Das erste kommerzielle Offshore-Kraftwerk in der deutschen Nordsee ist fertig. Es soll Strom für 120.000 Haushalte liefern. Doch erst Anfang 2014 dürfte es so weit sein.
Borkum Riffgat. Stefan Meyer federt in seinem Sessel den Rhythmus des Meeres ab. Die Hydraulik muss sein, denn sein täglicher Arbeitsweg ist beschwerlich. Meyer, Kapitän des Katamarans „Windforce 2“, findet den Seegang auf der Nordsee vor Borkum mit gut eineinhalb Metern Wellenhöhe an diesem Tag eher harmlos. Fröhlich sitzt er auf der Brücke, während sein Schiff mit 20 Knoten – 37 Kilometern in der Stunde – hart durch die Wellen fährt. „Wie im Raumschiff Enterprise“, lobt er sein ergonomisch ausgefeiltes Sitzmöbel. Bei weniger Geübten schürt das monotone Auf und Ab schon bald nach dem Auslaufen Unbehagen im Bauch und die Frage im Kopf, was Menschen hier draußen bloß zu suchen haben.
Meyer, 43, weiß genau, was er da tut. Mit dem Fernglas späht er zum Horizont, während die Scheibenwischer vor ihm die Gischt von den Fenstern putzen. Seit seinem 16. Lebensjahr fährt er zur See, von seiner Heimat in Steinberghaff in Schleswig-Holstein zog es ihn nach Nordwestdeutschland. Schnellfähren steuerte er hier, Tonnenlegerschiffe, und seit einigen Wochen die nagelneue „Windforce 2“, die von Borkum aus den Pendelverkehr zu den Windturbinen und der Sammelstation des Offshore-Parks Borkum Riffgat bedient. Manchmal fährt er mehrmals täglich Mitarbeiter des Windturbinenherstellers Siemens und Techniker von Servicefirmen hinaus und wieder zurück auf die Insel. Gut 40 Minuten benötigt die „Windforce 2“ für die gut 15 Kilometer lange Strecke vom Borkumer Hafen zum Windpark. 35 Seeleute auf mehreren Schiffen der Reederei Frisia Offshore sind mit den Windparks in der Region beschäftigt. „Hier entsteht ein völlig neuer Wirtschaftszweig“, sagt Meyer und dreht die „Windforce 2“ aus einer Welle heraus, damit sie an ihrer Halteposition ein wenig ruhiger steht.
Mitte Juli setzte das Errichterschiff „Bold Tern“ der skandinavischen Reederei Fred Olsen Windcarrier die letzte Windturbine auf ihr Fundament. An diesem Sonnabend wollen die Unternehmen, die den Windpark Borkum Riffgat gebaut haben, in Norddeich mit Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil und Wirtschaftsminister Olaf Lies (beide SPD) den Abschluss der Bauarbeiten feiern. Ursprünglich sollte es eine Eröffnungszeremonie werden, aber zu eröffnen gibt es dieser Tage vor Borkum noch nichts. Der Netzbetreiber Tennet hat das 50 Kilometer lange Seekabel des Windparks nicht rechtzeitig fertiggestellt. Anstelle des Februar 2013 ist nun der Februar 2014 terminiert. Gut 13 Kilometer Kabel draußen auf dem Meer fehlen noch für den Landanschluss, weil auf der Wegstrecke mehr Bomben und Munition aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden als erwartet worden war. So muss sich das Betreiberunternehmen EWE aus Oldenburg zunächst mit Symbolik begnügen.
