Volleyball, Tennis. Doch irgendwann waren die Knie kaputt. Irgendwann fehlte die Zeit. Heute spielt er Tischfußball. Kicker.
Ankunft in Rellingen. Neuer Ort, neuer Termin, gleicher Ablauf. Händeschütteln, Kaffetrinken, Kekse, diesmal mit Schokolade. Vortrag über das Unternehmen. Gespräche über Probleme, Lösungen, Forderungen. Rundgang, Besichtigung der Produktion. Hier werden unter anderem Schleudersitze, Fallschirme und Fliegersonderausrüstungen für die Bundeswehr gefertigt. Die Näherinnen packen gerade zusammen. Sie haben Feierabend. Es ist 12 Uhr.
Weiter nach Itzehoe. „Jetzt wirds technisch“, sagt Horch. Das Fraunhofer-Institut für Siliziumtechnologie ISIT ist Spezialist für die Entwicklung, Fertigung und Integration mikromechanischer und mikroelektronischer Bauelemente. Horch guckt in seine Mappe. Dann aus dem Fenster. Horch kennt die Strecke, er nimmt den gleichen Weg, wenn er zu seinem Schiff nach Glücksstadt fährt. „Gleich kommen wir fast daran vorbei“, sagt er. Am liebsten würde er kurz abbiegen, einmal vorbeischauen. Bei „Horge“, wie sein Segelschiff heißt. „Beim Segeln erfährt man die Wahrheit des Lebens“, sagt er und probiert dieses unbeschreibliche Gefühl zu beschreiben. Dieses Gefühl, sobald man die Treppe zum Schiff heruntersteige. Wenn man alles vergisst. Raum und Zeit. Wenn man zeitlos ist.
Ankunft in Itzehoe. Händeschütteln, Begrüßung, gemeinsamer Imbiss. Suppe, Garnelen, Gespräche. Probleme. Kommt Zeit, kommt Rat. Rundgang. Pressekonferenz. Es geht um das Schaufensterprojekt Wind des Bundeswirtschaftsministeriums, für das sich Hamburg und Schleswig-Holstein gemeinsam bewerben wollen. Frank Horch beantwortet Fragen, gibt Statements. Hinten im Raum steht Jochen Möller und schaut auf die Uhr. Er ist Geschäftsführer von M.O.E., Moeller Operating Engineering, einer Zertifizierungs- und Inspektionsstelle im Bereich Erneuerbare Energien. Es ist das nächste Unternehmen, das Frank Horch heute besuchen soll, nur ein paar Meter vom Fraunhofer-Institut entfernt. 45 Minuten sind dafür eingeplant, doch der Senator hinkt dem Plan bereits hinterher, der Zeit. Er nimmt sie sich trotzdem. Hört zu, stellt Fragen. Schaut kein einziges mal auf die Uhr. Das macht Susanne Meinecke. Sie drängt zum Aufbruch. Um 16.30 Uhr muss der Senator in Hamburg sein. Es stehen wichtige Gespräche an. Zeit, zurückzufahren!
Es ist 15.42 Uhr, das Navigationsgerät meldet Stau auf der Heimstrecke. Ein Wettlauf mit der Zeit. Frank Horch telefoniert mit seiner Frau in Buxtehude. Der Stadt des Wettlaufs von Hase und Igel. Seine Frau ist dort tief verwurzelt und wollte nicht mit nach Hamburg ziehen, als Horch wegen des Jobs als Senator seinen Ersten Wohnsitz in die Hansestadt verlegen musste – an den Hafen. Er liebt das Leben dort. Und später einmal als Rentner? Dann wird es ihn ans Wasser ziehen! Wohin sonst. Schon lange sei es sein Wunsch mit seinem Schiff an den Küsten des Baltikums entlang zu segeln bis nach St. Petersburg – und dabei Zeit zu haben.
Susanne Meinecke telefoniert. Es geht um den nächsten Firmenbesuch. Frank Horch mag diese Termine. Direkt vor Ort, bei den Menschen, bei den Ideenträgern. Zeit dafür ist selten. Dafür gibt es zu viele Termine: Bürgerschaftssitzungen, den Wirtschaftsausschuss, den Verkehrsausschuss, den Ausschuss für öffentliche Unternehmen. Er muss teilnehmen an der Kreditkommission, der Kommission für Stadtentwicklung, je nach Thema am Haushaltsausschuss, der Deputationssitzung der Behörde, den Fachministerkonferenzen des Bundes, der Küstenwirtschafts- und Verkehrsministerkonferenz, Aufsichtsratssitzungen bei der Hafenbehörde HPA, der Hochbahn und mehrmals im Jahr an Bundesratssitzungen. Und natürlich jeden Dienstag an den Senatsbesprechungen. „Dabei bin ich ja noch nicht mal ,richtiger’ Politiker“, sagt er und meint: niemand, der da ‘reingewachsen ist. Der sich in der Politik engagiert und Wahlplakate geklebt hat. Niemand, der einer Partei angehört und politische Karriere machen wollte. Sondern jemand, an den das Amt herangetragen wurde. Der lange überlegen musste, bevor er „Ja“ sagte. „Ich mache das für Hamburgs Wirtschaft“, sagt er. Nicht in erster Linie für die Politik, sondern für die Wirtschaft. Der Unterschied ist ihm wichtig. Deswegen sei er auch keiner Partei beigetreten, bewahre sich seine politische Neutralität. „So bleibe ich glaubhaft“.
Das Navigationsgerät zeigt einen Stau auf der A7 an. Was für eine Schlagzeile wäre das: Verkehrssenator steckt im Stau. Denn schließlich ist Frank Horch auch für Straßen und Baustellen zuständig. Und gerade die Boulevardmedien arbeiten sich fast täglich an ihrem Stausenator ab, wie sie ihn getauft haben. „Für mich ist das eines der wichtigsten Themen in meiner täglichen Arbeit“, sagt er ohne Umschweife. Denn er weiß, den Wähler interessiert am Ende die überlange Anfahrt mit dem Auto zu Arbeit mehr als der Umschlag im Hafen.
Es ist kurz vor halb fünf, als der Wagen des Senators vor dem Rathaus hält. Zwei Gespräche mit Bürgermeister Olaf Scholz und Hochbahn-Chef Günter Elste sind angesetzt. 2,5 Stunden dafür eingeplant. Bis 19 Uhr. Länger geht es nicht. Denn zur gleichen Zeit beginnt eine Geburtstagsfeier im Cölln’s, zu der Frank Horch muss. Es ist seine eigene. Ein Geschenk hat er bereits bekommen. Von seinen Kindern. Es ist eine Vase. Seine Uhr läuft noch.