Hamburg hat in den vergangenen Jahren etliche wichtige Firmenzentralen verloren. Hamburg-Mannheimer, Volksfürsorge und Holsten sind nur einige Beispiele. Wirtschaft und Politik sind alarmiert.
Das waren noch Zeiten, als „Herr Kaiser“ aus Hamburg abends im Fernsehen zu Besuch in die Wohnzimmer der Nation kam. Ende 1995 zählte der Versicherungskonzern Hamburg-Mannheimer, der die Werbefigur erfunden hatte, in der Hansestadt rund 3900 Mitarbeiter. In den Jahren danach wurde die Zentrale des Unternehmens an den Sitz des Nachfolgekonzerns Ergo in Düsseldorf verlegt. Ergo hatte das Hamburger Unternehmen schrittweise übernommen, 2009 die Marke Hamburg-Mannheimer eingestellt und Herrn Kaiser nach 35 Dienstjahren in den Ruhestand geschickt. Heutzutage beschäftigt die Ergo-Versicherungsgruppe an der Elbe noch rund 2700 Menschen, mit nach eigener Aussage weiterhin sinkender Tendenz.
Hamburgs Finanz- und Versicherungswirtschaft wurde in jüngerer Zeit durch die Abwanderung von Firmenzentralen gravierend geschwächt, Tausende Arbeitsplätze gingen verloren. Die Branche musste einen Aderlass an renommierten Namen verkraften: Die Vereins- und Westbank ist heute eine Filiale der Hypovereinsbank und damit des italienischen Unicredit-Konzerns. Die Albingia-Versicherung ging in Axa Colonia auf. Verschwunden als eigenständige Unternehmen sind auch die Volksfürsorge oder der Deutsche Ring. Die Deutsche Schiffsbank wurde 2012 mit ihrer Muttergesellschaft Commerzbank verschmolzen. Die HSH Nordbank, die 2003 aus der Fusion der Hamburgischen Landesbank mit der Landesbank von Schleswig-Holstein hervorgegangenen war, kämpft seit der Finanzmarktkrise von 2008 ums Überleben.
„Als Börsenplatz im Finanzmarkt hat Hamburg seine Bedeutung weitgehend verloren“, sagt Andreas Pläsier, Finanzmarkt-Analyst bei Warburg Research, das zur Hamburger Privatbank M.M. Warburg gehört. Nicht nur für die Beschäftigten, deren Arbeitsplätze wegfallen, ist das schmerzlich. Für die gesamte Branche habe das obendrein den Nachteil, sagt Pläsier, „dass es schwieriger ist, vor Ort eine größere Auswahl an hoch qualifiziertem Personal zu finden“. Alle Wirtschaftszweige unterliegen einem stetigen technologischen und wirtschaftlichen Wandel. Der allerdings ist für einen Standort im Zweifel leichter zu verkraften, wenn die Zentrale eines Unternehmens vor Ort sitzt. Die Versicherung HanseMerkur oder die Berenberg Bank, die nach wie vor fest in Hamburg verwurzelt sind, bauten in den vergangenen Jahren in der Hansestadt deutlich Personal auf.
In Hamburgs maritimer Wirtschaft, die derzeit durch viele Einflüsse geschwächt wird, verfolgte man im vergangenen Jahr skeptisch die Fusion des Hamburger Traditionsunternehmens Germanischer Lloyd mit dem norwegischen Schiff-TÜV Det Norske Veritas (DNV). Der GL, gegründet 1867, ist nun Teil des weltweit größten Prüfkonzerns für die Schifffahrt – allerdings nur noch als Sparte eines norwegischen Konzerns. Die Entscheidungen trifft der Vorstand von DNV GL in Høvik bei Oslo. Der frühere GL-Chef Erik van der Noorda, der die neue Sparte DNV GL Maritime von Hamburg aus mit führen sollte, strich kurz nach der Fusion die Segel und verließ den Konzern. Alleiniger Statthalter von DNV GL Maritime in Hamburg ist nun der Norweger Tor Egil Svensen. Um die rund 1300 Arbeitsplätze am Standort, sagt er, müsse man sich aber keine Sorgen machen.