Borkum Riffgat hätte ein voller Erfolg werden können, kurz vor der Bundestagswahl im September, bei der sich auch die weitere Förderung der erneuerbaren Energien in Deutschland entscheidet. Die 30 Windturbinen mit je 3,6 Megawatt Leistung in Sichtweite von Borkum sollen künftig den Strombedarf von 120.000 Haushalten decken. Der Offshore-Park ist das erste rein kommerzielle Windkraft-Projekt in der deutschen Nordsee, das fertiggestellt wird. „Borkum Riffgat liegt mit 14 Monaten Bauzeit exakt im Zeitplan“, sagt Irina Lucke, die als Projektleiterin bei EWE den Aufbau des Windparks koordiniert hat. „Dass wir jetzt keinen Strom liefern können, ist frustrierend. Unsere Mannschaft und auch die der anderen am Bau beteiligten Unternehmen haben einen Topjob gemacht. Man hätte sich früher um die Räumung der Munition kümmern müssen.“
Borkum Riffgat steht stellvertretend für die gesamte Offshore-Branche in Deutschland, vor allem für die Windparks in der Nordsee. Entwickler, Ingenieure, Logistiker und Mechaniker arbeiten sich an den deutschen Küsten an hoch ambitionierten Projekten ab. Sie erzielen beachtliche technologische Fortschritte, werden aber meist nur wahrgenommen, wenn Rückschläge zu vermelden sind. Nicht nur Tennet, das für die Netzanbindung der deutschen Nordsee-Windparks zuständig ist, steht dabei unter Druck. Auch Siemens trägt zu Verzögerungen bei. Drei von vier großen Umspannstationen, die der Elektronikkonzern für Tennet baut, kommen jeweils mindestens ein Jahr später als geplant hinaus aufs Meer. Vor allem die Komplexität bei der Netzanbindung der Offshore-Parks hatten die beteiligten Unternehmen unterschätzt. Anstatt ihre Kooperation mit voller Kraft zu optimieren, schieben sich die Akteure gegenseitig die Verantwortung zu, meist hinter vorgehaltener Hand.
Den Gegnern der Offshore-Windkraft liefert das willkommenen Auftrieb. Politiker und Verbraucherschützer versuchen sich mit Kritik an den vermeintlichen Kostentreibern auf dem Meer zu profilieren. Auch die Windkraft-Branche zieht längst nicht mehr an einem Strang. Die wirtschaftlichen Interessen der landseitig orientierten Windkraft-Unternehmen und denen der Offshore-Szene driften auseinander. An sieben Windpark-Projekten auf der deutschen Nordsee wird derzeit gebaut, zudem am Offshore-Windpark Baltic 2 auf der Ostsee. Mehr als zwei Dutzend Nordsee-Windparks aber sind vom zuständigen Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) bereits genehmigt. Die Unternehmen warten das Ergebnis der Bundestagswahl ab, weil sie nicht wissen, wie Offshore-Windparks in Deutschland künftig gefördert werden. Derzeit erhalten Betreiber deutscher Meereswindparks für zwölf Jahre je 15 Cent je Kilowattstunde Einspeisung, für weitere acht Jahre je 3,5 Cent je Kilowattstunde.
In Deutschland entstand die Offshore-Windkraft fast aus dem Nichts. Anders als etwa in Großbritannien oder in Dänemark gibt es hierzulande keine Öl- und Gasindustrie auf dem Meer, deren Erfahrungen die heimischen Unternehmen hätten nutzen können. So schufen sie gänzlich neue Lösungen für Gründungsfundamente und Sammelstationen auf dem Meer, für die Logistikketten bei der Errichtung der Windturbinen und für den Umweltschutz auf den Baustellen. „Wir haben auf Borkum Riffgat mit Installationszeiten von 35 Stunden je Windturbine begonnen. Die letzten Anlagen wurden innerhalb von je 14 Stunden errichtet“, sagt Irina Lucke auf der „Windforce 2“ mit Blick auf die Anlagen, deren Rotoren einstweilen noch still stehen. Schon 2009, beim Aufbau des ersten deutschen Offshore-Parks, des Testfeldes Alpha Ventus 45 Kilometer vor Borkum, war sie für EWE dabei. Nun vermarktet sie das Wissen des regionalen Stromversorgers an andere Unternehmen, die Windparks errichten wollen. „Die Diskussion um die Offshore-Windkraft in Deutschland ist gut, auch die Kritik“, sagt sie. „Wir müssen immer besser und effizienter werden. Man sollte allerdings auch sehen, was bisher schon erreicht wurde.“
Auch Michael Hannibal, Europachef der Offshore-Windsparte bei Siemens, sieht die Rationalisierung als Schlüssel zum Erfolg der Branche. „Wir werden immer leichtere und wesentlich effizientere Offshore-Windturbinen in immer größeren Serien bauen und auf See errichten“, sagt er auf der Rückfahrt nach Borkum. „Die Potenziale zur Senkung der Kosten sind enorm. Schon im kommenden Jahrzehnt werden Offshore-Windparks zu den heute gängigen Großkraftwerken konkurrenzfähig sein. Und das dann gerade einmal 30 Jahre, nachdem man mit dem Aufbau dieser Technologie begonnen hat.“