Doch kann die Stadt auf diese Zusage bauen? Droht der maritimen Branche in Hamburg langfristig eine ähnliche Entwicklung wie in den vergangenen Jahren der Finanzwirtschaft? Verliert die Hansestadt immer mehr renommierte Unternehmenszentralen? Im Schiffbau blieb als letzte Großwerft nur Blohm + Voss. Bei der Schiffsfinanzierung verschwand die Deutsche Schiffsbank mit der Auflösung des Instituts 2012 komplett. Nun existiert auch der Germanische Lloyd nicht mehr, der fast 150 Jahre lang ein Knotenpunkt im Hamburger maritimen Netzwerk war, vor allem bei der Verbindung von Forschung, Entwicklung und Fertigung in der heimischen Werftindustrie. „Das Netzwerk des Schiffbaus in Hamburg ist zwar nach wie vor intakt. Man denke nur an die Vielzahl erfolgreicher Schiffbau-Zulieferer in der Stadt“, sagt Blohm + Voss-Chef Herbert Aly. „Aber es macht schon einen großen Unterschied, ob ein Unternehmen wie der Germanische Lloyd hier mit seiner Firmenzentrale agiert, oder ob die Mitarbeiter nun zu einer Sparte eines größeren Konzerns mit der Zentrale in Norwegen gehören.“
Statistisch betrachtet hat Hamburg kein Problem mit Firmenzentralen. Die Zahl der Hauptniederlassungen von Unternehmen, die Mitglied der Handelskammer und die zugleich im Handelsregister eingetragen sind, steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich, auf 63.364 im Jahr 2013. Doch blickt man auf wirtschaftlich bedeutende und zugleich populäre Unternehmen, verlor Hamburg in den vergangenen Jahren quer durch fast alle Branchen massiv: vom Automobilzulieferer Phoenix in Harburg, heute Teil von Continental, bis zum Reiseveranstalter Öger Tours, der mittlerweile zu Thomas Cook gehört, von den Hamburgischen Electricitäts-Werken (HEW), heute Teil des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall, von Hein Gas, heute bei E.on, bis hin zu den Hamburger Stahlwerken, die längst ein Betrieb des indischen Konzerns ArcelorMittal sind. Der Bierbrauer Holsten ist inzwischen eine von etlichen Marken der dänischen Carlsberg-Gruppe, der Zigarettenhersteller Reemtsma gehört seit 2002 zur britischen Imperial Tobacco. Der Klebebandhersteller Tesa, ein rechtlich selbstständiges Tochterunternehmen des Kosmetikkonzerns Beiersdorf, zieht 2015 in eine neue Zentrale von Hamburg nach Norderstedt.
Die Politik ist alarmiert: „Es macht für Hamburg einen ganz wesentlichen Unterschied, ob ein Unternehmen nach einer Fusion oder nach einer Übernahme durch ein anderes Unternehmen den Sitz der Zentrale in der Stadt behält oder nicht“, findet Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos) deutliche Worte. „Unternehmenszentralen sind von entscheidender Bedeutung für das Unternehmen selbst, aber auch für die jeweiligen und damit verbundenen Branchen. In den Zentralen sitzen die Meinungsmacher, dort werden die Entscheidungen getroffen.“ Sorge bereitet Horch eine Wechselwirkung zwischen der Präsenz prominenter Firmenzentralen und der Entwicklung der städtischen Infrastruktur: „Metropolen wie Hamburg sind darauf angewiesen, dass hier die Zentralen von Unternehmen sitzen. Denn das hat auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Infrastruktur, die in großen Städten besonders komplex und kostspielig ist“, sagt er. „Wir haben in Hamburg einen Nachteil dadurch, dass unser Flughafen international längst nicht so intensiv vernetzt ist wie etwa das wichtigste deutsche Luftdrehkreuz Frankfurt. Wir brauchen aber mehr Interkontinentalverbindungen von Fuhlsbüttel aus, um die Attraktivität Hamburgs für Firmenzentralen weiter zu erhöhen. Ich spreche darüber oft mit Flughafenchef Michael Eggenschwiler und bin sicher, dass da noch Potenzial ist.“ Solche Sätze dürfte Eggenschwiler in ähnlicher Form schon öfter auch von Top-Managern aus der Stadt gehört haben.
Zuwachs verzeichnete die Hansestadt in den vergangenen Jahren bei den erneuerbaren Energien, speziell durch die Ansiedlungen aus der Windkraftbranche. Als einer der größten Erfolge der städtischen Wirtschaftsförderung gilt dabei, dass der Siemens-Konzern die Leitung seines stark wachsenden internationalen Windkraft-Geschäfts aus Dänemark nach Hamburg verlegte. Allerdings stößt Hamburg beim Aufbau einer neuen Energiewirtschaft auch an Grenzen: „Wir wollen in Hamburg Vorreiter bei der Elektromobilität in Deutschland werden“, sagt Wirtschaftssenator Horch. „Viele Voraussetzungen dafür sind ideal, zum Beispiel das wachsende Aufkommen von Strom aus Windparks. Aber die Unternehmenszentralen der deutschen Automobilindustrie sitzen nicht in der Stadt. Das macht uns Entscheidungen und Fortschritte zu diesem Thema natürlich schwerer.“ Und auch die Konzernzentrale von Siemens residiert nicht an der Elbe, sondern weit südlich am Wittelsbacherplatz in München.
Nicht nur Unternehmenszentralen verschwanden aus Hamburg. Auch mächtige Landesgesellschaften von Weltkonzernen haben in der Hansestadt an Bedeutung und Macht verloren: sei es die deutsche Niederlassung des Konsumgüterherstellers Unilever oder des Elektronikherstellers Philips, beides niederländische Unternehmen. Vor allem die Mineralölwirtschaft erlebte am Standort einen steilen Niedergang. Die eindrucksvollen Firmensitze multinationaler Ölkonzerne in der City Nord wurden in den vergangenen Jahren allesamt geschleift. Die Zentrale der Deutschen BP zog nach der Fusion mit Aral zu Beginn der 2000er Jahre nach Bochum. Die frühere BP-Hauptverwaltung am Überseering steht seit Jahren leer. Auch Weltkonzerne wie Shell, Exxon oder Conoco mit der Tankstellenmarke Jet begnügen sich in Hamburg nun mit weit bescheideneren Domizilen. Der Mineralölwirtschaftsverband (MWV) und der Außenhandelsverband für Mineralöl und Energie (AFM + E) zogen nach Berlin. Als Standort der Erdöl- und Benzinbranche wird Hamburg kaum noch wahrgenommen.
In der Schifffahrt, einem Kerngeschäft der städtischen Wirtschaft, versucht die Politik eine solche Entwicklung zu verhindern. „Bei der maritimen Wirtschaft arbeiten wir intensiv daran, dass Hamburg im Zuge etwa der Schifffahrtskrise nicht an Bedeutung verliert“, sagt Wirtschaftssenator Horch. Quer durch alle Parteien in der Bürgerschaft herrschte 2008 Einvernehmen darüber, dass Hapag-Lloyd mit einer konzertierten Aktion der Stadt und privater Investoren vor einer möglichen feindlichen Übernahme durch die Reederei NOL aus Singapur bewahrt werden müsse. Die Konsequenz ist eine bis heute hoch komplizierte Eignerstruktur bei der Reederei, zu der neben der Stadt Hamburg als derzeit größter Investor vor allem der Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne und der Touristikkonzern TUI in Hannover zählen.
Eine Fusion von Hapag-Lloyd mit der zweiten wichtigen Hamburger Linienreederei Hamburg Süd – sie gehört der Bielefelder Industriellenfamilie Oetker – scheiterte 2013 erneut, diesmal vor allem an Unstimmigkeiten innerhalb der Familie Oetker. Hamburg hätte eine Fusion, die von breiter Unterstützung in der Stadt getragen wäre, eine der wohl besten und stärksten Reedereien der Welt beschert. Sie wäre in allen wichtigen Fahrtgebieten vertreten und würde von der Hansestadt aus geführt. So beobachtet die städtische Politik nun, wie Hapag-Lloyd eine Teilfusion mit der chilenischen Reederei CSAV vorbereitet. Wird sie realisiert, steigt die chilenische Industriellenfamilie Luksic wohl zum wichtigsten Anteilseigner bei Hapag-Lloyd auf. Machtverlust an der Elbe wäre programmiert.
Eine Abwanderung der Hapag-Lloyd-Firmenzentrale kann sich die Hansestadt unter keinen Umständen erlauben. Deshalb geht der scheidende Hapag-Lloyd-Chef Michael Behrendt davon aus, dass sowohl die Stadt wie auch der gebürtige Hamburger Kühne als Großaktionäre den Bestand der Konzernzentrale am Ballindamm langfristig sichern werden. Behrendt selbst hatte 2008 die „Hamburger Lösung“, die Bildung eines neuen Eignerkonsortiums, mit eingefädelt: „Hapag-Lloyd und die Schifffahrts-Allianz G6 stehen für 50 Prozent des Hamburger Hafenumschlags, sie sichern gut 20.000 Arbeitsplätze in der Stadt“, sagte er kürzlich dem Abendblatt. „Das übrigens war auch der Hauptgrund, warum sich die Stadt und Hamburger Investoren so vehement für die Sicherung unserer Reederei in Hamburg eingesetzt haben.“